Das Verwandeln von Begriffen und Ideen in sinnliche Darstellungen ist allen Künsten eigen. Auch die Dichter und Musiker sind eigentlich „bildende Künstler". „Bilde Künstler, rede nicht !" ruft Goethe gerade den Dichtern zu. Er zeigte Eckermann einmal einen Stich nach Ostade. Da sah man eine Bauernwohnung vorgestellt, wo Küche, Wohn- und Schlaf- zimmer alles in einem und nur ein Raum war. Mann und Frau safsen sich nahe gegenüber, die Frau spinnend, der Mann Garn windend, ein Bube zu ihren Füfsen. Im Hintergrunde sah man ein Bett sowie überall nur das roheste, allernotwendigste Hausgerät, die Thür ging unmittelbar ins Freie. Den Begriff beschränkten ehelichen Glücks gab dieses Blatt vollkommen; Zufriedenheit, Behagen und ein gewisses Schwelgen in liebenden ehelichen Empfindungen lag auf den Gesichtern vom Manne und der Frau, wie sie sich einander anblickten. ,,Es wird einem wohler zu Mute," sagte der Beschauer ,,je länger man dieses Blatt ansieht; es hat einen Reiz ganz eigener Art." — ,,Es ist der Reiz der Sinnlichkeit," sagte Goethe, ,,den keine Kunst entbehren kann, und der in Gegenständen solcher Art in seiner ganzen Fülle herrscht. Bei Darstellungen höherer Richtung dagegen, wo der Künstler ins Ideelle geht, ist es schwer, dafs die gehörige Sinnlichkeit mitgehe, und dafs er nicht trocken und kalt werde." Goethe meinte die Dichtkunst mit, als er sagte, dafs keine Kunst den Reiz der Sinnlichkeit entbehren kann. Er sprach auch gleich weiter von seiner ,Iphigenie' und seinem ,Tasso', die ihm gelungen seien, weil er jung genug war, als er sie schrieb; seine Sinnlichkeit habe das Ideelle des Stoffes durchdrungen und belebt. Jetzt im Alter thue er vielleicht wohl, solche Gegenstände zu wählen, wo eine gewisse Sinnlichkeit bereits im Stoffe liegt. Ähnlich urteilt er in den ,Maximen und Reflexionen':
„Der Dichter ist angewiesen auf Darstellung. Das Höchste derselben ist, wenn sie mit der Wirklichkeit wetteifert, d. h. wenn ihre Schilderungen durch den Geist dergestalt lebendig sind, dafs sie als gegenwärtig für jedermann gelten können. Auf ihrem höchsten Gipfel scheint die Poesie ganz äufserlich; je mehr sie sich ins Innere zurückzieht, ist sie auf dem Wege, zu sinken. — Diejenige, die nur das Innere darstellt, ohne es durch ein Äufseres zu verkörpern oder ohne das Äufsere durch das Innere durchfühlen zu lassen, sind beides die letzten Stufen, von welchen aus sie ins gemeine Leben hineintritt." ,, Zweierlei gehört zum Poeten und Künstler: dafs er sich über das Wirkliche erhebt und dafs er innerhalb des Sinnlichen stehen bleibt." So heifst es in einem Briefe Schillers ganz in Sinne Goethes, des Empfängers. Wir werden später noch erfahren, welchen Wert der letztere auf das symbolische legte. Die Kunst mufs dem Körperlichen die Weihe der hohen Idee geben oder sie mufs eine Idee sinnlich-wirksam verkörpern. Der Künstler kann keinen Leib ohne Seele brauchen und keine Seele ohne Leib.
Der Gedanke liegt nahe, dafs es auf eins hinauskomme, ob eine Idee sinnlich dargestellt ist, oder ob eine sinnliche Darstellung symbolisch aufgefafst wird. Aber das eben gebrauchte Gleichnis erinnert daran, dafs die Seele eine Funktion des Körpers sein kann oder aber auch der Leib ein blofses Kleid der Seele. Nach einer zarten Differenz mit Schiller schrieb Goethe folgende Betrachtung nieder ,,Es ist ein grofser Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Be- sondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie ; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig auffafst, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät."
Bei dieser Betrachtung bemerken wir übrigens, weshalb in alten Zeiten die Kunst besser gedieh als gegenwärtig, ,,Die früheren Jahrhunderte hatten ihre Ideen in Anschauungen der Phantasie; unseres bringt sie in Begriffe. Die grofsen Ansichten des Lebens waren damals in Gestalten, in Götter gebracht; heutzutage bringt man sie im Begriffe. Dort war die Produktionskraft gröfser, heute die Zerstörungskraft oder die Scheidekunst."
Das Bedürfnis der Alten nach Sinnlichkeit ging sogar so weit, dafs sie in einem Bude neben der Gegenwart auch die Vergangenheit zeigten, die zur Erklärung der Gegenwart dient. „Man sollte sich nicht etwas bei dem Bilde denken, sondern man sollte das Bild denken und in demselben alles sehen." Auch einer der Carracci hat in einer Darstellung der Kirke dieselbe Methode kühn gewählt. Hermes legt eine Pflanze in den Becher, während er beim Homer dem Odysseus die antimagische Pflanze lange vorher giebt, u.s.w. ,,Wie erbärmlich quälen sich nicht die neueren Künstler um die kleinsten historischen Umstände!"
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Das Charakterisieren und die Übertreibung des Charakteristischen sind weitere Eigentümlichkeiten des künstlerischen Schaffens. Die Riesen werden vergröfsert, die Zwerge verkleinert. Die Phantasie ändert beständig an den Mafsen der Dinge. Als Goethe auf seiner Fahrt von Palermo nach Neapel die berühmten Felsen Scylla und Charybdis sah, fiel ihm zweierlei auf: der Dichter hat erstens die beiden Felsen näher zusammengerückt und zweitens hat er sie höher dargestellt, als sie in Wirklichkeit sind. Da solle man sich nun nicht über die Fabelei der Poeten beklagen, meint unser Reisender, sondern die Thatsache hinnehmen, dafs die Einbildungskraft aller Menschen durchaus Gegenstände, wenn sie solche bedeutend vorstellen will, höher als breit imaginiert und dadurch dem Bude mehr Charakter, Ernst und Würde verschafft. ,, Tausendmal habe ich klagen hören, dafs ein durch Erzählung gekannter Gegenstand in der Gegenwart nicht mehr befriedige; die Ursache hiervon ist immer dieselbe: Einbildung und Gegenwart verhalten sich wie Poesie und Prosa; jene wird die Gegenstände mächtig und steil denken, diese sich immer in die Fläche verbreiten."
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Goethe verlangte für die Kunst noch viel gröfsere Rechte gegen die Natur. Sie darf auch dasjenige dichterisch bilden, was der Natur zu schaffen unmöglich war. Die Kunst weifs von fliegenden Menschen und redenden Tieren, sie läfst Götter auf Erden wandeln. Die jungfräuliche Mutter ist für den nüchternen Realisten ein Widerspruch in sich selbst, aber der Liebhaber des Schönen verlangt sie. ,,So wie die Kunst Centauren erschafft, so kann sie uns auch jungfräuliche Mütter vorlügen; ja es ist ihre Pflicht. Die Matrone Niobe, Mutter von vielen erwachsenen Kindern, ist mit dem ersten Reiz jungfräulicher Brüste gebildet. Ja, in der weisen Vereinigung dieser Widersprüche ruht die ewige Jugend, welche die Alten ihren Gottheiten zu geben wufsten."
„Alle Blüten müssen vergehen, dafs Früchte beglücken; Blüten und Frucht zugleich gebet ihr Musen allein."
Die Landschaft von Rubens, von der vorhin die Rede war, legte Goethe seinem Schüler ein zweites Mal vor und hiefs ihn besonders auf die Beleuchtung achten.
,,Alle diese Dinge, die wir dargestellt sehen, die Herde Schafe, der Wagen mit Heu, die Pferde, die nach Hause gehenden Feldarbeiter, von welcher Seite sind sie beleuchtet?"
„Sie haben das Licht," sagte Eckermann, „auf der uns zugekehrten Seite und werfen die Schatten in das Bild hinein. Besonders die nach Hause gehenden Feldarbeiter im Vordergrunde sind sehr im Hellen, welches einen trefflichen Effekt thut."
„Wodurch hat aber Rubens diese schöne Wirkung hervorgebracht?"
„Dadurch, dafs er diese hellen Figuren auf einem dunkeln Grunde erscheinen läfst."
,,Aber dieser dunkle Grund," fragte Goethe weiter, „wodurch entsteht er?"
„Es ist der mächtige Schatten," sagte Eckermann, ,,den die Baumgruppe den Figuren entgegenwirft. — Aber wie," fuhr er mit Überraschung fort, „die Figuren werfen den Schatten in das Bild hinein, die Baumgruppe dagegen wirft den Schatten dem Beschauer entgegen! Da haben wir ja das Licht von zwei entgegengesetzten Seiten, welches aber ja gegen alle Natur ist!"
„Das ist eben der Punkt," erwiderte Goethe mit einigem Lächeln. ,,Das ist es, wodurch Rubens sich grofs erweist und an den Tag legt, dafs er mit freiem Geiste über der Natur steht und sie seinen höhern Zwecken gemäfs traktiert. Das doppelte Licht ist allerdings gewaltsam, und Sie können immerhin sagen, es sei gegen die Natur. Allein wenn es gegen die Natur ist, so sage ich zugleich, es sei höher als die Natur, so sage ich, es sei der kühne Griff des Meisters, wodurch er auf geniale Weise an den Tag legt, dafs die Kunst der natürlichen Notwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat.
„Der Künstler," fuhr Goethe fort, ,,mufs freilich die Natur im einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Tieres nicht willkürlich ändern, so dafs dadurch der eigentümliche Charakter verletzt würde. Denn das hiefse die Natur vernichten. Allein in den höhern Regionen des künstlerischen Verfahrens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bude wird, hat er ein freieres, Siegel, und er darf hier sogar zu Fiktionen schreiten, Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte gethan.
,,Der Künstler hat zur Natur ein zwiefaches Verhältnis: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken mufs, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höhern Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht.
,,Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Natur sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchtenden göttlichen Odems.
,,Betrachten wir diese Landschaft von Rubens nur so obenhin, so kommt uns alles so natürlich vor, als sei es nur geradezu von der Natur abgeschrieben. Es ist aber nicht so. Ein so schönes Bild ist nie in der Natur gesehen worden, ebensowenig als eine Landschaft von Poussin oder Claude Lorrain, die uns auch sehr natürlich erscheint, die wir aber gleichfalls in der Wirklichkeit vergebens suchen."
Ob nicht in der Literatur die gleichen Verstöfse wider die Naturwahrheit vorkommen, fragte Eckermann, und leicht besann man sich auf solche. Einige Monate später wies Goethe selber darauf hin, wie im zweiten Teile des ,Faust', an dem er damals arbeitete ein Mädchenchor, der Helena begleitet, mit einem male die Mädchenart verleugnet und ernst reflektierend Dinge ausspricht, an die diese Mädchen doch nie denken konnten. Eckermann dachte sogleich wieder an die Landschaft mit dem doppelten Schatten und meinte: ,, Solche kleinen Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mufste nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mufsten es die Mädchen singen."
„Mich soll nur wundern," sagte Goethe lachend, „was die deutschen Kritiker dazu sagen werden; ob sie werden Freiheit und Kühnheit genug haben, darüber hinwegzukommen. Den Franzosen wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, dafs die Phantasie ihre eigenen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll. Wenn durch die Phantasie nicht Dinge entständen, die für den Verstand ewig problematisch bleiben, so wäre überhaupt zu der Phantasie nicht viel. Dies ist es, wodurch sich die Poesie von der Prosa unterscheidet, bei welcher der Verstand immer zu Hause ist und sein mag und soll."
Ebenso urteilte Goethe, als ein ihm von Ernst Förster vorgelegtes Gemälde in seiner Komposition das Naturmögliche überschritt. Es stellte die Theologie dar und war für die Universität Bonn bestimmt. Da sah man Rom, das Siebengebirge und Wittenberg friedlich neben einander, und Apostel, Kirchenväter und Reformatoren standen zusammen.
Goethe scherzte : „Die Herren in Düsseldorf scheinen sich an den Ausspruch Schillers zu halten: „Die Kunst ist eine Fabel!" Und sie haben nicht ganz Unrecht; es würde nur wenig von der Kunst übrig bleiben, wenn wir ausschliefsen wollten, was sich nicht fassen und begreifen läfst, wie das tägliche Leben."
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