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2019-11-16

Wilhelm Büchner -Fauststudien: Am Hofe des Kaisers- Die Geisterszene (6)

Fauststudien


IV. Die Geisterszene. 

Nachdem Fausts Wunsch, in das Staatsleben persönlich einzugreifen, so kläglich gescheitert ist, macht er noch einmal auf idealem Gebiet den Versuch, auf andere einzuwirken: er zeigt dem Kaiser und der Hofgesellschaft das Schöne in der Hoffnung, ihre Begeisterung dafür zu erwecken.

Bei der Ausführung dieses Motivs hat sich Goethe an die überlieferte Sage angelehnt, die ja überhaupt auf die Formgebung einen mächtigen Einfluß ausgeübt hat. Der Gehalt freilich stammt überall aus Goethes Welt- und Lebensanschauung und kann nur aus ihr begriffen werden. Auf einem gewissen Mißverhältnis zwischen dem überlieferten Stoff und dem von dem Dichter hineingelegten Gehalt beruht hier wie anderwärts die eigentliche Schwierigkeit der Dichtung.

Im Volksbuch, bei Marlowe und im Puppenspiel zitiert Faust bei verschiedenen Gelegenheiten die Geister von berühmten Personen vor seinem staunenden Publikum. Auch Helena weiß er herbeizuzaubern. So ruft Goethes Faust vor dem Kaiser die Gestalten von Paris und Helena hervor, des schönsten Mannes und der schönsten Frau.

Das magische Kunststück gelingt ihm aber nicht so leicht, wie dem Faust der Volkssage die seinigen. In einer der Beschwörung vorausgehenden Szene erklärt ihm Mephisto, er selbst könne ihm dabei nicht helfen, da er im klassischen Hades nichts zu sagen habe. Doch gebe es ein Mittel, der Gang zu den Müttern.

Die Mütter sind als Göttinnen gedacht, die allem organischen Leben auf der Erde seine Gestalt geben. In einem bekannten Gedicht sagt Goethe, er fühle sich ,,an jenes Meer entrückt, das flutend strömt gesteigerte Gestalten". An Stelle der Vorstellung von einem Meere tritt in der Faustdichtung die von dem Reich der Mütter. Diesen Göttinnen soll Faust nach Mephistos Rat ihren Dreifuß rauben, dann werde sich bei magischer Behandlung der Weihrauchsdampf in die verlangten Gestalten verwandeln.

,,Und hast du ihn einmal hierhergebracht, 
So rufst du Held und Heldin aus der Nacht, 
Der erste der sich jener Tat erdreistet; 
Sie ist getan und du hast es geleistet. 
Dann muß fortan, nach magischem Behandlen, 
Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandlen." 

In dieser Anweisung Mejjhistos können die Worte ,,jener Tat" und ,,dann" nur auf den Raub des Dreifußes bezogen werden. ,, Göttin" nennt Mephisto die Helena auch sonst (V. 9949). Wenn der Weihrauchsdampf sich in die gewünschten Gestalten verwandelt , so werden diese von Faust nicht irgendwoher beschworen oder gar aus dem Mütterreich mitgebracht. Es ist vielmehr angenommen, daß der Magier durch den Raub des Dreifußes Macht erhält ' über die Mütter, sodaß er ,,in ihrem Namen", gewissermaßen als ihr Stellvertreter wirken kann (V. 6427). Wie die Mütter einst Paris und Helena geschaffen haben, so kann der mit den Müttern verbündete Magier getreue Nachbilder jener Personen im Weihrauchsdunst hervorrufen. Einmal hervorgerufen, haben diese Schemen eigenen Willen und werden deshalb als Gespenster oder Geister bezeichnet. Daß sie aber erst bei der Aufführung geschaffen werden, bemerkt Mephisto ja noch einmal ausdrücklich, indem er dem von der Helena begeisterten Faust zuruft: ,, Machst Du's doch selbst das Fratzengeisterspiel!"

Man darf bei dieser seltsamen Begebenheit nicht vergessen, daß der Dichter ein Wunder schildern will. Gleich zu Beginn der Geisterszene wird darauf hingewiesen :

„Durch magisch Wort sei die Vernunft gebunden; 
Dagegen weit heran bewege frei 
Sich herrliche verwegne Phantasei. 
Mit Augen schaut nun was ihr kühn begehrt, 
Unmöglich ist's, drum eben glaubenswert." 

Daß der Dichter seinen Faust mit dem Hokuspokus solcher Zauberkünste belastet hat, kann bei der Natur des überlieferten Stoffes nicht getadelt werden. Faust hat ja auch einen Drudenfuß an der Schwelle seines Studierzimmers. Wohl aber muß die Frage aufgeworfen werden, weshalb Goethe das Müttermotiv überhaupt eingeführt hat. Nach dem früheren Plan des Dichters, sollten Faust und Mephisto die Gestalten von Paris und Helena ohne weitere Umstände hervorzaubern (Paralip. 63 und 123). Niemand würde sich wundern, wenn er das in der phantastischen Dichtung ausgeführt sähe, wie sich ja auch niemand darüber wundert, daß Faust den Erdgeist beschwört. Wenn also Goethe bei der Vollendung der Faustdichtung den Mythus von den Müttern einschob, so tat er es sicherlich nicht , um die Hexerei der Geisterszene zu komplizieren, sondern er verfolgte mit der Eindichtung einen besonderen Zweck.

Der Gang zu den Müttern bot eine gute Gelegenheit, Faust einen Einblick gewinnen zu lassen in Gesetze, welche nach Goethes Anschauung die Natur bei der Bildung organischer Wesen befolgt, und deren Kenntnis seiner Meinung nach auch für die ästhetische Betrachtung notwendig ist. Was für Goethe die beglückende Frucht langjähriger Studien war, erwirbt sich der Held der Dichtung durch den Gang zu den Müttern. Diese Erweiterung von Fausts geistigem Horizont ist in der Dichtung für denjenigen, der mit Goethes Theorien bekannt ist , deutlich genug bezeichnet. Sie führt aber auf ein ganz anderes Thema als das hier behandelte und mag deshalb zunächst unerörtert bleiben. Die tiefere Bedeutung des Ganges zu den Müttern haben alle diejenigen richtig empfunden, die gesagt haben , es werde hier ein inneres Erlebnis Fausts geschildert. Nur vermißt man bei dieser Auffassung die Einsicht, daß in der Dichtung Fausts Gang zu den Müttern ebenso naiv hingenommen werden muß, wie etwa sein Besuch auf dem Blocksberg. Nach der Rückkehr aus dem Reich der Mütter bekennt Faust eine hohe Begeisterung für die übernommene Aufgabe. Hatte er vorher die bittere Bemerkung nicht unterdrücken können, der Kaiser wolle durch die Erscheinungen nur „amüsiert" werden, so hegt er jetzt die feste Überzeugung, sein Gefühl für das Schöne auf andere übertragen zu können.

,,In reicher Spende läßt er, voll Vertrauen, 
Was jeder wünscht, das Wunderwürd'ge schauen." 

Die gehoffte Wirkung bleibt aber auch diesmal aus. Faust selbst gerät bei der Erscheinung der höchsten sinnlichen Schönheit in Ekstase, er redet von ihr wie Winckelmann von den griechischen Statuen :

,,Hab' ich noch Augen? zeigt sich tief im Sinn 
Der Schönheit Quelle reichlichstens ergossen? 
Mein Schreckensgang bringt seligsten Gewinn, 
Wie war die Welt mir nichtig, unerschlossen! 
Was ist sie nun seit meiner Priesterschaft .
Erst wünschenswert, gegründet, dauerhaft! 
Verschwinde mir des Lebens Atemkraft, 
Wenn ich mich je von dir zurückgewöhne! — 
Du bist's, der ich die Regung aller Kraft, 
Den Inbegriff der Leidenschaft, 
Dir Neigung, Lieb', Anbetung, Wahnsinn zolle." 

Zu Fausts Verzückung stehen die Bemerkungen der Zuschauer in einem tragikomischen Gegensatz. Unfähig zu einem ästhetischen Genuß, beurteilen sie auch das Schöne nach ihren Neigungen und Grillen. Es sind Menschen, wie sie Jarno im ,, Wilhelm Meister" schildert, ,,die sich bei den größten Werken der Kunst und der Natur sogleich ihres armseligsten Bedürfnisses erinnern, ihr Gewissen und ihre Moral mit in die Oper nehmen, ihre Liebe und Haß vor einem Säulengange nicht ablegen und das Beste und Größte, was ihnen von außen gebracht werden kann, in ihrer Vorstellungsart erst möglichst verkleinern müssen, um es mit ihrem kümmerlichen Wesen nur einigermaßen verbinden zu können". Auch dieser Versuch Fausts, andere zu seinen Anschauungen emporzuziehen, mißlingt. Würde er ihnen, wie Mephisto in der vorausgehenden Szene , Mittel gegen Sommersprossen, Rat in Liebesnöten u. dgl. spenden, so dürfte er eher auf Beifall und Ansehen rechnen. Seine Enttäuschung über den Mißerfolg tritt in der Dichtung nicht in die Erscheinung, sie wird verdeckt durch seine Begeisterung für ein neues Ziel, die Verbindung mit Helena. Man sieht hier wieder, welch hohe Anforderungen der greise Dichter an die Selbsttätigkeit des Lesers stellte. Denn die Geisterszene verlangt, daß man auf Grund von Fausts Charakter und der ganzen Situation ihm die Empfindungen nachfühlt, welche die Stumpfheit seines Publikums in ihm erweckt. An diesen eigentümlichen Lakonismus der Dichtung dachte Goethe , als er nach Vollendung des Werks an einen Freund schrieb, ,,es werde gewiß denjenigen erfreuen, der sich auf Miene, Wink und leise Hindeutung verstehe".

8. An Heinrich Meyer 20. Juli 1831.



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