Zu der Lehre, die am Schluß der klassischen Walpurgisnacht der mechanischen Weltanschauung gegenüber gestellt wird , bekennt sich auch Faust am Anfang des vierten Aktes in dem geologischen Gespräch
mit Mephistopheles:
Gebirgesmasse bleibt mir edel-stumm,
Ich frage nicht woher? und nicht warum?
Als die Natur sich in sich selbst gegründet,
Da hat sie rein den Erdball abgeründet.
Der Gipfel sich, der Schluchten sich erfreut
Und Fels an Fels und Berg an Berg gereiht,
Die Hügel dann bequem hinabgebildet.
Mit sanftem Zug sie in das Tal gemildet.
Da grünt's und wächst's, und um sich zu erfreuen,
Bedarf sie nicht der tollen Strudeleien.
Diese Worte sind gegen den von Mephisto vorgetragenen Vulkanismus gerichtet, sie sind aber auch mit dem Neptunismus unverträglich. Denn die Gestaltung der Erdoberfläche wird hier von Faust nicht
auf mechanische Kausalität, sondern nach Analogie
der organischen Bildungen auf einen in der Materie
wirksamen Formtrieb zurückgeführt. Wie nahe die
Annahme eines solchen geistigen Prinzips dem Theismus steht, wenn sie auch nicht mit ihm zusammenfällt, erörtert Goethe in dem 1820 geschriebenen
Aufsatz ,, Bildungstrieb": ,, Betrachten wir das alles
genauer, so hätten wir es kürzer, bequemer und vielleicht gründlicher, wenn wir eingestünden, daß wir,
um das Vorhandene zu betrachten, eine vorhergegangene Tätigkeit zugeben müssen , und daß , wenn
wir uns eine Tätigkeit denken wollen, wir derselben
ein schicklich Element unterlegen, worauf sie wirken
konnte, und daß wir zuletzt diese Tätigkeit mit dieser
Unterlage als immerfort zusammen bestehend und ewig
gleichzeitig vorhanden denken müssen. Dieses Ungeheure personifiziert tritt uns als ein Gott entgegen, als
Schöpfer und Erhalter, welchen anzubeten, zu verehren
und zu preisen wir auf alle Weise aufgefordert sind."
Die Überzeugung, daß wir diesem Ungeheuren umso näher kommen, je mehr wir das eigene Ideenvermögen ausbilden, ist es was den Faust der beiden
letzten Akte in der Erkenntnisfrage von dem Faust"
der Eingangsszenen unterscheidet. In der ,, ideegemäßen" Denkweise finden die beiden Seelen ihren
Frieden, deren Zwiespalt ihn bei Beginn des Dramas
peinigt : die eine hält sich an die endliche Welt mit
klammernden Organen, die andere verzehrt sich in
der Sehnsucht nach dem Ewigen, in dem alle Schranken
verschwinden.
Die berühmte Schilderung dieser Sehnsucht in der
Szene ,,vor dem Tor" (V. 1075 f.) ist eine weitere usführung dessen, was in den „Leiden des jungen
Werther" unter dem 18. August 1771 steht: „Wie
oft habe ich mich mit Fittichen eines Kranichs, der
über mich hinflog, zu dem Ufer des ungemessenen
Meeres gesehnt, aus dem schäumenden Becher des
Unendlichen jene schwellende Lebenswonne zu trinken
und nur einen Augenblick in der eingeschränkten
Kraft meines Busens einen Tropfen der Seligkeit des
Wesens zu fühlen, das alles in sich und durch sich
hervorbringt." So drängt der Jubel der Lerche und
der heimwärts strebende Kranich auch Fausts Gefühl
hinauf und vorwärts, und der sinkenden Sonne möchte
er nachfolgen in göttergleichem Lauf.
Der Mann, vor dem er diese Sehnsucht bekennt,
weiß nichts von dem Verlangen, schaffend Götterleben
zu genießen. Er fühlt sich wohl in den Schranken
des Irdischen, und Faust in seiner Not möchte ihn
darum beneiden:
,,Du bist dir nur des einen Triebs bewußt;
O, lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen
;
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen."
Von diesen Seelen entbehrt Wagner die zweite.
Er weiß nichts und will nichts wissen von den Gefilden der Götter, so wenig es ihn jemals gelüstet der
sinkenden Sonne oder dem Adler nachzufliegen. Auch
die erste der zwei Seelen, dem Irdischen zugewendet,
ist bei einem so grundverschiedenen Menschen natürlich anders modifiziert als bei Faust. Die kräftige
Liebeslust
z.., mit der dieser die vom Frühling erweckte Erde umfaßt, ist Wagner ganz fremd. Bücher
und Gelehrte sind für ihn die Welt. Aber sein wissenschaftUches Streben ist nach Goethes Ausdruck (Paral. 1)
„hell und kalt", es läuft darauf hinaus, Kenntnisse
auf Kenntnisse zu häufen und sie geschickt an den
Mann zu bringen. Diese Beschränkung auf das Irdische
und Zeitliche ist es , was Wagner als den Mann mit
einer Seele von Faust unterscheidet. Er gehört zu den Vielen, denen der von Faustischem Drang durchwühlte junge Goethe zuruft: ,, Selig seid ihr, verklärte
Spaziergänger, die mit zufriedener anständiger Vollendung jeden Abend den Staub von ihren Schuhen
schlagen, und ihres Tagwerks göttergleich sich freuen." Faust kommt zur Harmonie, ohne der zweiten Seele
untreu zu werden, die ihn über Wagner emporhebt.
Die ideengemäße Denkweise befriedigt zugleich seine
Sehnsucht nach dem Ewigen und sein Verlangen nach
der Welt. Denn nach der hier vorliegenden, auf
Aristoteles zurückgehenden Weltanschauung wird die
menschliche Vernunft nicht dadurch vollkommen, daß
sie sich von der Natur loslöst und sich in eine übersinnliche Ideenwelt versenkt, sondern je fester sich
unsere Organe an die Erscheinungen klammern, desto
deutlicher wird uns das Göttliche.
Auch in Goethe hatten die zwei Seelen Frieden
geschlossen, als er an Jacobi (5. Mai 1786) schrieb:
, Dagegen hat dich aber auch Gott mit der Metaphysik gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Physik gesegnet, damit
mir es im Anschauen seiner Werke wohl werde." Wie
bei Goethe, so ist auch bei dem greisen Faust die
Weltanschauung, zu der er sich durchgerungen, der Glaube , daß es der Mühe wert ist ein Mensch zu
sein, das treibende Element. Dieser Glaube drängt
ihn sich als Schaffender freudig einzureihen in das
große Ganze und sich zum „Schöpfungsgenuß von
innen" zu erheben, allen Schranken des Erdenlebens
zum Trotz.
Ende
Inhalt
Bühnenwerke und Fragmente
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