> Gedichte und Zitate für alle: Wilhelm Büchner -Fauststudien: III.2. Goethes Stellung in dem Streit der Klassiker und Romantiker. (10a)

2019-11-17

Wilhelm Büchner -Fauststudien: III.2. Goethes Stellung in dem Streit der Klassiker und Romantiker. (10a)

Fauststudien


III.2. Goethes Stellung in dem Streit der Klassiker und Romantiker. 

Vor und nach der selbständigen Veröffentlichung der ,, Helena" wies Goethe in Briefen an Freunde darauf hin, das diese Dichtung ein aktuelles Interesse habe, da sie zur Schlichtung des Zwiespalts zwischen Klassikern und Romantikern gedacht sei.28 Dieser Streit wurde in jenen Jahren besonders in Italien mit leidenschaftlicher Erbitterung geführt. Goethe selbst hat sich in ,, Kunst und Altertum" zweimal darüber geäußert: 1820 in dem Aufsatz ,, Klassiker und Romantiker in Italien sich heftig bekämpfend" und 1827 unter der Aufschrift ,, Moderne Ghuelfen und Ghibellinen". 

28. An Zelter 3. Juni 1826, an Iken 23. Sept. 1827.

Es handelt sich bei diesen Streitigkeiten um die alte Frage, ob der antiken, besonders der griechischen Poesie der Vorzug vor der modernen gebühre , sodaß es sich empfehle sie nachzuahmen, oder ob man sich von ihr freimachen dürfe zu Gunsten einer neuen, anders gearteten Kunstweise. Goethe war der Ansicht, daß er selbst Anlaß zu einer begrifflichen Scheidung griechischer und moderner Poesie und überhaupt griechischer und moderner Kunst gegeben habe. In dem Aufsatz „Einwirkung der neueren Philosophie" erzählt er aus seinem Verkehr mit Schiller folgendes : „Weil ich, von meiner Seite hartnäckig und eigensinnig, die Vorzüge der griechischen Dichtungsart, der darauf gegründeten und von dort herkömmlichen Poesie nicht allein hervorhob , sondern sogar ausschließlich diese Weise für die einzig rechte und wünschenswerte gelten ließ, so ward er zu schärferem Nachdenken genötigt, und eben diesem Konflikt ver- danken wir die Aufsätze über naive und sentimentale Poesie. — Er legte hierdurch den ersten Grund zur ganzen neuen Ästhetik: denn hellenisch und romantisch, und was sonst noch für Synonymen mochten aufgefunden werden, lassen sich alle dorthin zurückführen, wo vom Übergewicht reeller oder ideeller Behandlung zuerst die Rede war." Was Goethe hier reelle und ideelle Behandlung nennt, bezeichnet er sonst, z. B. Eckermann gegenüber (21. März 1830) als objektives und subjektives Verfahren. Objektiv ist ihm eine Kunst, die das Gesetzliche im Realen erfaßt und dieses Gesetzliche in ihren Phantasieprodukten zur Erscheinung bringt. Subjektiv dagegen verfährt , wer schon bei der Auffassung der Wirklichkeit seine Phantasie walten läßt , und das was er sich willkürlich zurechtgelegt hat, künstlerisch darstellt. 

Die Überzeugung, daß ein Überwiegen des objektiven Verfahrens für die alte, ein Überwiegen des subjektiven für die moderne Kunst charakteristisch sei, führt Goethe zu den scharfen Sätzen, die Riemer unter dem 28. August 1808 verzeichnet: — Das Antike ist noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich. Das antike Magische ist Natur menschlich betrachtet, das moderne dagegen ein bloß Gedachtes, Phantastisches. — Das Antike erscheint nur ein idealisiertes Reales , ein mit Großheit (Stil) und Geschmack behandeltes Reales; das Romantische ein Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein Schein des Wirklichen gegeben wird. Das Antike ist plastisch, wahr und- reell, das Romantische täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne." In scharfer Polemik gegen die neue Lehre der beiden Schlegel heißt es dann am i. Oktober 1810: ,,Der Unterschied zwischen alter und neuer Kunst ist kein solcher,, wie ihn die Herrn Unterscheider von antik und romantisch machen, sondern die neue Kunst ist nur eine limitierte alte, ein Unzulängliches in Form und Stoff." 

Goethe hat aus diesen schroffen Ansichten, die in der Hauptsache auf Winckelmann zurückgingen und von Männern wie Herder, Schelling, Knebel geteilt wurden, auch in der Öffentlichkeit kein Hehl gemacht. In dem Aufsatz ,,über strenge Urteile" bekennt er sich 1798 zu der Überzeugung, ,,daß kein neues Kunstwerk, das gegen die Muster der Alten gehalten und nach Grundsätzen, die sich aus diesen entwickeln lassen, beurteilt wird, völlig bestehen könne." 

Eine tiefe Unzufriedenheit über die Kunst der Neuzeit äußert sich besonders stark in Goethes Briefen an Schiller. Z.B. schreibt er am 13. August 1797: ,, Indessen sind diese Menschen, die sich noch denken können, daß das Nichts unserer Kunst alles sei, noch besser dran als wir andren , die wir doch mehr oder weniger überzeugt sind, daß das Alles unserer Kunst nichts ist." Am 27. Dezember desselben Jahres: ,, Leider werden wir Neuern wohl auch gelegentlich als Dichter geboren, und wir plagen uns in der ganzen Gattung herum, ohne recht zu wissen, woran wir eigentlich sind." Alle neueren Künstler gehören ihm in die Klasse des Unvollkommenen (22. Juni 17991. Es handelt sich bei solchen Äußerungen nicht um vorübergehende Stimmungen, Goethe bezeichnet diese Meinung als sein Glaubensbekenntnis , ,, welches übrigens keine weiteren Ansprüche mache." 

Dieses Glaubensbekenntnis immer im Munde zu führen und dem Guten gegenüber, weil es nicht vollkommen ist, den Mephistopheles zu spielen, entsprach nicht Goethes Art. Man darf aber aus den Höflichkeiten und Verschweigungen, deren er sich in den letzten Jahrzehnten seines Lebens auch auf diesem Gebiete gerne bedient , nicht auf eine grundsätzliche Änderung seiner Ansichten schließen. Er hat an Winckelmanns Lehre bis zu seinem Tode mit der größten Zähigkeit festgehalten. Wenn in der ,, Helena" die spartanische Königin mit der gothischen Baukunst und der mittelalterlichen Heraldik bekannt gemacht wird, so geschieht es mit leisem Spott gegen die nationale Kunst. Sulpiz Boisseree und seine Gesinnungsgenossen mochten aus solchen Symptomen erkennen, wie fern ihnen der Dichter trotz aller freundlichen Teilnahme geblieben war.29

29. Über gothische Baukunst vgl. Vers. 9018 und 6924. Zu der Stelle über die Wappen (9028 f.) ist ein guter Kommentar Herder, Kritische Wälder III „Über Herrn Klotzens Buch vom Münzengeschmack".

Zwar zeigt sich in seinen dichterischen Produktionen nach Schillers Tod eine allmähliche Abwendung von dem strengen Klassizismus, aber sie erfolgt aus Resignation, nicht aus Begeisterung für ein neues Ideal. Winckelmann hatte den modernen Künstlern noch die Hoffnung gelassen, daß sie durch geschickte

Nachahmung die alte Kunst wieder zum Leben erwecken und den Griechen Ebenbürtiges schatten könnten. Ein Zweifel an dieser naiven Zuversicht trat Goethe zuerst wohl bei Herder entgegen, der niemals recht daran glauben wollte, daß man die Kunst eines Volkes ohne Rücksicht auf seine Eigenart und geschichtliche Entwickelung in eine bestimmte Bahn zwängen könnte. Schon in seinen Jugendschriften finden sich allenthalben Bemerkungen, denen gegenüber Winckelmanns Glaube, daß man die Griechen nur nachzuahmen brauche , um selbst unnachahmlich zu werden, als eine Utopie erscheint. Die Versuche in der Weise der Griechen zu schaffen, zu denen sich Goethe immer w^ieder gedrungen fühlte, waren nicht geeignet , den wachgewordenen Zweifel zu ersticken. Daß er seine Modernität nicht verleugnen konnte, daß auch ,,Iphigenie" und ,, Achilleis" keineswegs mit antiken Kunstwerken in eine Linie gestellt werden können, wußte er so gut wie Schiller, der das gerne hervorhob.30 In den Winckelmann gewidmeten Betrachtungen nennt Goethe die griechischen Geschichtsschreiber und Dichter die Bewunderung der Einsichtigen, die Verzweiflung der Nachahmenden. Einen humoristischen Ausdruck findet diese Verzweiflung in dem Faustparalipomenon 158. Faust wird hier angewiesen, bei seinem Gang in die Unterwelt sich des altgriechischen Trimeters zu bedienen. Er erwidert : 

„Das Wohlgedachte, glaub' ich, spricht sich ebenso 
In solchen ernsten langgeschwänzten Zeilen aus: 
Und ist es die Bedingung, jene Göttliche 
Zu sehn, zu sprechen, ihr zu nahn von Hauch zu Hauch, 
So wage sonst noch andres Babylonische 
Mir zuzumuten, schülerhaft gehorch' ich dir. 
Mich reizt es schon von Dingen, sonst mit kurzem Wort 
Leicht abgetan, mich zu ergehen redehaft." 

Auch die von Faust angeredete Person scherzt über den Stil der griechischen Tragödie:

 ,,Da spricht ein jeder sinnig mit verblümtem Wort 
Weitläufig aus, was ungefähr ein jeder weiß."

30. Z. B. in dem Brief an Humboldt 26. Okt. 1795, vgl. Harnack, Klassische Ästhetik 12S.

Goethe konnte diese Szene nicht entwerfen, wenn er nicht fühlte, daß die Nachahmung der griechischen Kunstweise uns im Grunde widerstrebt. Wie tief er überhaupt den Gegensatz von antik und modern empfand, lehren die Aufsätze ,,Winckelmann und sein Jahrhundert" und ,, Shakespeare und kein Ende". Er sah sich durch eine ungeheure Kluft von dem Altertum getrennt. 

Was sollte also der Streit zwischen den Klassikern und Romantikern, den Ghuelfen und Ghibellinen, wie sie Goethe etwas spöttisch nennt.? In dem ersten der oben erwähnten Aufsätze bespricht Goethe den merkwürdigen Fall des italienischen Dichters Monti: Dieser, Verfasser von Aristodem und Gajus Gracchus, Übersetzer der Ilias, kämpfe eifrig und kräftig auf der klassischen Seite. Seine Freunde und Verehrer stünden dagegen für die romantische Partei und versicherten, seine eigenen besten Werke seien romantisch , und bezeichneten solche namentlich, worüber der kostbare Mann , höchst verdrießlich und aufgebracht , das ihm zugedachte falsche Lob gar nicht anerkennen wolle. Goethe knüpft daran die Bemerkung, jeder, der seine Bildung den Griechen und Römern verdanke, widme sein ausgebildetes Talent unaufhaltsam der lebendigen Gegenwart und endige, ohne es zu wissen, modern, wenn er antik angefangen habe.

Diese Einsicht, vor welcher sich der Streit zwischen Klassikern und Romantikern in einen Streit um Worte verwandelte, war für Goethe bitter genug. Denn bei der ausschließenden Verehrung, die er der griechischen Kunstweise entgegenbrachte , bedeutete sie den Verzicht auf vollkommen befriedigende künstlerische Leistungen. Als Niederschlag dieser schmerzlichen Resignation dürfen wir die Worte ansehen , die Faust am Ende des Helena- Abenteuers aussprechen sollte (Paralip. 87):

„Ein irdischer Verlust ist zu bejammern 
Ein geistiger treibt zu Verzweiflung hin." 

Goethe, der eherne Schweiger, hat sich über diesen geistigen Verlust nur selten und in Andeutungen geäußert, empfunden hat er seine Qual sicherlich so tief wie Michelangelo, in dessen Leben die Unbefriedigung über sein künstlerisches Schaffen eine so bemerkenswerte Rolle spielt. Auch bei dem großen Italiener entspringt sie , wenn nicht der Einsicht , so dem Gefühle, daß er seine Gedanken nicht zu Kunstwerken zu gestalten vermochte, die seinem bei den Griechen erschauten Schönheitsideale entsprachen.
                                                                






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