> Gedichte und Zitate für alle: Wilhelm Büchner -Fauststudien : Vorwort (2)

2019-11-15

Wilhelm Büchner -Fauststudien : Vorwort (2)



Fauststudien

Vorwort. 

Die vorliegenden Aufsätze beziehen sich hauptsächlich auf die drei ersten Akte des zweiten Teiles der Faustdichtung und suchen das, was Faust hier erlebt, im Zusammenhang darzustellen. Eine Analyse, die sich bemüht, den Gehalt aus der poetischen Form herauszuschälen, trifft in diesem Abschnitt des Dramas auf besonders große Schwierigkeiten. Doch vereinigen sich in unserer Zeit verschiedene Umstände, die dazu reizen, den Versuch wieder einmal zu machen.

Erstens sind Goethes Faustpapiere, mit denen uns die Ausgabe der Großherzogin von Sachsen bekannt gemacht hat, gerade für die erste Hälfte des zweiten Teiles besonders ergiebig. In diesen Paralipomenis erscheinen manche Motive schlichter und für gewöhnliches Denken faßlicher als in der farbensatten Ausführung der veröffentlichten Dichtung. Auch findet man bei ihnen zuweilen Hilfe gegen einen eigentümlichen Lakonismus, den der Dichter selbst als einen Mangel seines Werkes empfand. Als er einige Wochen vor seinem Tode den noch nicht veröffentlichten zweiten Teil noch einmal durchging, bemerkte er in seinem Tagebuch: „Neue Aufregung zu Faust in Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich um fertig zu werden allzu lakonisch behandelt hatte." Diese Absicht des Dichters, das was er wollte deutlicher herauszuarbeiten, ist nicht mehr zur Ausführung gelangt. Jetzt erlauben die Paralipomena manches, was in der Dichtung nur angedeutet ist, einwandfrei zu ergänzen.

Wichtiger noch als die nachträglich bekannt gewordenen Faustpapiere ist für das Verständnis der Dichtung die bessere Einsicht in Goethes Gedankenwelt, welche die in den letzten Jahrzehnten so eifrig betriebene Goetheforschung ermöglicht hat. Die vielseitigen Interessen des Dichters, seine Zu- und Abneigungen auf den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft sind jetzt leichter zu übersehen als noch vor 25 Jahren. Bei keiner seiner Dichtungen ist aber diese Übersicht notwendiger als bei dem zweiten Teil des Faust, wo wir wie im Fluge bald in diese, bald in jene Provinz seines universalen Geistes versetzt werden.

Zuweilen werden dabei Erscheinungen des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts vorgeführt, mythologische, geologische, ästhetische Streitigkeiten, und der Dichter scheint seinen Helden ganz aus den Augen zu verlieren. Indessen ist die Meinung, Goethe habe bei der Ausführung des zweiten Teiles alles aufgenommen, was ihm gerade eingefallen sei, mit seinen ästhetischen Ansichten unvereinbar. Da gerade er immer betont, ein Kunstwerk gleiche einem Organismus, in dem kein Glied entbehrlich sei, so kann man bei keinem vorkommenden Motiv der Frage, warum es in die Faustdichtung eingeflochten ist, aus dem Wege gehen.

Wer die Klarheit und Kraft des greisen Dichters zu bewundern gelernt hat, wird nicht zweifeln, daß auf diese Frage in jedem einzelnen Fall die Antwort sehr wohl zu finden ist, und wo er sie nicht findet, wird er die Schuld bei sich , nicht etwa bei dem Dichter suchen, eingedenk des Spruches, daß in der Dämmerung auch eine deutliche Schrift unleserlich wird.



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