> Gedichte und Zitate für alle: a. Vorbereitung; Homunkulus und die klassische Walpurgisnacht. V. 6567—S4S7. I. (15)

2019-12-13

a. Vorbereitung; Homunkulus und die klassische Walpurgisnacht. V. 6567—S4S7. I. (15)

Veit Valentin: Goethes Faustdichtung in ihrer künstlerischen Einheit

Schaffung des Homunkulus

Die allgemeine Aufgabe der fünften Episode ist die Antwort auf die Frage : Hätte Faust seine Befriedigung gefunden, wenn er zu einer früheren Zeit gelebt hätte ? Diese Antwort kann praktisch nur dadurch gegeben werden , dafs Faust wirklich die Vergangenheit durchlebt. Der dramatische Dichter begnügt sich dabei mit der Wiederbelebung der charakteristischsten Seite der alten Zeit, wie sie in dem besonderen Volke der Griechen zur Thatsache geworden ist, der Wiederbelebung des Schönheitskultus. Als Trägerin hierfür benutzt er die Helena : so gestaltet sich für den Dramatiker die besondere Aufgabe dahin, Helena selbst wiederbelebt in die Handlung einzuführen. Allein diese wiederbelebte Helena mufs eine ganz andere sein , als die in der vierten Episode aufgetretene: hier war sie die in einem Nebelkörper zur Erscheinung gebrachte Idee der Helena, deren rein geistige Existenz auch die leiseste körperliche Berührung und somit jeden Verkehr mit der Körperwelt ausschliefst. Jetzt soll sie in der vollen Wirklichkeit des körperlichen Daseins auftreten, als »wahrhaft lebendig« , so dafs ein wirklicher Verkehr mit der körperlichen Welt ermöglicht wird , und somit auch eine thatsächliche Verbindung zwischen Flaust und Helena eingegangen werden kann. Dieses wirkliche Dasein der Helena kann nur ein künstliches sein: die Künstlichkeit des Daseins ist keineswegs ein Gegensatz gegen die Wirklichkeit , sondern nur gegen die Natürlichkeit des körperlichen Daseins , gegen das auf dem Wege der natürlichen Zeugung entstandene Dasein. Der Dichter wird nun die Aufgabe haben, uns durch den dramatischen Verlauf dieses künstliche Entstehen eines wirklichen körperlichen Daseins zu schildern und in uns die Empfindung der Wahrscheinlichkeit dieses Entstehens zu erwecken : er wird es können, sobald wir ihm die notwendig zu machenden Voraussetzungen zugegeben haben.

Der natürlich entstandene wirkliche Mensch ist das Abbild eines Musterbildes, einer Idee; dafs diese Idee selbst sich einer Verkörperung versagt, hat der Dichter bereits dargelegt: ihr Abbild kann nur beim natürlichen Verlauf der körperlichen Entstehung das gestaltengebende Prinzip werden. Ist so die Idee für die Gewinnung eines künstlich entstandenen körperlichen Daseins ausgeschlossen , so bleibt doch ein anderes Auskunftsmittel. Wenn der Mensch stirbt, so geht nach griechischer Auffassung das Schattenbild seines Körpers in die Unterwelt , in das Reich des Pluton und der Persephone. Eine Zurückgewinnung dieses Schattenbildes und seine Wiedererweckung zum wirklichen Leben liegt nach griechischer Weltanschauung innerhalb des Bereiches der Möglichkeit : Herakles hat die Alkestis wirklich dem Leben wiedergewonnen, Orpheus war eben daran, Eurydike zurückzugewinnen, als er durch Unbesonnenheit und Ungehorsam das von der Gottheit Gewährte selbst wieder zu nichte machte. Ja, von der Helena selbst wird berichtet, sie sei aus der Unterwelt zurückgekehrt und habe sich mit Achilleus auf der Insel Leuke vermählt, aus welcher Verbindung Euphorion entstanden sei. So war für den Dichter die nach griechischer Anschauung mögliche, nach griechischer Sage schon einmal Thatsache gewordene Rückkehr der Helena aus der Unterwelt, die Erfüllung ihres Schattenbildes mit neuem Leben zur Herbeiführung eines neuen Ehebundes vorbildlich bereits gegeben. Es kam nur darauf an , diese Wiederbelebung im Rahmen der in der Faustdichtung herrschenden Weltanschauung als begründet darzustellen und sie in den dramatischen Gang der Handlung einzufügen.

Gelingt es auch, den Schatten der Helena wiederzugewinnen , so kann er doch nur dadurch zu wirklichem Leben gelangen, dafs er sich irdischem Stoffe verbindet : erst so gewinnt er die für das wirkliche Auftreten notwendige Körperlichkeit. Allein die den irdischen Stoff erfüllenden und ausmachenden vier Elemente können nicht als rohe, tote Masse sich mit dem Schatten verbinden: als vereinigendes, belebendes Moment mufs die Lebensenergie hinzukommen, die sich darin äufsert, dafs sie toten Stoff zu wachsendem, unorganischen zu organischem umgestaltet. Gelingt es der schaffenden Naturkraft, irgend welchen Stoff, also irgend eine bestimmte Zusammenfügung von Elementen, mit einer alle Teile gleichmäfsig durchdringenden Kraft zu erfüllen, so dafs dieser so belebte Stoff imstande ist, fremde, aber gleichartige Stoffbestandteile in sich aufzunehmen und zur Mitbethätigung an seinen Lebensäufserungen zu zwingen, so erscheint in diesem nun als Einheit thätigen Stoffganzen als das Verbindende, das Zusammenhaltende, das das Wachstum Herbeiführende und Ermöglichende eine das Unthätige zum Thätigen bildende, sich uns als Leben offenbarende Kraft, die Lebensenergie. Die Lebensenergie hat in erster Linie das Bestreben, die verbrauchten und daher abgestofsenen , also abgestorbenen Stoffteile zu ersetzen, sei es teilweise , sei es so , dafs es uns den Eindruck macht, als seien die alten Bestandteile ganz verdrängt und durchaus neue an ihre Stelle getreten : in diesem Falle sprechen wir von einem neuen Ganzen, das aus dem ersten sich entwickelt habe , von ihm erzeugt worden sei ; thatsächlich ist es dieselbe Lebensenergie, die, solange sie Elemente findet, die sich dem von ihr ausgehenden Zwange fügen und bereit sind, sich ihrer gestaltenden Kraft unterzuordnen, ununterbrochen fortexistiert und erst , wenn diese Bedingung nicht mehr erfüllt wird , erlischt. Dieser Zwang , der die fremden Elemente sich unterordnet, setzt aber voraus, dafs die diese fremden Elemente sich unterordnende Lebensenergie, durch die Verwendung einer beschränkten Masse des Stoffes gebunden, die hierdurch notwendig gewordene Begrenzung erreicht , indem sie eine bestimmte Gestaltung auszufüllen, zu verkörpern bestrebt ist : diese Gestaltung ist die Idee, deren Abbild durch dieses Auftreten der Lebensenergie und die von ihr ausgehende Kraft die Elemente zur Verkörperlichung der Idee herbeizuzwingen , entsteht. Sonach gehören zur natürlichen Entstehung drei Bestandteile : die stofflichen Elemente einerseits, die Idee andrerseits, endlich die die Verbindung herbeiführende und aufrechterhaltende Lebensenergie. Soll nun an Stelle einer natürlichen Entstehung eine künstliche treten, so mufs die Idee ersetzt werden durch das von ihr ursprünglich herstammende , nach Auflösung des natürlichen Daseins in die Unterwelt gegangene Schattenbild; die stofflichen Elemente bleiben dieselben , wie die Natur sie immer bietet; die Lebensenergie kann aber nicht aus der Natur selbst gewonnen werden: diese führt, ihrem eignen Wege folgend , zur Verkörperlichung einer Idee, fügt sich aber nicht einer ihr willkürlich vorgeschriebenen Gestaltung. Es mufs daher eine diesem besonderen Zwecke dienende Lebensenergie neu, also selbst künstlich geschaffen werden: diese ist dann geeignet, Elemente an sich heranzuziehen und sie sich zur Erlangung einer Verkörperlichung unterzuzwingen ; ihre Gestaltung aber wird durch ein aus der Unterwelt geholtes Schattenbild erreicht.

Will nun der Dichter eine künstliche Neubelebung darstellen, so mufs er diese drei Bestandteile zusammenführen. Es kann dies nur unter aufsergewöhnlichen Verhältnissen stattfinden, und nur unter besonderer Begünstigung des Zusammentreffens der notwendigen Voraussetzungen. Die Herbeiführung dieser günstigen Verhältnisse kann , wenn sie den Charakter der dichterischen Wahrscheinlichkeit tragen soll , nicht kurzer Hand abgemacht werden : so ist denn bei dieser Episode die vorbereitende Handlung eine sehr ausführliche und komplizierte, während ihr dramatischer Zweck sehr einfach und durchsichtig ist. Zunächst wird die Grundlage von allem, die künstliche Lebensenergie, geschaffen , die , wenn sie dramatisch verwendbar sein soll , den Charakter einer Persönlichkeit annehmen mufs; diese selbst aber darf die Eigenart dessen, was sie thatsächlich ist, eine Energie, die ihre Gestaltung zum Zwecke der Verkörperlichung noch nicht besitzt, ja überhaupt noch nicht kennt, niemals verleugnen, weder in der Erscheinung, noch in der Art des Auftretens. Es ist der Homunkulus. Diese Lebensenergie mufs sich mit den stofflichen Elementen verbinden, sobald ihr die endlich zu erreichende Gestaltung klar entgegengetreten ist: den Weg hierzu und das seine körperliche Gestaltung bestimmende ideale Vorbild sucht und findet der Homunkulus in der klassischen Walpurgisnacht. Zur wirklichen Verkörperung braucht er aber auch eine verfügbare Gestaltung: diese holt Faust aus der Unterwelt, indem er Helena als Schatten losbittet, die als Königin natürlich nicht ohne ihr Gefolge auftreten kann. Auch diese Aufgabe, das Schattenbild der Helena zur Oberwelt zurückzuführen, fällt der klassischen Walpurgisnacht zu. Sie hat aber noch eine dritte Aufgabe zu lösen : Mephistopheles kann Faust nicht verlassen. So wenig sympathisch ihm das Heidenvolk und überhaupt das ganze Ereignis ist , so mufs auch er in das Altertum eintreten : die Gestalt, in der ihm dies möglich wird, ihn finden zu lassen, ist die dritte Aufgabe der klassischen Walpurgisnacht.

Es ist begreiflich, dafs diese Klarheit der Verhältnisse nicht auf einmal sich gestaltet hat, sondern erst ganz allmählich als Ergebnis eines vieljährigen Prozesses entstanden ist. Die Abklärung der in mehreren Entwürfen noch vorliegenden, im einzelnen vielfach voneinander abweichenden Pläne hat nach zwei Seiten hin stattgefunden. Goethe, als Dichter das Muster in der Schaffung scharf gezeichneter Gestalten , hatte vor allem das dichterische Bedürfnis, die Fülle des Stoffes zu beschränken und nicht alles aufzunehmen, was sich aus den gegebenen Voraussetzungen als möglich und interessant gestalten und herbeiziehen liefse — dadurch wäre er zu fehlerhaften Episoden gekommen —, son- dern alles abzuweisen, was dem deutlich erkannten dichterischen Ziele keine Förderung gebracht hätte. Er spricht sich hierüber Eckermann gegenüber (21. Februar 1831) so aus: »Das Schwierigste war, sich bei so grofser Fülle mäfsig zu halten und alle Figuren abzulehnen, die nicht durchaus zu meiner Intention pafsten. So habe ich z. B. von dem Minotaurus, den Harpyien und einigen anderen Ungeheuern keinen Gebrauch ge- macht.« Dafs er dies gekonnt habe, schreibt er seiner lebenslänglichen Beschäftigung mit der Bildkunst zu, was ihm indessen von geringem Nutzen gewesen wäre, wenn ihm nicht der künstlerische Takt, jene geheimnisvolle Fähigkeit zu empfinden , was jedesmal gerade an einem bestimmten Ort pafst, in höchstem Mafse zu Gebote gestanden hätte.

Ein zweiter Grund zur Läuterung der ursprünglich recht verwickelten und einer dramatischen Darstellung wenig günstigen Entwürfe liegt für den Dichter in der immer zunehmenden Klärung seiner naturwissenschaftlichen Überzeugungen. Diese Anschauungen des Dichters, wie sie sich bei ihrer Anwendung auf eine bestimmte einzelne dichterische Schöpfung gestaltet haben, sind inzwischen durch die aus Goethes Nachlafs neugewonnenen Ergebnisse bestätigt worden. Je klarer sich nun Goethe in seinen Anschauungen über Leben und Entwickelung wurde, um so mehr mufste es ihm widerstreben, einen Vorgang, der dem Schaffen der Natur nachgebildet ist, ausschliefslich dem Gebiete der Zauberei zuzuweisen; er hat vielmehr die Zauberwirkung in die Voraussetzungen verwiesen, läfst dann aber den Vorgang selbst, seinen naturwissenschaftlichen Überzeugungen gemäfs , sich abspielen. Er hat nicht etwa künstlich seine naturwissenschaftlichen Ansichten in die Dichtung als etwas Überflüssiges und ihr Unwesentliches aus Liebhaberei hineingetragen , sondern er hat umgekehrt den organischen Aufbau der Dichtung kunstvoll emporwachsen lassen , wie dieser sich auf Grund seiner naturwissenschaftlichen Anschauungen aus den dichterisch gegebenen Voraussetzungen heraus gestalten mufste.

In den verschiedenen Entwürfen ist bei aller sonstigen Mannigfaltigkeit ein Punkt als der Hauptpunkt stets unverändert: Helena soll mit wirklicher Körperlichkeit erscheinen. Ursprünglich sollte dies durch die Zauberkraft eines Ringes bewirkt werden , mit dessen Abstreifen der Zauber aufhören sollte und die Körperlichkeit wieder verloren ginge. Dann sollte die Neuverkörperung nur innerhalb eines bestimmten Bezirkes Geltung haben , so dafs mit dem Heraustreten aus diesem Bezirke die Verkörperung wieder aufgehört hätte : in beiden Fällen war die Verkörperung direktes Ergebnis eines äufseren Zaubermittels. Im ersten Falle ist von Homunkulus überhaupt noch nicht die Rede, im zweiten hat er eine ganz selbständige Stellung, tritt sofort aus dem Glase , das zertrümmert wird , heraus, ist männlich , und es wird für ihn ein chemisch Weiblein gesucht: ein mafsgebender , an seinem Auftreten haftender, zu irgend einer Entscheidung führender Einflufs auf den Fortgang der Handlung ist mit ihm nicht verbunden. Es war eine durchaus neue dichterische Gestaltung, als Goethe den Homunkulus ausschliefslich als vorläufige und daher an das Glas gebundene Verkörperung der Lebensenergie auffafste , und dafs er diese nach einer wirklichen Verbindung mit stofflichen Elementen und einer formgebenden Gestaltung streben läfst : hier macht Goethe das schöpferische Prinzip, das nach seiner Auffassung thatsächhch in der Natur waltet, dichterisch greifbar und läfst es seinem innersten Wesen nach auftreten und handeln. Die Zaubereinwirkung wird aufseine erste Entstehung eingeschränkt : ist diese erfolgt, so nimmt die Natur den ihrem Wesen zukommenden selbstverständlichen Verlauf: die einzige Freiheit, die sich der Dichter der Natur gegenüber nimmt, ist die, dafs er, um einen dramatischen Fortgang zu ermöglichen, Entstehung der Lebensenergie und Ergreifung des toten Stoffes, sowie der durch Idee oder Schattenbild gegebenen formalen Gestaltung, nicht in einen Augenblick zusammenlegt, sondern auseinanderzieht, wodurch er das Streben der thätigkeitsbedürftigen Lebensenergie als Triebkraft für den Fortgang der Handlung selbst verwenden kann. Was also sonst geheimnisvoll und unbeobachtet vor sich geht, das läfst uns der Dichter , indem er es an eine klar verfolgbare Handlung knüpft, Schritt für Schritt verfolgen. Er thut dies aber, um für die Verkörperlichung der Helena die sachliche Grundlage zu finden. Dafs er der Gestalt des Homunkulus zugleich ein mafsgebendes Eingreifen in die Handlung inbezug auf Faust zuschreibt, zeigt Goethe wieder in der vollen Kraft des erfindungsreichen und zugleich sparsamen Dichters, der es meisterhaft versteht, das scheinbar um seiner selbst willen Vorhandene zugleich zu einem wesentlichen Gliede der Haupthandlung zu gestalten und so in diese als wohlbegründetes Glied des Ganzen einzuflechten. So müssen dem dichterischen Zwecke des Künstlers auch seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ebenso dienen, wie seine ethischen, seine ästhetischen Anschauungen : das Kunstwerk wird nicht der Tummelplatz für Anschauungen, die willkürlich herbeigezogen sind, sondern es quillt in seiner künstlerischen Gestaltung aus der Gesamtheit der geistigen Triebkraft empor, die, aus einer Fülle von Gedanken, Wissen und Empfinden zu einer untrennbaren Einheit zusammengewachsen, alles, was sie hervortreibt, zum Dienste ruft, wie es geeignet erscheint, und an den Platz stellt, den die künstlerische Gestaltungskraft ihm als den rechten anweist. Es wird die Aufgabe des Einzelnachweises sein, zu zeigen, wie in der That alles scheinbar willkürlich Herbeigezogene, dennoch gerade an seiner Stelle den Gesamtzweck fördern hilft, der unablässig dem Dichter als das wirkliche, das allein gültige und ausschliefslich zu verfolgende Ziel seiner Dichtung vorschwebt.

Die Vorbereitung der Episode führt uns in das Studierzimmer Fausts zurück : Mephistopheles, der den von der Geisterberührung ohnmächtig zusammengebrochenen Faust vom Hofe fortschaffen mufs, wo sein Spiel ausgespielt ist, bringt Faust, nachdem dieser die kleine und die grofse Welt durchgekostet hat, zunächst dahin zurück, von wo die erste Fahrt ausgegangen ist. Hier soll der noch von Helenas Erscheinung Gelähmte allmählich wieder zu Verstande kommen. Mephistopheles geht dabei von einer Voraussetzung aus , die sich bald als falsch erweist : so wie er sich einst in der Wirkung , die Gretchen auf Faust gemacht hatte, im Irrtum befand, so ist es auch jetzt wieder Helena gegenüber der Fall : für die tiefe , das Herz ergreifende Wirkung des geliebten Weibes auf den Mann hat er, der einzig unter dem Banne der sinnlich lüsternen Wirkung des Weibes steht, keinerlei Verständnis. So legt er hier Faust auf das Bett mit den Worten: »Hier lieg', Unseliger! verführt Zu schwergelöstem Liebesbande!« — er glaubt also, das Band, das Faust an Helena knüpfte, sei bereits gelöst, und der einzige Rest ihrer Wirkung auf Faust sei der, dafs dieser nur langsam wieder zu Verstande komme. Er wird freilich bald zu seinem Erstaunen eines anderen belehrt. Inzwischen überkommt ihn eine behagliche Stimmung, wie er sich an dem Platze wiedersieht, wo er den Sieg über Faust davongetragen , wo er ihn zum Vertrag und zur Unterschrift verlockt hat. Diese behagliche Stimmung wird erhöht, wie er den Pelz ergreift und ihn ein Chor der Insekten begrüfst, die ihre Entstehung auf die Berührung des Pelzes mit Mephistopheles zurückführen, als dieser den Magister spielen wollte. »Wie überraschend mich die junge Schöpfung freut,« ruft er entzückt aus. Mit diesem Zuge versetzt uns sofort der Dichter in die Stimmung, Neugeschaffenem , das seinen Ursprung in der dämonischen Natur des Mephistopheles hat, gläubig entgegenzukommen : genügte hier die blofse Berührung des Pelzes mit dem Körper des Mephistopheles, um ohne besonderes Zuthun doch schon dessen Zauberkraft wachzurufen, so werden wir auch seiner Zuversicht Glauben schenken, mit der er sich bewufst ist, das Werk Wagners fördern zu können.

Was dieser Wagner, der frühere Famulus, der jetzige Professor, jetzt treibt, weifs Mephistopheles sehr genau : die Herbeirufung des Famulus hat dramatisch nur den Zweck, Wagner auf den Besuch des Mephistopheles vorzubereiten. Mephistopheles zweifelt nicht, dafs Wagner ihn willkommen heifsen werde: »Ich bin der Mann, Das Glück ihm zu beschleunen.« Allein vorher darf er sich des Aufgehens noch einer anderen Saat freuen : als Magister hat er Herz und Kopf des Schülers zu vergiften gesucht. Das Sprüchlein, das er ihm aufgeschrieben, hat nun seine Früchte getragen: der Schüler ist Bakkalaureus geworden und hält sich in der That für Gott gleich in seinem Wissen. Dieses selbstbewufste Auftreten des Bakkalaureus, der den Subjektivismus bis aufs äufserste treibt, so dafs er erklärt, dafs die Welt nicht war, ehe sein Ich sie erschuf, hat eine ähnliche Aufgabe, wie das Auftreten des Proktophantasmisten in der romantischen Walpurgisnacht : so wie dieser, der das Dasein der Geister leugnen möchte, selbst dann noch, wenn er mitten unter ihnen ist, nur um so mehr die Realität der Geisterwelt bestätigt, so will auch der Bakkalaureus hier alles leugnen, was er nicht durch sein Vorstellen selbst erschaffen hat : den Gipfel der Komik erreicht dies Prahlen, wenn er sagt: »Wenn ich nicht will, so darf kein Teufel sein«, und dabei dem Teufel selbst gegenübersteht, ohne es zu ahnen. Je energischer er die Subjektivität alles Daseienden betont, um so klarer wird seinem als Prahlerei und Selbsttäuschung erkannten Gerede gegenüber die Realität dessen, was hier geschieht und noch geschehen soll: so erreicht der Dichter, indem er scheinbar nur das früher Angesponnene zu Ende führt, damit zugleich die gerade hier notwendige Hervorhebung eines entscheidenden Gesichtspunktes, der im Augenblick, wo ein neues Wunder sich begeben soll, seine ebenso wichtige wie richtige Stelle hat.

Wagner ist eben damit beschäftigt, toten Stoff zu lebendig wirkendem zu machen, ohne dafs die hierzu notwendige Lebensenergie von anderem, mit ihr bereits erfüllten Stoff auf den neuen toten Stoff übertragen würde : dies wäre ein Organisieren des toten Stoffes, während das Erfüllen des toten Stoffes mit Lebensenergie ohne Übertragung von anderem bereits mit ihr erfüllten Stoff von Wagner als ein Krystallisieren bezeichnet wird. Mephistopheles hält einen solchen Vorgang durchaus nicht für unmöglich und findet ihn auch gar nicht auffallend : er hat während des Wanderns in seinem langen Leben selbst schon »krystallisiertes Menschenvolk« gesehn: Adam und Eva oder Adam und seine erste Frau , Lilith , die beide ohne Übertragung der Lebensenergie von einem mit ihr bereits erfüllten Stoffe entstanden sind : vielmehr hat hier die Lebensenergie durch unmittelbare Übertragung von Seiten eines überirdischen Wesens ihren Anfang in diesem zu ihrer Schöpfung verwendeten toten Stoffe selbst genommen. Der Dichter versäumt niemals — und gerade für die Wunder dieser fünften Episode ist dieser Kunstgriff besonders zu beachten —, was zunächst als Wunder erscheinen mufs, durch einen analogen Fall, der bereits vorgekommen ist, nicht nur als glaubwürdig, sondern auch als sachlich durchaus annehmbar nachzuweisen.

Nun wäre natürlich Wagner allein mit seinem Werke nicht zustande gekommen : die Lebensenergie mufs von einer Kraft übertragen werden, die hierzu des Weges der Zeugung nicht bedarf. Bei Adam strömte sie von Gott aus : hier ist es Mephistopheles, von dem sie ausgeht, was für uns nach dem Ereignis mit der jungen Schöpfung im Pelze nichts Überraschendes mehr hat. Zugleich aber pafst es sehr gut zu der behaglichen Stimmung, die Mephistopheles seit Anfang dieser Rückkehr in Fausts Studierzimmer erfüllt , dafs er Wagner in seinem Unternehmen unterstützt. Der Umstand, dafs die Lebensenergie von Mephistopheles ausströmt, hat keineswegs zur Folge, dafs der Charakter der neuen Schöpfung seinem Charakter gleiche, wie es bei einer wirklichen Zeugung begreiflich wäre: die Lebensenergie erscheint als eine neutrale Kraft, die ihre Eigenart erst durch die besondere Lebensgestaltung gewinnt, wie dies auch bei Adam und Eva gewesen ist. Es gilt das hier um so mehr, als Homunkulus erst eine Zeit lang als solche neutrale Kraft existierend angenommen wird, die ihre endgiltige Lebensgestaltung erst sucht und schliefslich auch findet. So lange dies aber nicht eingetreten ist, bleibt sich Homunkulus der Verwandtschaft seines Wesens mit dem des Mephistopheles wohl bewufst. Er redet ihn Herr Vetter an und freut sich seiner zur rechten Zeit eingetretenen Ankunft.

Aus dieser Voraussetzung heraus ist nun das Wesen des Homunkulus zu fassen. So wie er selbst vorläufig nur die Lebensenergie ist, die noch nicht an bestimmte Stoffe gefesselt erscheint, so ist er auch in seinem Denken und Schauen noch nicht durch stoffliche Schranken gehemmt. Für ihn giebt es keine Beschränkung durch Raum und Zeit. Sein ganzes Wesen ist zunächst, der Natur der Lebensenergie entsprechend, der Trieb thätig zu sein: »Dieweil ich bin, mufs ich auch thätig sein. Ich möchte mich sogleich zur Arbeit schürzen.« Und zu Mephistopheles gewendet, fügt er hinzu: »Du bist gewandt, die Wege mir zu kürzen.« Und dieser, über die nutzlosen theoretischen Fragen Wagners weggehend, verweist auf den schlafenden Faust: »Hier zeige deine Gabe.« Sofort offenbart sich die von körperlichen Schranken nicht gehemmte Geistesnatur des Homunkulus : er erkennt den Traum des Faust. Dieser, der keinen dringenderen Wunsch hegt als die Neubelebung der Helena, sieht im Traum ihre wunderbare Erzeugung sich wiederholen: so lenkt der Dichter sofort auf die Hauptaufgabe der Vorbereitung dieser Episode hin. Mephistopheles, der nichts von allem sieht, was Homunkulus erzählt, hält die liebliche Schilderung des Kleinen für grofse Phantasterei, aber Homunkulus erkennt richtig, dafs dem Faust hier nicht zu helfen ist: »Erwacht uns dieser, giebt es neue Not, Er bleibt gleich auf der Stelle tot.« Darum rät er: »Nur fort

mit ihm.« Mephistopheles ist erfreut, dafs ihm ein Ausweg gezeigt wird : er selbst weifs nicht zu helfen. Damit geht hier die thätige Hilfe, insoweit sie im Auffinden des richtigen Weges zur Verwirklichung des von Faust selbst in der Ohnmacht nicht aufgegebenen, von ihm selbst erfafsten Zieles von Mephistopheles auf Homunkulus über. Dieser weifs, dafs jedem geholfen wird , wenn man ihn in die Sphäre führt , wo er am liebsten ist, also dem Faust in Griechenland. Das damalige historische Land freilich hätte Faust wenig genützt : es bedarf des antiken Landes und Lebens. Nun ist eben zum Glück »klassische Walpurgisnacht«. Mephistopheles weifs nichts davon und hat auch kein Vertrauen dazu. Aber Homunkulus zwingt ihn zur Entscheidung: »Hast du ein Mittel, so erprob' es hier: Vermagst du's nicht, so überlafs es mir.« Und Mephistopheles vermag es wirklich nicht : ihn aber zum Einwilligen oder gar Mitgehen zu bringen, bedarf es noch eines besonderen Anstofses: der ihn durchschauende Homunkulus weifs es trefflich zu finden. Er ruft ihm zu : »Und wenn ich von thessalischen Hexen rede, So, denk' ich, hab; ich was gesagt.« In Mephistopheles erwacht sofort die Lüsternheit, es einmal auf einen Versuch ankommen zu lassen. So nehmen denn Homunkulus, der vorleuchtet, und Mephistopheles, der um Faust seinen Zaubermantel schlägt, den Schlafenden mit fort nach Thessalien — Wagner bleibt klagend zurück : er war nur das Mittel zum Zweck und hat in der Geistersphäre selbst nichts zu thun. Homunkulus hofft, indem er Faust hilft, selbst sein Ziel zu erreichen , und Mephistopheles bekennt achselzuckend, indem er sich dem Willen des Homunkulus fügt, dessen Dasein er selbst veranlafst hat: »Am Ende hängen wir doch ab Von Kreaturen, die wir machten.« So geht's zur klassischen Walpurgisnacht: in ihr soll jeder der drei Wanderer sein besonderes Ziel erreichen.
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