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2019-12-14

Das Helenadrama. (17)

Das Helenadrama

Das Helenadrama. 

Das Helenadrama hat zur allgemeinen Aufgabe die Verbindung Fausts mit dem Wertvollsten des Altertums, damit auf diese Weise der Einwurf beantwortet werde, der sich aus der zufälligen Zugehörigkeit Fausts zu einer bestimmten geschichtlichen Epoche und räumlichen Beschränktheit ergeben mufs: soll er wirklich alles erproben, was die Welt zur Befriedigung eines Strebens, wie es das seinige ist, bieten kann, so mufs auch die Vergangenheit mit durchgeprobt werden: das Bedeutendste des wichtigsten Kulturvolkes des Altertums wird nun Faust zuliebe wieder lebendig. Die besondere Aufgabe der dramatischen Führung der Handlung ist die , dafs , nachdem Helena mit ihrer Umgebung, ihren »Zugaben«, wie Mephistopheles ihre Begleiterinnen wegwerfend, aber den Thatbestand treffend bezeichnet, wieder erschienen ist, ihre Verbindung mit Faust hergestellt wird. Damit diese Verbindung zu einer wahrhaften und für Faust wirksamen werden könne, mufs die dem Altertum angehörende Gestalt in das Leben der Faustischen Zeit hinübergeführt werden : Faust wird nicht in das Altertum versetzt, sondern dieses wird für ihn lebendig gemacht und ihm zugeführt. In dieser Zuführung des Altertums zu Faust liegt für Faust die Möglichkeit, das ihn Beglückende, wenn es dort vorhanden ist, zu gewinnen; er kann das Beste, was das Altertum geschaffen hat, die denkbar höchste Schönheit, leibhaftig für sich erringen. Aber eben diese Hinüberführung des Altertums zu Faust trägt auch zugleich den Keim des Bruches der so errungenen Verbindung in sich : die Verbindung ist nicht auf natürlichem Wege entstanden und kann ebendarum nur eine rasch vorübergehende sein. Es zeugt von dem hohen dramatischtechnischen Geschick des Dichters, dafs er denselben Umstand , die Künstlichkeit der Wiedergeburt der Helena sowohl für die Einführung der Handlung, der Verbindung der Helena mit Faust, als auch für den Grund der Lösung dieser Verbindung als gemeinsamen Keimpunkt benutzt : es liegt darin nicht nur eine weise Sparsamkeit, wie sie auch als Eigentümlichkeit der schaffenden Natur bei der Ausbildung der Organe sich zeigt — es ist auch eine naive Bethätigung der der Natur gleich schaffenden künstlerischen Kraft, die durch solches Verfahren die Einheitlichkeit, sowie den engen Zusammenhang des Vorgangs wahrt und die innere Notwendigkeit seines Verlaufes darthut. Trotzdem dafs die Wiederbelebung der Helena eine künstliche ist, kann sie Faust eine neue, ihm noch unbekannte Seite des Daseins, die gottgleiche Schönheit in menschlicher Verleiblichung, kundmachen ; trotz dieser Künstlichkeit kann eine Verbindung mit Faust eintreten, kann dieser erproben , ob die vollendetste körperliche Schönheit imstande wäre , eine dauernde seelische Befriedigung hervorzubringen : weil aber das erneute Dasein der Helena ein künstliches ist, kann ihre Verbindung mit Faust, selbst wenn sie diesem volle Befriedigung schaffen sollte, dennoch keine bleibende sein; schafft sie ihm aber keine volle Befriedigung, so liegt in der Künstlichkeit des Daseins der Helena um so mehr der naturgemäfse Grund, die Lösung der Verbindung mit Faust in zwangloser, selbstverständlicher Weise herbeizuführen, sobald diese dem dem Gesamtfortgange der Haupthandlung entsprechenden Zwecke gedient hat.

Die Verbindung zwischen Faust und Helena herbeizuführen, ist Aufgabe des Mephistopheles : er ist dazu innerlich durch seine Neigung, alles zu fördern, was seiner eigenen lüsternen Natur entspricht, äufserlich durch seine Annahme einer antiken Formgestaltung trefflich geeignet; der Dichter kann ihn in dieser Gestalt als Schaffnerin verwenden, die von Menelaos während der Abwesenheit der Helena ihr Amt erhalten hat und der heimkehrenden Königin daher unbekannt sein mufs. Indem aber der Dichter den angesponnenen Faden des Gegensatzes der in der Galatea der klassischen Walpurgisnacht, jetzt in der Helena erscheinenden höchsten Schönheit und der von Mephistopheles eben dort aufgefundenen und sich angeeigneten höchsten Häfslichkeit weiter fortspinnt und den natürlichen Widerwillen der beiden Erscheinungsformen gegeneinander, besonders aber der Häfslichkeit gegen die Schönheit benutzt, gewinnt er in dieser Eigenschaft der Häfslichkeit der Phorkyas, unter der sich Mephistopheles verbirgt, zugleich ein höchst wirkungsvolles Förderungsmittel für die lebhafte dramatische Ausgestaltung der Handlung selbst.

Der Prolog. (V. 8488-8637.) 

Es kommt darauf an, Helena zu veranlassen, ihre natürliche Heimat aufzugeben: zu diesem Zwecke läfst sie der Dichter, der sie vom Strande des Meeres herkommend einführt, ihr Haus unter eigentümlichen Verhältnissen betreten. Diese legt sie selbst in dem Prologe dar, mit dem der Dichter die nach Möglichkeit in der Form der antiken Tragödie verlaufende Handlung einleitet.

Die Wiederbelebung Helenas und ihrer ganzen Umgebung hat so stattgefunden, dafs die Anknüpfung an die geschichtliche Existenz auf dem Meere während der Heimfahrt eintritt. Auf ihr hat der Gemahl sie selten angesprochen: er safs ihr gegenüber »als wenn er Unheil sänne«. Nun, nach der Landung, hat er sie in die Heimat vorausgeschickt, um das Haus zu mustern und ein Opfer vorzubereiten: »aber nichts Lebendigen Atems zeichnet mir der Ordnende, Das er, die Olympier zu verehren, schlachten will.« Mit Recht findet sie das bedenklich: »Doch ich sorge weiter nicht, Und alles bleibe hohen Göttern heimgestellt, Die das vollenden, was in ihrem Sinn sie deucht.« Zugleich tröstet sie sich mit dem Gedanken, dafs schon manchesmal das schwere Beil über dem Nacken des Opfers erhoben war, als durch »Des nahen Feindes oder Gottes Zwischenkunft« der Streich noch gehemmt wurde. In dieser bangen ahnungsvollen Stimmung betritt sie das Königshaus : »Die Füfse tragen mich so mutig nicht empor Die hohen Stufen, die ich kindisch übersprang.«

In der ersten Fassung der Helenadichtung aus dem Jahre 1800, wie sie jetzt in den »Lesarten« der Weimarer Ausgabe abgedruckt ist (Bd. 15, 2 S. 72 ff.), ist neben mancherlei Abweichungen im Ausdruck, die uns die Sorgfalt der späteren Überarbeitung deutlich erkennen lassen, ein Wesensunterschied : die erste Rede der Helena geht ununterbrochen bis zu V. 85 (==V. 8590). In der jetzigen Fassung tritt eine zweimalige Unterbrechung durch den Chor ein, an die sich am Schlüsse der Rede eine dritte Strophe des Chors reiht, worauf erst die in der ersten Fassung ganz fehlenden Verse 8604—8609, die Selbstermutigung der Königin , das Haus wieder zu betreten, folgt. Dieses Eintreten des Chores dient nicht nur zur Belebung der Situation, führt nicht nur die ihn bildenden Begleiterinnen der Helena mitthätig ein : das Wichtigste ist, dafs der Chor den das ganze Helenadrama beherrschenden Gedanken der alles überwindenden Schönheit der Königin, der aus dem Munde der Helena nur klagend ertönen kann, mit vollstem Klange rühmend hervorhebt. Von jeder Anregung zum Reden kehrt der Chor stets zu diesem Gedanken zurück, der hierdurch von vornherein vom Dichter als der mafsgebende, der das Schicksal der Helena gestaltende, herausgestellt wird: ist er doch auch der Grund dafür, dafs Helena überhaupt wieder-

erscheint. Hat Helena darüber geklagt, dafs, seit der phrygische Räuber sie ergriff, vieles geschehen ist, was der Ruf unter den Menschen gerne verbreitet, was »aber der nicht gerne hört, Von dem die Sage wachsend sich zum Märchen spann« (oder wie es früher hiefs : » Von dem der Fabeln seltenste den Ursprung nahm«), so warnt sie der Chor, das, was den Raub und den Ruf bei den Menschen veranlafst hat, nicht gering zu schätzen: »Verschmähe nicht, o herrliche Frau, Des höchsten Gutes Ehrenbesitz ! Denn das gröfste Glück ist dir einzig beschert : Der Schönheit Ruhm, der vor allen sich hebt. Dem Helden tönt sein Name voran, Drum schreitet er stolz, Doch beugt sogleich hartnäckigster Mann Vor der allbezwingenden Schöne den Sinn!« — eine Wahrheit, die sich gerade im Verlaufe des Helenadramas in entschiedenster Weise bewährt und deren Hervorhebung hier später Eintretendes vorbereitet und begreiflich macht. Hat Helena die Worte des Menelaos erwähnt, sie solle sich »der Schätze reiche Sammlung« von der Schaffnerin zeigen lassen, so fordert der Chor sie zur Schmückung mit den Schätzen auf, um den Kampf zwischen Schönheit und Schmuck zu sehen: Erquicke nun am herrlichen Schatz, Dem stets vermehrten, Augen und Brust! Denn der Kette Zier, der Krone Geschmuck, Da ruhn sie stolz und sie dünken sich was; Doch tritt nur ein und fordre sie auf, Sie rüsten sich schnell. Mich freuet zu sehn Schönheit in dem Kampf Gegen Gold und Perlen und Edelgestein.« Und wie Helena davon spricht, dafs ein Gott vielleicht das schon zugerüstete Opfer noch hemmen kann, fordert der Chor sie auf, guten Mutes zu sein : auch er selbst war in gröfster Not und ist zum höchsten Glücke, in ihr das Schönste zu sehen, gerettet worden: »Brannte doch Troja, sahen wir doch Tod vor Augen, schmählichen Tod ; Und sind wir nicht hier Dir gesellt, dienst- bar freudig, Schauen des Himmels blendende Sonne Und das Schönste der Erde, Huldvoll, dich, uns Glücklichen!« So zeigt sich der Grund der Einschiebung klar : er zeigt aber auch, wie der Dichter eifrigst bedacht war, bei der endlichen Einfügung des ursprünglich gesondert bestandenen Teiles den Gesichtspunkt möglichst zu betonen, der dieses einzelne Glied zu einem Wesensbestandteil des Ganzen machte.

Den Abschlufs des Prologes bildet der Jubelgesang des Chores, der das Glück der Herrin preiset, die »zu Vaterhauses Herd freudig herantritt, der die Götter preiset, die glücklich heimführen : so hat auch sie ein Gott hierher zurückgebracht. Je heller der Jubel erklingt, um so wirkungsvoller erscheint ihm gegenüber der Schrecken, der mit dem Eingreifen der Phorkyas in die Entwickelung auftritt. Mit ihm beginnt die Handlung selbst, die sich in fünf Einzelhandlungen gliedert, so dafs die Episode als Ganzes für sich betrachtet den Eindruck eines wohlgebauten und wohlgegliederten Dramas macht.

Erste Handlung. (V. 8638—9126.) 

Während des Chorgesanges ist Helena in das Haus getreten : nun kehrt sie heftigen Schrittes zurück. Nicht gemeine Furcht berührt ihr Herz : aber hier ist ihr, wie sie glaubt, das dem Schofse der alten Nacht, dem Chaos, entsteigende Entsetzen entgegengetreten. Dieses regt in ihr jetzt schon den Gedanken an, der später Thatsache wird: »So haben heute grauenvoll die Stygischen Ins Haus den Eintritt mir bezeichnet, dafs ich gern Von oft betretner, lang' ersehnter Schwelle mich, Entlass'nem Gaste gleich, entfernend scheiden mag.« Sie hat die Schaffnerin gesehen : sie ruft die Alte zur Arbeit auf; diese bleibt sitzen, »Nur endlich rührt sie auf mein Dräun den rechten Arm, Als wiese sie von Herd und Halle mich hinweg.« Helena will zum Thalamos: da springt jene auf und vertritt ihr gebieterisch den Weg. So beginnt Mephistopheles sofort mit der Lösung seiner nächsten Aufgabe, der Königin den Aufenthalt hier zu verleiden um ihre Entfernung aus dem Hause zu veranlassen. Aber die schreckliche Gestalt tritt nun sogar aus dem Hause hervor ans Licht: hier glaubt Helena Meister zu sein; sie, die Schöne, steht unter dem Schutze des Schönheitsfreundes Phöbus, der die grausen Nachtgeburten verdrängt oder bändigt. Der gehoffte Schutz versagt jedoch : Phorkyas- Mephistopheles scheut das Licht nicht.

Von dem entsetzlichen Anblick angeregt, hebt der Chor einen neuen Gesang an : er hat viel des Schrecklichen gesehen; er hat den Brand Trojas erlebt und bei der Flucht wie im Traume die Riesengestalten der gräfslich zürnenden Götter durch Rauch und Glut, durch düsteren, feuerumleuchteten Qualm hin erblickt: nun aber sieht er das Gräfsliche, so dafs er es mit Händen greifen könnte. Er möchte die Erscheinung mit einer der Töchter des Phorkys vergleichen oder als eine der Graien erkennen. Aber unfafsbar bleibt es ihm, dafs dies Scheusal neben der Schönheit sich vor dem Kennerblick des Phöbus zu zeigen wagt. Er freilich schaut weg, »Doch uns Sterbliche nötigt, ach, Leider trauriges Mifsgeschick Zu dem unsäglichen Augenschmerz, Den das Verwerfliche,
Ewig -Unselige Schönheitliebenden rege macht.« So erscheint auch hier wieder beim Chor der ästhetische Charakter des Urteils als der beherrschende : das griechische Altertum ist von Schönheitstrunkenheit erfüllt und wirkt damit so überwältigend siegreich, dafs selbst die gefangenen Trojanerinnen sich diesem Kultus des Schönen beugen und nichts Höheres kennen. Er wird der Grund dafür, dafs sie sich wie drohend und scheltend gegen den Ausbund an Häfslichkeit wenden, der ihrer Königin entgegengetreten ist, und veranlafst dadurch den Charakter, den Handlung und Gespräch nun annehmen.

Mit diesen Scheltworten hat Phorkyas den Ton anschlagen hören, den sie mit Freuden aufnimmt: der immer auf Lüsternheit sinnende Mephistopheles setzt auch bei anderen dieselben Empfindungen voraus; so richten sich seine Schmähungen gegen die Lüsternheit der Mädchen, ein Vorhalt, der diese um so empfindlicher treffen und kränken mufs, als sie in der That den elementaren Naturtrieben am liebsten Folge leisten. An ihrer Schönheit kann er nichts aussetzen : da spricht er ihnen die Schamhaftigkeit ab und schmäht sie als mannlustige, verführte und verführende, die Kraft des Kriegers wie des Bürgers entnervende Schar, als eroberte, marktverkaufte, vertauschte Ware : sind sie das bisher noch nicht wirklich gewesen, so liegt die Möglichkeit dazu in ihrer Stellung als Sklavinnen : als solche sind sie Ware, die jeden Augenblick auf den Markt kommen kann. Um ihre Worte recht bitter zu machen, spricht Phorkyas so, als ob diese Möglichkeit schon Thatsache wäre. Den Tadel der Königin weist Phorkyas mit der Bitte zurück, sie, die Alte, vor dieser Schar zu schützen, die neben »der Schönheit Schwane, der Helena, »Nur schlecht befittigt, schnatterhafte Gänse sind«. Hieraus entspinnt sich ein von wichtigen Folgen begleitetes heftiges Zwiegespräch zwischen der Phorkyas und den einzelnen Mädchen : die der Königin an Vornehmheit der Gesinnung am nächsten stehende Chorführerin Panthalis begnügt sich zuerst, die Häfslichkeit neben der Schönheit zu betonen : die leidenschaftlichen anderen Mädchen werden durch die Schmähungen der Phorkyas schwer getroffen, die wiederholt auf ihre gespenstische Natur hinweist: »Zum Orkus hin! Da suche deine Sippschaft auf!« ruft sie den wieder belebten Schattenbildern zu ; diese sind im Orkus nach Blut lüstern : Blut verleiht den Schattenbildern wieder körperliches Leben und mit ihm Erinnerung, wenn auch nur auf kurze Zeit, wie es beim Besuche des Odysseus in der Unterwelt geschah. Da endlich bricht die Chorführerin in die Drohung aus, sie wolle sagen, wer die Phorkyas wirklich ist : sie, das dämonisch wiedergeschaffene Wesen, erkennt in der Phorkyas die feindselige dämonische Natur. Das bestätigt diese, den Vorhalt zurückgebend, mit den Worten: »So nenne dich zuerst! Das Rätsel löst sich auf« — beide sind dämonische Naturen, wenn auch von sehr verschiedener Art : so hat keines dem anderen etwas vorzuwerfen. Dieser Zwist hat aber die Königin selbst über ihren jetzigen Zustand in Verwirrung gesetzt : die aufgerufenen Schreckgestalten unseliger Bilder umdrängen sie, so dafs »ich selbst zum Orkus mich Gerissen fühle, vaterländ'scher Flur zum Trutz. Ist's wohl Gedächtnis ? War es Wahn, der mich ergreift? War ich das alles? Bin ich's? Werd' ich's künftig sein, Das Traum- und Schreckbild jener Städteverwüstenden?« Diese Zweifel über die Art ihres Daseins benutzt Phorkyas- Mephistopheles sofort, um ihr die Reihe der »Liebesbrünstigkeit vorzuführen, denen allen sie gefolgt ist; ja, als »doppelhaft Gebild« soll sie zugleich in Ilios und in Ägypten gesehen worden sein: das verwirrt Helena im höchsten Grade: »Selbst jetzo, welche denn ich sei, ich weifs es nicht.« Und auf den Hinweis, dafs Achill sich ihr aus hohlem Schattenreich herauf inbrünstig gesellt habe, erwidert sie: »Ich als Idol, ihm dem Idol verband ich mich. Es war ein Traum, so sagen ja die Worte selbst. Ich schwinde hin und werde selbst mir ein Idol.« So wird dem Miterleber das Bewufstsein, dafs die wie geschichtlich auftretende Helena doch nur ein künstliches Gebilde, eben das Ergebnis der klassischen Walpurgisnacht sei, hier zu Anfang der Handlung selbst recht klar ins Gedächtnis gerufen : ein solch Gebilde kann aber auch in seine Bestandteile sich wieder auflösen und so dahinschwinden. Hier ist die Gefahr, dafs dies geschehe, sehr grofs : aber noch ist die rechte Zeit dafür nicht gekommen. Die Herbeiführung dieser Gefahr ist aber hier ein wohlbedachtes Vorbereiten auf das, was später wirklich geschieht und was dann nicht mehr erstaunen kann, wenn es Thatsache wird, nachdem es hier schon bis an die nächste Grenze der Thatsache gelangt ist, und zwar so, dafs die Veranlassung schon durch einfache Erinnerung an die frühere Existenz herbeigeführt worden ist.

Mit ihrem Hervorheben dieser alten Ereignisse hatte Phorkyas nichts Anderes bezweckt , als Helena für den ihr bevorstehenden neuen Liebesbund gefügig zu machen: je klarer ihr die früher so oft bewiesene Gefügigkeit dem ihre Schönheit verehrenden Manne gegenüber in der Erinnerung auftaucht, um so weniger Schwierigkeit wird sie der Zumutung einer neuen Verbindung machen. Aber Phorkyas ist in ihrem Eifer zu weit gegangen : Helena darf jetzt noch nicht sich auflösen, ehe sie mit Faust sich verbunden hat. So lenkt Phorkyas ein, zumal auch der Chor sich aufs Bitten legt: »Schweige, schweige! Dafs der Königin Seele, Schon zu entfliehen bereit, Sich noch halte, festhalte Die Gestalt aller Gestalten, Welche die Sonne jemals beschien.« Für den Chor, der nicht ahnt, welches die Aufgabe der Wiederbelebung der Helena ist und weshalb sie hier noch nicht scheiden darf, ist für seine Bitte der Grund mafsgebend, dafs das Schönste, was es je gegeben hat, so lange wie möglich der Welt erhalten bleibe, in der es allein zur Geltung kommen kann.

So begrüfst nun Phorkyas, in ganz anderem Tone redend als bisher, die aus ihrer Ohnmacht erwachende Helena als die aus flüchtigen Wolken hervortretende Sonne dieses Tages : schilt man sie selbst auch für häfslich, so kennt sie doch das Schöne wohl. Helena, noch erschöpft von der Öde, die im Schwindel sie umgab, weifs sich rasch wieder königlich zu fassen, und auf die demütige Frage der Phorkyas, was sie befehle, knüpft Helena nun wieder an den Willen des Königs an, den auszuführen sie vorausgesendet ist: das Opfer soll vorbereitet werden. Da enthüllt ihr Phorkyas das Geheimnis und spricht das entscheidende Wort: Helena ist das Opfer, sie wird durch das Beil fallen ; die Mädchen des Chores aber, wie Phorkyas-Mephistopheles im Behagen wollüstiger Grausamkeit hinzufügt, werden jämmerlich aufgehenkt werden : »Sie stirbt einen edlen Tod ; Doch am hohen Balken drinnen, der des Daches Giebel trägt, Wie im Vogelfang die Drosseln, zappelt ihr der Reihe nach.«

Diese unerwartete Enthüllung überrascht und entsetzt Helena und den Chor so, dafs sie »erstaunt und erschreckt« stumm dastehen : da verhöhnt sie Phorkyas-Mephistopheles : sie sind nichts als Gespenster, führen nur ein künstliches Dasein und sind doch so entsetzt bei dem Gedanken, es aufgeben zu müssen, »vom Tag zu scheiden , der euch nicht gehört« , und in ihren bisherigen Zustand in die Unterwelt zurückzukehren. Die natürlich entstandenen Menschen sind nach der Anschauung des eines ewigen Lebens geniefsenden Teufels zwar auch nicht anders denn als Gespenster zu bezeichnen : auch sie haben nur flüchtig eine ihnen nicht gehörende, nur geliehene Gestaltung angenommen, die sie wieder verlassen müssen, ungern, doch ohne Rettung. Aber sie wissen wenigstens, was ihr Los ist, und erstaunen sich daher nicht, wie es jetzt Helena und die Mädchen thun, die durch ihre künstliche Neubelebung an die Dauer ihres Daseins auf Erden weit weniger Recht haben als die natürlich entstandenen Menschen. Will aber Phorkyas -Mephistopheles seinen Zweck erreichen , so mufs er Ernst machen : er läfst durch Teufelchen , die als Zwerggestalten auf seinen Ruf erscheinen, das Opfer zurichten. Während die Königin gefafst und sinnend dasteht, flehen die Mädchen um Rettung. Schliefslich fragt auch Helena, ob diese möglich sei. Nun weifs
Phorkyas-Mephistopheles durch Schilderung des fremden Geschlechtes , das sich mit seinem Fürsten im Gebirg angesiedelt hat, durch Beschreibung der Burg und ihrer Bewohner, deren ver- lockendes Wesen er hervorhebt, um das Gelüste der tanzfrohen und tänzerbegierigen Mädchenschar rege zu machen, zunächst die Mädchen, dann auch Helena zu bestimmen, ihm zu folgen. Als Helena immer noch zögert, regt er in ihr Furcht vor dem rachedürstenden Menelaos an , und wie auch jetzt das entscheidende Wort noch nicht fällt, müssen in der Ferne Trompeten ertönen : Menelaos ist im Anrücken — noch ein Augenblick des Zögerns, und es ist zu spät. Da endlich, obgleich sie in Phorkyas den »Widerdämon« empfindet, erklärt sich Helena bereit zu folgen. Aber es ist nicht nötig, dafs sie sich entfernt : es geschieht, wie es Phorkyas - Mephistopheles ihr versprochen hat: »Sogleich umgeb' ich dich mit jener Burg.« Während des Chorgesanges verbreiten sich Nebel : wie diese schwer und düster sie umgeben, fürchten die Mädchen, es möchte vielleicht nun wieder in die Unterwelt hinabgehen : in ihnen ist das Bewufstsein immer klarer geworden, welcher Art ihre Natur ist, und sie erinnern sich jetzt deutlich mit Schrecken des unerfreulichen Zustandes in der Unterwelt, eine Empfindung, die gerade bei den Mädchen später von entscheidender Bedeutung wird : um so wichtiger ist es , dafs sie in ihnen schon jetzt recht deutlich und lebendig hervortritt. So fragen sie ängstlich: »Schwebt nicht etwa gar Hermes voran? Blinkt nicht der goldne Stab Heischend, gebietend uns wieder zurück Zu dem unerfreulichen , grautagenden, Ungreifbarer Gebilde vollen , Überfüllten , ewig leeren Hades?« Die Bangigkeit verläfst sie selbst dann nicht, wie die Nebel schwinden: sie sehen die Mauern und wähnen sich nun erst recht in schlimmer Lage : »Schauerlich in jedem Falle! Schwestern, ach! wir sind gefangen, So gefangen wie nur je!«

Zweite Handlung (V. 9127 —9418). 

Allein die Mädchen haben sich getäuscht und müssen darüber von der Chorführerin , die auch hier wieder als in ihrer Denk- und Empfindungsweise weit vornehmer und der Königin näher stehend erscheint, bittere Worte hören : ihr gegenüber sind die Mädchen wie eine dem niedren stofflichen Wesen kaum entwachsne Masse, deren wenig ausgebildetes geistiges Leben jedem äufseren Eindruck leicht ohne Überlegung nachgiebt : » Vorschnell und thöricht, echt wahrhaftes Weibsgebild ! Vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung, Des Glücks und Unglücks, keins von beiden wifst ihr je Zu bestehn mit Gleichmut.« Die weibliche Natur tritt in ihrer ungeklärten elementaren Gebahrung in ihnen auf — ein Charakterzug, den der Chor bis zum Schlüsse bewahrt und bewährt. Helena fragt vergeblich nach der Phorkyas , und schon »regt in Menge sich allbereits In Galerien, am Fenster, in Portalen rasch, Sich hin und her bewegend viele Dienerschaft; Vornehm- willkommnen Gastempfang verkündet es.« Da geht auch dem Chor das Herz auf: mit elementarer Kraft bricht die Geschlechtsfreudigkeit beim Anblick der »jungholdesten Schar«, des herrlichen Volkes von »Jünglingsknaben« hervor: die Mädchen sind ganz Bewunderung und können »der Wänglein Paar, wie die Pfirsiche rot Und eben auch so weichwollig beflaumt« nicht sehen ohne die Lustanwandlung hineinzubeifsen : aber da warnt sie die Erinnerung an das eigne dämonische Wesen : sie könnten auch hier solches finden und bei der Berührung den widerwärtigen Kern zu kosten bekommen. So war es in der klassischen Walpurgisnacht dem Mephistopheles mit den Lamien ergangen.

Inzwischen wird ein Zeltthron gebaut, Helena auf den herrlichen Pfühl eingeladen : da erscheint auch schon Faust selbst. Aber »Statt feierlichsten Grufses, wie sich ziemte, Statt ehrfurchtsvollem Willkomm bring' ich dir, In Ketten hart geschlossen, solchen Knecht, Der, Pflicht verfehlend, mir die Pflicht entwand.« Der Turm-Wächter Lynkeus, der sonst gewöhnt ist, dem Luchse gleich zu sehen , hat ihre Ankunft nicht gemeldet : »Freventlich verwirkt Das Leben hat er, läge schon im Blut Verdienten Todes; doch nur du allein Bestrafst, begnadigst, wie dir's wohlgefällt.« Lebendiger und überzeugender konnte die allsiegende Schönheit Helenas nicht eingeführt werden, als durch diese Wirkung ihrer Erscheinung: sie besiegt jeden, der sie sieht, den Diener, der von ihr geblendet seines Amtes vergifst, den Herrn, der sich seines Rechtes, zu strafen oder zu begnadigen, begiebt und die Entscheidung in die Hand der fremden, aber schönen Frau legt. Als Richterin hört sie jedoch zuerst den Beklagten an, der dieser gottgegebenen Frau schon hingegeben ist und gerne jedes Geschick aus ihrer Hand empfängt. Da hört sie von ihm: »Harrend auf des Morgens Wonne, Östlich spähend ihren Lauf, Ging auf einmal mir die Sonne Wunderbar im Süden auf.« So ist es der Anblick dieser neuen Sonne selbst, die ihn seine beschworenen Pflichten vergessen läfst: aber mag sie ihn auch vernichten, er erträgt es geduldig: »Schönheit bändigt allen Zorn.«

Es kommt nun für den Dichter darauf an, diese Entwickelung an Träger der Handlung zu knüpfen, die er zugleich dramatisch verwerten kann. Indem er diese Epochen an uns vorüberziehen läfst, kommt er dem schliefslichen Ziele des Fortganges immer näher : es wird erreicht, sobald diese Entwickelung zum Ende, also bis zum Zeitalter Fausts, fortgeführt ist.

Zunächst tritt der freigesprochene Lynkeus auf. Er erscheint als Vertreter der Völker, die vom Osten herankamen und den Westen eroberten , in langem Zuge , so dafs der Erste vom Letzten nichts wufste : die Völkerwanderung vollzieht sich. Jeder greift nach dem Besitze, der ihm am meisten zusagt : er, Lynkeus selbst, war den Schätzen, »dem Seltensten, was man gesehn«, auf der Spur: kein Versteck konnte sich seinem alldurchdringenden Blicke verschliefsen. Jetzt bringt er den allergröfsten Schatz heran, um ihn ihr zu Füfsen zu legen: »Denn du bestiegest kaum den Thron, So neigen schon, so beugen schon Verstand und Reichtum und Gewalt Sich vor der einzigen Gestalt.« Früher hat er das alles für wertvoll gehalten: nun sieht er, dafs es nichtig war. Aber sie kann ihm den verlorenen Wert aufs neue verleihen: »O gieb mit einem heitern Blick Ihm seinen ganzen Wert zurück.« Aber Lynkeus findet bei Faust keinen Dank: »Schon ist Ihr alles eigen , was die Burg Im Schofs verbirgt : Besondres Ihr zu bieten Ist unnütz 1« So soll ergehen und im Inneren des Schlosses zu ihrem Empfange alles herrlich schmücken. Und dem begeisterten Diener ist das Schwerste wie ein Spiel : »Herrscht doch über Gut und Blut Dieser Schönheit Übermut. Schon das ganze Heer ist zahm, Alle Schwerter stumpf und lahm, Vor der herrlichen Gestalt Selbst die Sonne matt und kalt, Vor dem Reichtum des Gesichts Alles leer und alles nichts.« Wie einst bei Homer die Schönheit der Helena ihre ergreifendste Schilderung durch die Wirkung fand, die sie auf die trojanischen Greise ausübte, so geschieht es hier durch den Sieg, den sie über alle, hoch und niedrig, durch ihr blofses Erscheinen erringt.

Im Prolog und in der ersten Handlung bewegt sich die Rede ausschliefslich in antiken Mafsen, im jambischen Trimeter und im trochäischen Tetrameter. Auch die zweite Handlung beginnt mit dem Trimeter, bis Faust auftritt: er spricht im jambischen Fünffüfsler, dem heroischen Verse der neueren Tragödie. Diesem Mafse schliefst sich die Rede der Helena ohne Schwierigkeit sofort an : die Bewegung des Versmafses bleibt gleicher Art, nur die Zahl der Füfse ändert sich. Nun hört Helena Lynkeus reden : mit dem Reime tritt ein neuer Grundsatz in die Versform, den sie wohl fühlt, aber nicht erfafst. Dies wird für den Dichter ein erwünschtes und höchst reizvoll durchgeführtes Mittel, um die allmähliche Annäherung der Helena an Fausts Epoche recht fühlbar zu machen : Faust führt sie in die Sprechart seiner Völker ein, indem er die Reimform aus der Wechselrede hervorgehen läfst : erst ergänzt er das Reimwort, dann ergiebt es sich im Munde der Helena als der natürliche Schlufs der angefangenen Rede von selbst. Und wie die Form ihres Sprechens in den Einklang aufgeht, so geht es auch mit dem Inhalte des Gesprochenen. Faust: »Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, Die Gegenwart allein — Helena : ist unser Glück. Faust : Schatz ist sie, Hochgewinn, Besitz und Pfand; Bestätigung, wer giebt sie? Helena: Meine Hand.« So feiern sie ihre Vereinigung, hier gleichsam erst die Verlobung : beiden fällt es noch schwer, das Glück der Vereinigung als ein wirkliches zu empfinden. So sagt Faust: »Es ist ein Traum, verschwunden Tag und Ort,« und Helena: »Ich scheine mir verlebt und doch so neu , In dich verwebt, dem Unbekannten treu.« Da findet Faust das rechte Wort für diese seltene Lage: »Durchgrüble nicht das einzigste Geschick, Dasein ist Pflicht, und wär's ein Augenblick.«

Dritte Handlung (V. 9419—9573). 

Bei dieser vorläufigen Vereinigung darf es indessen nicht bleiben: die Verbindung mufs wirklich vollzogen werden. Zugleich aber mufs auch die Zeit des Mittelalters wirklich bis zu Fausts Zeiten fortgeführt werden — zwei Aufgaben , die der Dichter gemeinsam in lebendigster Handlung löst. Die Anregung zur entscheidenden Verbindung giebt Phorkyas-Mephistopheles: wie das Herannahen des Menelaos die Helena zum entscheidenden Entschlüsse gebracht hat, sich zu dem fremden Burgherrn zu retten, so wird sein Bemühen dem neuen Räuber die kaum zurückgewonnene und nun schon wieder entrissene Beute abzujagen der Grund, auch jetzt den entscheidenden Schritt zu thun. Faust, im Vollgefühle seiner Macht, ruft seine Helden herbei, denn: »Nur der verdient die Gunst der Frauen, Der kräftigst sie zu schützen weifs.« Die stahlbepanzerten Ritter treten auf: sie sollen Menelaos auf das Meer zurücktreiben. Zum Lohne dafür sollen sie als Herzoge Vasallen der Königin von Sparta werden, deren verjährter Sitz sie alle überthronen soll. Von Korinth, dem beherrschenden Punkte des Isthmus, der gegen Norden abgesperrt werden soll, ausgehend und systematisch nach Westen, dann nach Süden, schliefslich nach" Osten sich wendend, verteilt nun Faust alle Länder rings um Sparta : der Germane soll »Korinthus' Buchten« verteidigen; der Gote erhält das nördliche Land der Halbinsel, das sich an den Isthmus nach Westen zu anschliefst, Achaja ; die Franken sollen in das nächstfolgende Gebiet, das den Nordwesten des Peloponnes bildende Elis ziehen, die Sachsen das südwestliche Messene besetzen. Der meerkundige Normann erhält Argolis, im Nordosten. So bleibt Sparta als das Herrscherland übrig, und aufser ihm noch Arkadien, der uralte Schauplatz friedlichen Glücks : dies Land wird Sitz und Symbol der Vereinigung von Faust und Helena. So werden für die Durchlebung des Mittelalters die Kreuzzüge mit ihrem glänzenden Rittertum, die Gründung des lateinischen Kaiserreichs mit seinen Vasallenstaaten, das Vorbild der frei, dem Sinne der Dichtung gemäfs, verwendeten Besitznahme des Peloponnes durch das mittelalterliche Rittertum des Landes und Stammes, dem Faust selbst entsprossen ist, das alte Hirtenland Arkadien aber das Ausdrucksmittel für das weltverschlossene eheliche Liebesglück des neuen Paares. Hier, wo das Wohlbehagen erblich ist, wo alle Menschen frisch und gesund sind, so dafs die staunende Frage sich erhebt, »ob's Götter, ob es Menschen sind«, waltet die Natur selbst in schönster Weise, und »wo Natur im reinen Kreise waltet, Ergreifen alle Welten sich; : hier hört der Unterschied von Zeit und Abstammung auf. Da darf Faust sagen : »So ist es mir, so ist es dir gelungen, Vergangenheit sei hinter uns gethan.« Jetzt soll auch die Burg sie nicht länger umgeben : »Noch zirkt in ewiger Jugendkraft Für uns, zu wonnevollem Bleiben, Arkadien in Spartas Nachbarschaft. Gelockt auf sel'gem Grund zu wohnen , Du flüchtetest ins heiterste Geschick ! Zur Laube wandeln sich die Thronen, Arkadisch frei sei unser Glück!« So ist das Ziel erreicht: die Vergangenheit ist abgethan ; Helena ist vollständig in die Zeit Fausts übergegangen und ist sein geworden : Es fragt sich nun, ob jetzt, da die Handlung ihren Höhepunkt erreicht hat, damit auch ein Zustand gewonnen ist, der Faust die ersehnte Befriedigung gewähren kann. Mit dieser Beziehung zu dem Hauptziele der Gesamtdichtung ordnet sich die Einzelhandlung der Episode als Glied in den grofsen Gang der Haupthandlung.

Die vierte Handlung (V. 9574—9938). 

Der in der dritten Handlung erreichte Höhepunkt ist nun aber auch der Wendepunkt : ist das gewonnene eheliche Glück ein echtes, so mufs es sich auch in seiner Wirkung bewähren; diese aber mufs ihren Ausgang eben von dem erreichten Höhepunkt selbst, der ehelichen Vereinigung, nehmen. Die Wirkung bleibt auch nicht aus : sie bereitet aber nicht Befriedigung, sondern nur Sorge und Qual , und schliefslich den herbsten Schmerz. Damit ist über die Wirkung der Vereinigung Fausts mit Helena in Bezug auf die Erreichung höchster seelischer Befriedigung das Urteil gesprochen : auch diese Episode hat Faust das ersehnte Ziel nicht erreichen lassen, und es bleibt ihr nichts Anderes übrig, als aufzuhören, um einem neuen Versuche Platz zu machen. Die dramatische Gestaltung der Wirkung der ehelichen Verbindung Fausts mit Helena und ihrer Nichtbefriedigung ist die Aufgabe der vierten Handlung des Helenadramas.

Der Verbindung Fausts mit Helena entspringt ein Sohn : sowie die Mutter ein Wesen dämonischer Natur ist, so ist es auch das Kind. Seine Ausbildung im Mutterschofs, seine Geburt, sein Heranwachsen entziehen sich daher dem regelmäfsigen Verlaufe der natürlichen Gesetze. Dies verkündet Phorkyas, die die Mädchen des Chores in einem schattigen Haine, der an Felsen anstöfst, schlafend findet: »Wie lange Zeit die Mädchen schlafen, weifs ich nicht.« Während ihres kurzen Schlafes hat sich alles ereignet, was Phorkyas den von ihr Erweckten erzählt. Sie allein durfte in den Grotten dem idyllischen Liebespaare dienen. Sie entfernt sich, um sie allein zu lassen ; plötzlich hört sie ein Gelächter in den Höhlenräumen : »Schau' ich hin, da springt ein Knabe von der Frauen Schofs zum Manne, Von dem Vater zu der Mutter . . . Nackt, ein Genius ohne Flügel , faunenartig ohne Tierheit, Springt er auf den festen Boden : doch der Boden gegenwirkend Schnellt ihn zu der luft'gen Höhe, und im zweiten, dritten Sprunge Rührt er an das Hochgewölbe. « Vater und Mutter sind voll Angst. Da verschwindet er in einer Felsspalte. »Und nun scheint er uns verloren, Mutter jammert, Vater tröstet, Achselzuckend steh' ich ängstlich.« Doch er erscheint wieder: » Blumenstreifige Gewände hat er würdig angethan« : in der Hand trägt er die goldene Leier, »völlig wie ein kleiner Phöbus«. Nun sind die Eltern entzückt. Aber ihm zu Haupten leuchtet's: Was erglänzt, ist schwer zu sagen, Ist es Goldschmuck, ist es Flamme übermächtiger Geisteskraft? Und so regt er sich gebärdend, sich als Knabe schon verkündend Künftigen Meister alles Schönen, dem die ewigen Melodieen Durch die Glieder sich bewegen ; und so werdet ihr ihn hören, Und so werdet ihr ihn sehn zu einzigster Bewunderung.« Aber die Mädchen wundern sich gar nicht: auch solch ein Ereignis ist nicht ohne Vorbild, und so erstaunt es nicht, dafs das schon Dagewesene sich wiederholt. Die der antiken Welt angehörenden und in deren Anschauungsweise verbleibenden Mädchen denken an »Hellas' Urväterlicher Sagen Göttlich heldenhaften Reichtum : Alles, was je geschieht Heutigen Tages, Trauriger Nachklang ist's Herrlicher Ahnherrntage. « Der Sohn der Maja ist hier das Vorbild, und reizvoll schildern die Mädchen , wie der Säugling sich rasch entwickelt, und wie er wachsend seine Schalkheiten ausübt. Aber Phorkyas will von dem Gemeng der alten Fabeln nichts wissen: das will jetzt niemand mehr verstehn, «Denn es mufs von Herzen gehen, Was auf  Herzen wirken soll«. Staunend sehen die Mädchen, wie selbst das »fürchterliche Wesen« dem aus der Höhle erklingenden Saitenspiel und der es begleitenden Musik, dem »Schmeichelton«, geneigt ist: sie selbst werden als empfindsamere Wesen von ihm zu Thränen gerührt : wenn es in der Seele tagt, so können sie, mag auch der Sonne Glanz verschwinden, doch im eignen Herzen das finden, was die ganze Welt verweigert. So bringen sie dem Kommenden ihr ganzes Herz entgegen, ja, sie sind selbst so ganze Empfindung, dafs sie sein Schicksal mit erleben und mit empfinden, als ob es ihr eignes wäre. So sind die Mädchen, »vom Augenblick abhängig, Spiel der Witterung des Glücks und Unglücks«, auch hier dem neuen mächtigen Eindruck sofort willig hingegeben, wie früher dem Entsetzen, so hier der sanften Empfindungsseligkeit, die sie mit elementarer Kraft erfafst und so ganz erfüllt, dafs zeitweilig ihr eigentümliches Wesen hinter dem Mitgefühl mit dem schönen Jüngling ganz verschwindet. Für den Miterleber ist nun aber die Spannung, Euphorion endlich selbst zu sehen, aufs höchste gesteigert.

Euphorion, von einer dämonischen Mutter in der Zeit ihrer künstlichen Neubelebung empfangen und geboren, gehört der natürlichen Welt, der er durch seinen Vater entstammt, nur insoweit an, als er aus ihr die in ihm verkörperte Idee erhalten hat : die in Helena wirkende, künstlich durch dämonische Kraft geschaffene Lebensenergie ist auch in ihm lebendig und reifst ihn mächtig von der Erde fort, deren vom Vater her stammenden Zusammenhang mit seiner Natur er nur als eine lästige Fessel empfindet. Aber diese in ihm wesende Lebensenergie ist durch die denkbar vollendetste Verkörperung des Ideales der Schönheit hindurchgegangen und hat von ihr das Grundgesetz des Schönen in sein Wesen herübergenommen, so dafs er als der verkörperte Rhythmus, als der Leib gewordene Geist des Schönen selbst erscheint, »dem die ew'gen Melodieen Durch die Glieder sich bewegen«. Allein während das Schöne in seiner Mutter nur in der Erscheinung zu Tage tritt, während sie, dem Wesen des Weibes entsprechend, sich begnügt, das Schöne selbst zu sein, hat er, seiner männlichen Natur gemäfs, den mächtigen Trieb, es aus sich hinauszutragen, es zu schaffen nicht nur an sich und um sich, sondern überall: so wird er von mächtiger Sehnsucht erfafst, in die Weite zu ziehen, aus der beengenden Umgebung sich loszureifsen. Er fühlt die Kraft, aus sich heraus eine neue Welt sich zu bauen, die seiner Vorstellung entspricht und deren ideale Art des Daseins er im Ubermafse der Begeisterung als eine reale betrachtet und danach behandelt : da kann zwischen seiner geträumten realen Welt und der wirklichen realen Welt der Zusammenstofs nicht ausbleiben , in dem er selbst zu Grunde gehen mufs. Die wirklich reale Welt macht bei seiner Auflösung Anspruch auf das ihr angehörende Körperliche ; das Schattenbild geht in den Hades hinab ; das geistige Element, die schöpferische Lebensenergie, die von der Schönheitsoffenbarung, der sie entstammt, den besonderen Charakter schönheitsschaffender Kraft erhalten hatte, kann nun wirklich ungehemmt himmelwärts steigen, geht aber damit zugleich für die Erde verloren.

Dieses geistig-schöpferische Element, das allem das seinem Wesen eignende Schöne aufprägen und das Neugeschaffene als eine neue Welt erscheinen lassen will, ist, im weitesten Sinne gefafst, die Poesie, die die Welt zunächst in der Phantasie des Subjektes schöpferisch umbildende Kraft. So kann man Euphorion als die verkörperte Poesie selbst fassen, und ihn als gleichbedeutend mit dem Knaben Wagenlenker hinstellen, ja selbst, wie es Goethe nach Eckermann gethan haben soll, diesen selbst als Euphorion bezeichnen : mit dieser Gleichstellung nach einer Seite hin wird der Unterschied nach anderer Seite hin nicht aufgehoben. Der Knabe Wagenlenker ist die Poesie im allegorischen Sinne : irgend wer — ein Mensch oder

auch, nach Eckermann, ein dämonisches Wesen — stellt die Poesie dar, ohne sie zu sein und ohne in der körperlichen Erscheinungsform mit ihr übereinzustimmen. Das Auftreten der in dem Knaben Wagenlenker allegorisch dargestellten Poesie hat die Aufgabe, darauf vorzubereiten, dafs der von ihr hergeführte Faust nur mit Anwendung der im Menschen lebendigen poetischen Kraft als das aufgefafst werden kann, als was er, gleichfalls allegorisch, erscheint, als Plutus, als Gott des Reichtums. Hier dagegen erscheint die Poesie als die verkörperte geistige Kraft selbst, nicht als eine bildlich dargestellte : der Körper , in dem sie sich offenbart, ist ihr natürlicher, ihr in Wirklichkeit angeborener Körper, so wie er sich unter den hier als wirklich vorausgesetzten Bedingungen gestalten mufste : er stellt also nicht dar, er ist die Sache selbst, er ist nicht Allegorie und Kunst , er ist Natur , und sein Leben verläuft, dieser Natur entsprechend.

Indem nun der Dichter dieses poetische , also schöpferische geistige Element als Knaben verkörpert auftreten läfst, der seiner dämonischen Natur entsprechend sich rasch, fast zeitlos entwickelt, soweit dieser Gegensatz einer zeitlosen Entwicklung sich vereinigen läfst, gewinnt er die Möglichkeit, in der Entwickelung des Knaben zum reifen Jüngling die Entwicklung der Poesie selbst darzustellen, die, vom einfachsten Lebenskreis ausgehend, mit wachsender Seelen thätigkeit immer neue, immer weitere Gebiete ergreift, die aber, in diesem Immerweitergreifen mafslos geworden, sich Unmögliches zutraut und zu Grunde gehen mufs. Dieses allmähliche, endlich mafslose Hinausgehen über den nächsten engsten Kreis giebt aber dem Dichter eine zweite Möglichkeit: für die dämonische Existenz, die auch dem Euphorion eignet, verschwinden, ebenso wie für das Wesen der Poesie, das zu allen Zeiten dasselbe bleibt, die Grenzen von Zeit und Raum: so gewinnt der Dichter aus dem Wesen der Persönlichkeit selbst, aus seiner körperlichen wie aus seiner geistigen Natur die Möglichkeit, über die Zeit des Faust weiter hinaus bis in seine eigene Gegenwart zu gehen. So durchlebt Faust, indem er den Äufserungen des Euphorion folgt, zugleich noch den Rest der zeitlichen Entwickelung, wie sie bis zu dem Dichter und vor allem bis zu dem Miterleber sich geschichtlich vollzogen hat: ist auch diese Zeit irdischer Entwickelung für das Erreichen seines Zieles ebenso hoffnunglos, wie die Vergangenheit bis zu Faust selbst, dann bleibt für Faust als letzter Versuch nur noch das Eine übrig, sich real eine neue Welt zu bauen, wie es ideal und unter Verkennung der Wirkungsweite seiner angeborenen eignen Kraft Euphorion versucht. So wird dies falsch gestaltete Bestreben des Sohnes der Wegweiser für ein richtiger gestaltetes Handeln des Vaters.

Wenn nun aber Euphorion die verkörperte Poesie ist, wenn er nach dem Wesen seiner Natur über die engen Grenzen seines zufälligen zeitlichen und räumlichen Daseins hinausgreifen kann, wenn er dies so thut, dafs er damit bis in die Zeit des Dichters greift, wenn endlich Euphorion an der Mafslosigkeit seines Strebens durch Voraussetzung der Übereinstimmung seines subjektiven Empfindens mit den objektiven Verhältnissen scheitert, so mufste sich dem stets nach fafsbaren, klar umrissenen Gestaltungen ringenden Dichter als leibhaftiges Gegenbild das Schaffen und

Scheitern seines zeitgenössischen Dichters darbieten: was bei anderen zeitgenössischen Bestrebungen Karrikatur geblieben ist, das erschien hier gewaltig und grofsartig. So erschien Goethe dies Schaffen Byrons als der bedeutsamsten eines, und sein Scheitern ergriff ihn aufs tiefste. Den Grund für dieses Scheitern erklärt Goethe in einem Gespräch mit v. Müller und Riemer (am 13. Juni 1S24 vgl. Biedermann, Gespräche N. 948 : V. S. 93) dahin : »Es ist eben ein Unglück, dafs so ideenreiche Geister ihr Ideal durchaus verwirklichen, ins Leben einführen wollen. Das geht nun einmal nicht; das Ideal und die gemeine Wirklichkeit müssen streng geschieden bleiben. So ist es begreiflich, wie Euphorion zugleich eine Verkörperung des dichterischen Schaffens Byrons wurde, was im Verlauf der Entwickelung Euphorions immer deutlicher hervortritt, und wie sogar Euphorions ideale Körpergestalt endlich einen realen Charakter annimmt: Euphorions zur Erde fallendes Körperliche erscheint als schöner Jüngling, in dem man »eine bekannte Gestalt zu erblicken glaubt« : mit vollster Deutlichkeit aber wird der Trauergesang über das Scheitern des rein idealen Strebens in Euphorion zu einem Trauergesang über Byrons Tod. Der Dichter legt ihn dem Chor der Mädchen in den Mund, deren dämonische Natur vorzüglich geeignet ist, dem geistigen Fluge des Euphorion durch künftige Zeiten zu folgen, zumal er in demselben Lande sein Ende findet, in dem sie eben selbst die rasch vor ihnen vorüberfliehenden Jahrhunderte durchlebt haben.

Euphorion tritt zugleich mit Faust und Helena auf. Noch ist er Kind seinem Wesen nach und singt Kindeslieder. Das entzückt die Eltern, deren edles Zwei« durch die Liebe zu einem »köstlichen Drei- geworden ist : nur Faust scheint die Vergänglichkeit dieses friedlichen idyllischen Zustandes zu ahnen: »Und so stehen wir verbunden, Dürft' es doch nicht anders sein !« Der Chor der Mädchen ist lebhaft von der Hoffnung gerührt , dafs sich auf diesem Paare die Freude langer Zeit »in des Knaben mildem Schein« sammeln werde. Aber schon erwacht in dem Knaben der Jüngling, den die Begierde fafst »Zu allen Lüften Hinauf zu dringen« : inständig bitten die Eltern, dafs er sich mäfsige. Der Chor fürchtet nun , dafs der Verein sich bald löst. Aber der Jüngling läfst sich noch einmal erbitten : »Nur euch zu Willen Halt' ich mich an.' Aber ruhen und rasten kann er nicht : er wird ganz melodische Bewegung. Nun wendet er sich dem Spiele mit den Mädchen zu, die er zu künstlichem Reihen anführt: sie sind entzückt von dem »lieblichen Kind« : »All' unsre Herzen sind All' dir geneigt.« Aber er ist kein Kind mehr: das Spiel mit den Mädchen weckt in dem Jüngling heftige Leidenschaft: er wird der Jäger, sie sind das Wild, und dahin geht die rasende Jagd. Er aber schleppt »von dem ganzen Haufen Nun die Wildeste herbei«. Die Widerstrebende soll die Seine werden: »Mir zur Wonne, mir zur Lust Drück' ich widerspenstige Brust, Küss' ich widerwärtigen Mund, Thue Kraft und Willen kund. Aber auch das Mädchen hat seinen Willen: »In dieser Hülle Ist auch Geistes Mut und Kraft.« Sie entgeht ihm, indem sie auflodert: die künstlich Belebte löst sich in die künstlich verbundenen Bestandteile wieder auf und zeigt ihm so den Weg, den er bald selbst zu sehen hat: »Folge mir in leichte Lüfte, Folge mir in starre Grüfte, Hasche das verschwundne Ziel!' — Da fafst den unbefriedigt Gebliebenen die Sehnsucht in die weite Welt : er springt die Felsen hinauf: »Immer höher mufs ich steigen, Immer weiter mufs ich schaun!' Er sieht sich in Pelops' Land, und der Chor ruft ihm zu : »Ach, in dem holden Land Bleibe du hold! Aber der Blick in die Welt hat ihm ihren wahren Zustand gezeigt : »Träumt ihr den Friedenstag? Träume, wer träumen mag! Krieg! ist das Losungswort.« Er sieht, wie die Eingeborenen ihr Vaterland verteidigen, wie sie ohne Wälle, ohne Mauern kämpfen: »Feste Burg um auszudauern , Ist des Mannes ehrne Brust« , ja selbst »Frauen werden Amazonen, Und ein jedes Kind ein Held!« Der Chor fafst diese Schilderung des immer höher Gestiegenen als Poesie auf: sie möge himmelan steigen, als schönster Stern glänzen, sie erreicht uns doch immer, man hört sie gern. Aber für Euphorion ist, was er sieht, Wirklichkeit, und er will mitthätig in den Kampf treten : er fühlt des Mannes Kraft in sich: ,Nun dort Eröffnet sich zum Ruhm die Bahn.« Er hört den Kampf toben, Und der Tod Ist Gebot, Das versteht sich nun einmal.« Eltern und Mädchen hören das mit Entsetzen, aber »Sollt' ich aus der Ferne schauen? Nein, ich teile Sorg' und Not.' Da wähnt er, ein Flügelpaar entfalte sich, dem er sich im Flug anvertrauen könne, und wirft sich vom Felsen , aber nur seine Gewände tragen ihn einen Augenblick; der Chor sieht in ihm einen Ikarus : als bekannt erscheinender Jüngling stürzt er zu der Eltern Füfsen ; sein Körperliches verschwindet, das geistige Element, die Lebensenergie, die schon sein Haupt als Aureole umstrahlt hatte , steigt wie ein Komet zum Himmel, Kleid, Mantel und Lyra bleiben liegen : das Schattenbild eilt aber in das düstere Reich der Persephone. Eine Stimme ruft mit dringender Bitte aus der Tiefe: »Lafs mich im düstern Reich, Mutter, mich nicht allein!«

Und nun klingt dies erschütternde Dahinscheiden in dem ergreifenden Trauergesang aus, der einen beruhigenden Abschlufs der mächtigen Aufregung bietet, zumal er uns den hoffnungsfrohen Gedanken wachruft, dafs das Schöne doch niemals ganz stirbt: »Doch erfrischet neue Lieder , Steht nicht länger tief gebeugt : Denn der Boden zeugt sie wieder, Wie von je er sie gezeugt.« So führt uns der Gesang von dem einzelnen Falle , der sich schliefslich vorgedrängt hatte , zu der allgemeinen Betrachtung, zu dem über das Einzelne hinaus bleibenden Unvergänglichen zurück und lenkt damit zugleich wieder in den Gang der Handlung ein : auch in ihr hat der einzelne Fall symbolische , all- gemeingültige Bedeutung, die weit über das einzelne Ereignis hinausgreift, die dieses zum Träger umfassenden Geschickes macht. Künstlerisch ist der Trauergesang als Parabase zu fassen, deren Inhalt nur lose mit dem Gegenstande des dramatischen Ganges zusammenhängt. Hier freilich greift der Inhalt nur dadurch über den Gang der Handlung hinaus, dafs eine örtliche und zeitliche Bestimmung durch die persönliche Beziehung entsteht, wie sie zunächst dem Wesen des Euphorion mit seiner ursprünglich allgemeingiltigen Bedeutung einerseits, mit seiner natürlichen Entstehung aus Faust und Helena andererseits fernzuliegen scheint. Das Band liegt aber in der gerade durch diese Entstehung begründeten dämonischen Natur des Euphorion , die die Schranken von Raum und Zeit nicht kennt. Aufs engste hängt der Inhalt der Parabase mit dem Gange der Handlung durch die Stimmung zusammen: ergreifender konnte der Schmerz seinen Ausdruck nicht finden, als durch diese Klage der Mädchen, die durch den Schmerz dazu gebracht werden, mit zeitweiliger Unterdrückung ihrer sonst der antiken Welt angehörenden Anschauungsweise kraft ihrer dämonischen Natur mit dem Ausdruck der Klage zugleich den Ausdruck für die trotz dieses einen schweren Verlustes dennoch vorhandene Allzeitigkeit des Schönen und der Poesie zu finden.

Die fünfte Handlung (V. 9939—10038).

Hat die Verbindung von Faust und Helena keine Wirkung nach der Seite einer dauernden seelischen Befriedigung hervorbringen können , so hat sie auch kein Recht mehr zu existieren, weder für Faust, dessen Fortschreiten im unbewufsten Aufsuchen des rechten Weges nun durch eine Fortdauer dieser Verbindung nicht weiter gehemmt werden darf, noch für Helena, die durch den Tod des Kindes aus dem künstlich erweckten Leben fortgezogen wird, das ihr nur noch Schmerz zu bieten vermag. So ergiebt sich als Gegenstand der fünften Handlung der Episode die Lösung dieser Verbindung, mit der eine Auflösung aller künstlich geschaffenen Lebensexistenzen notwendig Hand in Hand gehen mufs : sie haben keinen Zweck, kein Recht, ja selbst keinen Reiz zu diesem Dasein mehr, nachdem der Grund, der es hervorgerufen hat, weggefallen ist. Die Art, wie diese Lösung und Auflösung erfolgt, vollzieht sich unter Anwendung der strengsten Folgerichtigkeit für alle Beteiligten, wie sie sich einerseits aus der Art ihrer Existenz, andererseits aus ihrem persönlichen Charakter ergiebt.

Zuerst scheidet natürlich Helena: sie folgt dem Rufe des ins düstere Reich hinabgehenden Kindes. Durch diesen Tod hat sie erkannt, dafs »Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint«. Aber auf ihrer Schönheit hat ihr Wiederaufleben und ihre Liebe zu Faust beruht: kann die Schönheit das Glück nicht fesseln, so geht mit seinem Scheiden auch Leben und Liebe zu Grunde: »Zerrissen ist des Lebens wie der Liebe Band.« Sie ruft Faust Lebewohl zu und fleht Persephone an, den Knaben und sie aufzunehmen. Die Auflösung, die früher fast schon durch die Erinnerung an ihre alten Wirrsale veranlafst worden war, wird hier durch den frischerlebten Mutterschmerz zur Thatsache : das Schattenbild geht in das Schattenreich zu- rück, aus dem es Faust erbeten hatte; »das Körperliche verschwindet« : die Erde nimmt die stofflichen Elemente des Körpers auf, wie auch schon vorher die Euphorions; die Lebensenergie bleibt mit dem Kleid und Schleier und in ihnen zurück: so wie diese die Gestalt umhüllten, so hielt die Lebensenergie Stoff und und Schattenbild bisher zusammen. Phorkyas-Mephistopheles weifs das sehr wohl : so ruft er Faust zu , das Kleid, an dem die Dämonen schon zupfen, um die in ihm zurückgebliebene Lebensenergie in ihr Reich , aus dem sie stammt, zurückzuführen, doch ja festzuhalten : es ist göttlich und vermag ihn über alles Gemeine fortzutragen. Diese nun von keiner festen vorbildlichen Gestalt mehr geformte Lebensenergie gestaltet sich leicht um und um : jetzt lösen sich die Gewände der Helena in Wolken auf und tragen Faust davon. So wie er durch die Luft nach Griechenland getragen worden ist, so kehrt er jetzt ebenso in die Heimat zurück. Mephistopheles kann ihm noch nicht folgen : noch steckt er in der Gestalt der Phorkyas. Erst wenn er dieser entledigt ist , kann er Faust nacheilen. Jetzt greift er rasch nach Euphorions Kleid, Mantel und Leyer : die echte Flamme der Poesie ist freilich mit Euphorion dahingegangen, aber diese Exuvien« enthalten wie Reliquien doch noch ein durch die körperliche Berührung gewonnenes Restchen von poetischer Kraft , das genügt , um wenigstens Dichterlinge damit zu begeistern und »Gild- und Handwerksneid« zu stiften : eine solche Möglichkeit , Böses zu säen , darf sich der Teufel nicht entgehen lassen, dessen echte Natur dadurch auch unter der Form der Phorkyas deutlich hervorbricht.

Nun mufs der Chor zur Auflösung schreiten. Die Chorführerin fordert die Mädchen auf, der Königin zu folgen: »Sind wir doch den Zauber los.« So ruft sie: »Hinab zum Hades! Eilte doch die Königin Mit ernstem Gang hinunter. Ihrer Sohle sei Unmittelbar getreuer Mägde Schritt gefügt. Wir finden sie am Throne der Unerforschlichen.« Aber die »getreuen Mägde« haben anderes im Sinn : Königinnen stehen auch im Hades obenan ; ihrer aber harrt dort das Los im Hintergrund tiefer Asphodeloswiesen, »Fledermausgleich zu piepsen, Geflüster, unerfreulich, gespenstig.« Da spricht die Chorführerin das entscheidende Wort: »Wer keinen Namen sich erwarb, noch Edles will, Gehört den Elementen an, so fahret hin.« Sie selbst eilt der Königin nach: »auch Treue wahrt uns die Person. Die Mädchen aber haben weder Namen und Ruhm erworben, noch wollen sie Edles : sind sie doch ohne festen Charakter immer nur den ersten Eindrücken unterlegen, so dafs das Sinnenleben mit seinen elementar hervorbrechenden Empfindungen sie vollständig beherrschte. So wahrt auch jetzt nichts ihre Person: »Zurückgegeben sind wir dem Tageslicht, Zwar Personen nicht mehr , Das fühlen , das wissen wir , Aber zum Hades kehren wir nimmer.« So bleibt ihnen nur ein Weg übrig, im Tageslicht zu existieren: sie behalten die von der Lebensenergie zum Leben erweckten Stoffe, unterwerfen sich aber der Umwandlung der aus dem Hades stammenden Schattenbilder in andere Lebensformen, indem sie, dem zur Erde zurückkehrenden und in der belebten Natur aufgehenden lebendigen Stoffe folgend, die ihr da von der Natur gebotenen Formgestaltungen annehmen. So geben sie sich der schaffenden , ewig umgestaltenden und auch ihnen neue Gestaltungen verleihenden Natur hin : »Ewig lebendige Natur Macht auf uns Geister, Wir auf sie vollgültigen Anspruch.« Und wie am Schlüsse der klassischen Walpurgisnacht alle vier Elemente sich dargeboten haben, um die Lebensenergie aufzunehmen und ihr den zur Lebenserweckung notwendigen Stoff zu bieten, so lösen sich die durch die Lebensenergie Belebten in die vier Elemente auf und folgen diesen dahin, wo die lebengestaltende Natur ein jedes gerade zur Schaffung neuer Gestalten braucht. Der erste Teil folgt ihr »in dieser tausend Aste Flüsterzittern, Säuselschweben« : in den Bäumen steigen sie in die Luft hinauf; andere gehen in die Felsen über; ein dritter Teil eilt mit den Bächen weiter; der vierte Teil geht in die Glut und das Feuer der Rebe auf: aus ihnen keimt das wilde bacchantische Treiben, das sie in begeisterten Worten schildern, aber so, dafs hier wie auch in ihrem Weben und Leben in den anderen Elementen überall das rein stoffliche Behagen als das beherrschende Empfinden der in das ewige Fliefsen der schaffenden Natur übergegangenen Geister durchbricht.

So ist die ganze Schöpfung der klassischen Walpurgisnacht wieder in ihre Bestandteile zerronnen : nur Phorkyas ist noch übrig. Da , im Proszenium, richtet sie sich riesenhaft auf, tritt von den Kothurnen herunter, lehnt Maske und Schleier zurück und zeigt sich als Mephistopheles. So ist denn auch er wieder der Alte geworden: das Altertum, das ihm so wenig sympathisch war und das er nur gezwungen wie ein äufseres Kleid angelegt hatte, ist mit leichter Mühe beseitigt. Damit ist auch der letzte Rest der Vergangenheit abgethan, die Gegenwart tritt wieder in ihr volles Recht, die Episode ist vorüber: mit dem Zauber sind alle seine Schöpfungen aufgehoben. So steht der Möglichkeit des Eintretens einer neuen Episode nichts mehr im Wege.
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