> Gedichte und Zitate für alle: Der dramatische Aufbau. A. Die vorbereitende Handlung 2. auf Erden, v. 354—1867. (6)

2019-12-11

Der dramatische Aufbau. A. Die vorbereitende Handlung 2. auf Erden, v. 354—1867. (6)

Veit Valentin: Goethes Faustdichtung in ihrer künstlerischen Einheit



Der dramatische Aufbau. A. Die vorbereitende Handlung 2. auf Erden, v. 354—1867.

Auf Erden beginnt eine zugleich scheinbar und wirklich durchaus neue Handlung: sie ist es scheinbar für den Miterleber der Handlung im Himmel ; sie ist es wirklich für den Träger der Handlung auf Erden , der von der Handlung im Himmel nichts weifs und nie davon etwas erfährt, den der Dichter daher stets unter konsequenter Voraussetzung dieser Unkenntnis denken und handeln läfst. Da die Handlung für Faust thatsächlich eine neue ist, so mufs sie auch eine für ihn hinreichende Begründung haben: diese wird durch die Schilderung seiner Lage V. 354 bis 376 gegeben. Er hat mit allem Studium nur die Erkenntnis erreicht, dafs er nichts wissen, dafs er nichts lehren kann: mit dem stolzen Bewufstsein, das ihm diese Möglichkeit und diese Fähigkeit geben könnte, entbehrt er obendrein des äufseren Gutes — es möchte kein Hund so länger leben. Da beginnt die Handlung, die ihn diesem elenden Zustand entreifsen soll: er hat sich der Magie ergeben, um mit Geistern in Verkehr zu treten; sie werden ihm vielleicht sagen, was die Welt im Innersten zusammenhält, damit er alle Wirkenskraft und Samen schauen kann. Die Sehnsucht, mit der Geisterwelt zu verkehren, dem engen Dasein des Buchgelehrten zu entfliehen , treibt ihn zur lebendigen Natur: er weifs, dafs die Geister, durch die die Natur lebendig ist, ihn umschweben, er braucht sie nur zum Antworten zu bringen. Da offenbart sich ihm das Erkennen auf drei Stufen, die den drei Stufen entsprechen, in denen die Erzengel von dem von der Sphärenharmonie erfüllten Weltall zur engen Erde mit ihren ungelösten Kämpfen übergeleitet haben. Das Zeichen des Makrokosmos läfst ihn einen Blick in das Wesen des Weltalls thun, in dessen Harmonie alles sich zum Ganzen webt , Eins in dem Anderen wirkt und lebt ! Das Belebende aber sind die Himmelskräfte selbst, die »auf und niedersteigen und sich die goldnen Eimer reichen , Mit segenduftenden Schwingen Vom Himmel durch die Erde dringen, Harmonisch all' das All durchklingen«. Solchem Wesen gegenüber handelt es sich aber nicht ums Erkennen, sondern um sein Erfassen durch Schauen. Wer es in Wahrheit und als Wirklichkeit schauen kann, dem sind die unbegreiflich hohen Werke herrlich wie am ersten Tag. Aber solche Schaukraft und mit ihr die Fähigkeit, durch das Schauen zu erfassen , eignet dem Menschen nicht : für ihn bleibt diese Harmonie eine Ahnung, die er im Bilde angedeutet sieht ; sie bleibt ein Schauspiel, sie offenbart sich nicht als Wirklichkeit. Da steigt er von dem Weltall zur Erde selbst nieder, deren Geist ihm näher steht: der Erdgeist folgt seinem Rufen und schildert sein Wirken : »In Lebensfluten, im Thatensturm Wall' ich auf und ab, webe hin und her! Geburt und Grab, Ein ewiges Meer, Ein wechselnd Weben, Ein glühend Leben« : dieser ewige Wechsel ist das Charakteristische des Erdenwesens, das dem aus weiter Ferne Betrachtenden in grofsen Zügen als Licht und Finsternis, als bewegliches Meer und starrer Fels sich kundgiebt. Aber trotz allem Wechsel, ja gerade durch ihn schafft die Erde an ihrem Teil mit an der Gesamtherrlichkeit der Welt; sie wird im Sphärenlauf mit dahingerissen als Teil des Ganzen, und der Erdgeist weifs, dafs er mit all dem Wechsel von Geburt und Grab doch am sausenden Webstuhl der Zeit schafft, dafs er der Gottheit lebendiges Kleid wirkt: die körperliche Welt bringt nur das Wesen der Gottheit zum Ausdruck, ist nur seine Verkörperung. Dieses Verhältnis zu erkennen , als Thatsache zu schauen , wie es für den Erdgeist Thatsache, Wirklichkeit ist, das wäre ein dem Streben Fausts entsprechendes Ziel; es zu erreichen ist ihm aber nicht bestimmt: er gleicht nicht dem Erdgeiste, den er in der zergliederten Darlegung seines Wesens, aber nicht in der Einheitlichkeit, in der allumfassenden Gesamtheit seiner Thätigkeit begreifen kann. Ihm, dem Ebenbilde Gottes, wie es so stolz vom Menschen heifst, ist selbst diese geringere Stufe der Erkenntnis des Wesens eines Weltteilchens versagt : auch zu ihr bedürfte es eines überblickenden, die Vielheit zur Einheit zusammenfassenden Schauens, das der Mensch nun einmal nicht besitzt. Da tritt zu Faust die Stufe der Erkenntnis heran, die mit dem Weltall nichts mehr zu thun hat, die die Erde als Grenze betrachtet und sich mit dem Kennenlernen von Einzelheiten begnügt: ihr zeigt sich die Erde nur in der Vielheit ihrer Erscheinung, in der der Engel freilich noch die Einheit erblicken kann, die der kurzsichtige Erdgeborene zu erfassen gar nicht bestrebt ist : Wagner fühlt sich in dieser Beschränktheit beglückt und ahnt nicht den Trieb, über das Kennenlernen zum Erkennen vorzudringen. Diese dritte Stufe verachtet Faust: er hat sie längst überwunden. Die erste zu erreichen, bescheidet er sich ; die Zurückweisung von der zweiten treibt ihn zur Verzweiflung; so bleibt seinem geistigen Ringen keine Stelle übrig. Da ist es besser, vermessen die Pforten aufzureifsen, vor denen jeder gern vorüberschleicht, und eine höhere Erkenntnis vielleicht doch zu erzwingen, wenn auch auf einem Wege, der für seinen Betreter mit der Gefahr verbunden ist, ins Nichts dahinzufliefsen. Die Versuche Fausts, durch die Geisterwelt eine höhere Stufe zu erringen , sind gescheitert ; er steht wieder da, von wo er ausging : es möchte kein Hund so länger leben. Dieser Zustand ist auf die Dauer unerträglich, es mufs eine Änderung eintreten : mag sie herkommen, woher sie wolle, sie wird willkommen sein.

Beide Wege sind falsch, der Weg durch die Magie, der Weg durch den Tod. Will Gott Faust wirklich zur Klarheit führen , so darf Faust auf dem einen nicht bleiben, den anderen nicht betreten. Der durch Fausts magische Kraft zur Erscheinung gerufene gute Geist der Erde mufste seinem inneren Wesen nach Faust zurückweisen; hier bedurfte es keines Eingreifens Gottes — der Erdgeist handelt naturgemäfs in Gottes Sinn und Gottes Absichten gemäfs. Hätte Faust den zweiten Weg, durch den Tod sich höhere Erkenntnis erzwingen zu wollen, wirklich betreten, so wäre Gottes Absicht, ihn zur Klarheit zu führen, nicht erreicht worden : in diesem Zustand seiner Seele war Faust nicht reif, zur Seligkeit zu gelangen. So mufs ihn Gott vom Tode zurückhalten. Wenn daher im entscheidenden Augenblick der Ostergesang ertönt, der mit seinen Erinnerungen an die glückliche Kinderzeit Faust vom letzten , ernsten Schritt zurückhält , so geschieht dies zwar natürlich nicht durch ein persönliches Eingreifen der Engel : der Chor der den Ostergesang anstimmenden Engel besteht aus Menschen ; wohl aber ist es die in der Hand Gottes liegende Fügung, dafs in einem bestimmten Augenblick gerade eine bestimmte Handlung eintritt, die wir hier als Eingreifen Gottes bezeichnen dürfen. Was dem irdischen Auge sich als Zufall offenbart, das ist nach der hier zur dichterischen Verwendung kommenden Weltanschauung eine von Gott ausgehende Fügung. Der Dramatiker mufs aber dafür sorgen, dafs der Eindruck des Zufälligen möglichst ausgeschlossen bleibt. Deshalb schaltet der Dichter am Schlüsse des ersten Gespräches zwischen Faust und Wagner die Verse ein: »Doch morgen, als am ersten Ostertage, Erlaubt mir ein und andre Frage« : sie finden sich weder im Urfaust noch im Fragment von 1790, sind aber eben dadurch ein wertwolles Zeichen, wie der Dichter seit der Zeit, da ihm der grofse Plan der einheitlichen Dichtung klar geworden ist, sich bemüht, die früher kühn hingeworfenen Einzelszenen nun dem gröfseren Plane gemäfs zu verbinden und zu einheitlicher dramatischer Gestaltung aufzubauen. Nach Erwähnung des morgenden Ostertages ist es begreiflich und selbstverständlich, dafs der Ostergesang und die Osterglocken zum Beginne der Frühfeier ertönen; dafs es freilich gerade in diesem Augenblicke geschieht, dafs es gerade mit dem Versuche des letzten ernsten Schrittes zusammenfällt, nicht einen Augenblick früher oder später, bleibt darum doch Zufall nach irdischer Auffassung, Fügung nach gottvertrauendem Ausdruck. Es ist aber eine Fügung, wie sie dem sachlichen Zusammenhange naturgemäfs entspringt und wie sie somit den Charakter der inneren Notwendigkeit trägt. Ein besonderes dichterisches Geschick aber ist es, eine Vorbereitung nach einer bestimmten Seite zu geben, hier für den Osterspaziergang, und sie zugleich nach einer zweiten Seite hin zu benutzen, die etwas in solcher Weise Unerwartetes bietet und eben dadurch doppelt wirkt: erst als Überraschung, dann bei näherem Zusehen doch als wohlbedächtig vorbereitet und eingeleitet.

Der Versuch des Selbstmordes , der im Urfaust und im Fragmente fehlt, hat im Zusammenhang des dramatischen Fortschrittes eine entscheidende Bedeutung : er bereitet den Übergang des Verkehres Fausts mit den guten Geistern zu dem von ihm nicht mehr zurückgewiesenen Verkehr mit den bösen Geistern vor. Erst der von seinem hohen Streben zurückgewiesene, zum letzten, äufsersten Schritt entschlossene Faust steht dem in dem Verkehre mit den bösen Geistern eingeschlossenen Abfall von Gott gleichgiltig gegenüber: so lange er von dieser Seite glaubte noch etwas hoffen zu dürfen, so lange war ein Verkehr mit Mephistopheles undenkbar. Jetzt ist es mit dieser Hoffnung aus; Gott hält ihn zwar von dem Selbstmord ab, läfst ihn aber seinen eigenen Weg gehen. Wenn wir als Miterleber des Prologes im Himmel auch wissen, dafs Gott den Verkehr Fausts mit Mephistopheles sogar wünscht, so ist es darum nicht weniger des Dichters Aufgabe , uns diesen Verkehr vom Standpunkte Fausts aus begreiflich und verständlich zu machen. So bildet dieser Versuch ein wichtiges Glied im dramatischen Fortgang; seine Einschaltung zeigt, wie es dem Dichter bei der endgiltigen Gestaltung des einheitlichen Planes auf die sichere, mit innerer Notwendigkeit sich gestaltende Führung der Handlung ankam. Sie herauszuarbeiten, ist der dramaturgische Zweck aller Einschaltungen und Abänderungen, die die Ausgabe von 1808 dem Fragmente von 1790 gegenüber zeigt.

Der Osterspaziergang hat im dramatischen Fortgang die Aufgabe, den Schritt für Schritt sich vollziehenden Übergang Fausts von den guten Geistern zu den bösen zu vermitteln. Der Menge Beifall , der ihm nur wie Hohn klingt, zeigt ihm seine Ohnmacht nur um so deutlicher, und in seiner Verzweiflung ruft er Geister herbei , gleichgültig welche , wenn sie ihm nur aus diesem Jammerzustand forthelfen können : »O, giebt es Geister in der Luft, Die zwischen Erd' und Himmel herrschend weben, So steiget nieder aus dem goldnen Duft Und führt mich weg zu neuem buntem Leben.« Dieser leidenschaftliche Ausruf wird von Wagner ganz richtig dahin verstanden, dafs er sich an die »wohlbekannte Schar« wendet, die er selbst mit dem eigentlichen Namen zu nennen sich scheut, die aber dem Menschen von allen Enden her tausendfältige Gefahr bereitet. Dieser leidenschaftliche Ausbruch wird denn auch sofort von Mephistopheles erfafst: er, der unsichtbar Faust umschwebt, seit Gott ihm erlaubt hat, einen Versuch zu machen, Faust für sich zu gewinnen, der ihn schon in der Osternacht umlauert hat , er zögert nicht , den günstigen Augenblick der Annäherung zu benutzen. Er verfährt dabei so vorsichtig wie möglich: der Übergang, den Faust machen mufs, um seinem Plane günstig gestimmt zu werden, kann nur allmählich gemacht werden. So naht er sich ihm als Hund , deutet aber durch den Feuerstrudel seine Geisterhaftigkeit an : es ist eine zu allen Zeiten den überirdischen Naturen zugeschriebene Eigenschaft, dafs sie nur von denen gesehen und erkannt werden , von denen sie gesehen und erkannt sein wollen. Dies begegnet uns bei Homer, wenn der erzürnte Achilleus allein die ihn zurückhaltende Athene erblickt, oder bei Sophokles, wenn Athene zwar von Odysseus, nicht aber von Aias gesehen wird , und Shakespeare benutzt diese Kraft der Geisterwelt im Hamlet , im Macbeth. So wird der Feuerstrudel hier nur von Faust, nicht von Wagner gesehen.

Wie nötig die Vorsicht des Mephistopheles ist, zeigt die Rückkehr Fausts auf die Seite Gottes , wenn sich nach der Heimkunft die Liebe Gottes in ihm regt, wenn die Hoffnung wieder in ihm erwacht, wenn er, an der aus dem eigenen Inneren quellenden Befriedigung rasch wieder verzweifelnd , sich nach der Offenbarung sehnet und zu dem Urtexte des neuen Testamentes greift. Noch schlimmer wird es für Mephistopheles, wenn Faust aus dem heiligen Originale herausliest, dafs im Anfang die »That« gewesen sei: wie leicht könnte Faust die Schlufsfolgerung machen, dafs auch für ihn die That das rettende Moment zu werden vermöchte , wie sie es in Wirklichkeit später wird. So nahe ist er hier dem rechten Wege : dieser nützt ihm aber nichts, so lange er von aufsen gezeigt und nicht durch eigne Kraft gefunden wird. Diese eigne Kraft in Faust dadurch hervorzurufen , dafs er erst von dem schon angedeuteten Wege fortgeführt wird, dafs der Irrweg gerade die eigne Kraft erweckt, die ihn nun selbst den rechten Weg finden läfst, ist ein Meisterstück dichterischer Kunst: Odysseus ist der Heimat schon nahe, da wird er wieder fortgerissen, um sie endlich in der gottgewollten Weise zu finden. Es ist aber speziell für das Drama ein Meisterzug, da es das Verfolgen seines Ganges und seiner Entwicklung zu erhöhter Teilnahme wachruft.

Aber Mephistopheles erreicht mit seiner Vorsicht noch ein Zweites: Faust mufs ihn zwingen, sich zu offenbaren. So kann Mephistopheles später mit scheinbarem Rechte sagen: »Drangen wir uns dir auf oder du dich uns?« Und Faust kann nicht nein sagen, während wir Miterleber des ganzen Vorganges die Sache besser wissen und um so mehr die Empfindung haben, dafs Faust hilflos in den Krallen des Teufels ist : der Betrogene ist erst recht unserer Teilnahme sicher. Zugleich erreicht der Dichter mit diesem Zwingen des Mephistopheles, dafs Faust des Glaubens lebt, er habe sein Erscheinen der Magie zu verdanken, die er zu Hilfe genommen hat : er verdankt ihr höchstens die Enthüllung, die aber Mephistopheles von Anfang an beabsichtigt, und die er nur aus guten Gründen hinausschiebt. Faust gewinnt damit zugleich ein neues Vertrauen zur Magie, die ihm bis dahin nur Enttäuschung gebracht hat : er wird jetzt am wenigsten daran denken , sich von der Magie zu entfernen und der eignen Kraft zu vertrauen, dem dritten und letzten Weg, der ihm übrigbleibt : bis er aber dazu kommt, mufs er erst alle Möglichkeiten des ihm jetzt sich so gefällig darbietenden Irrweges durchgeprobt haben.

Bei aller Vorsicht, die Mephistopheles Faust gegenüber anwendet, ist er doch von leidenschaftlicher Gier erfüllt, die ersehnte Beute zu erhaschen : diese Gier hat ihn den Drudenfufs an der Schwelle von Fausts Zimmer übersehen lassen. Da befindet er sich nun in der komischpeinlichen Lage , dafs er nicht aus dem Hause kann. Dieser merkwürdige Zug hat im Gesamtgange die Bedeutung, dafs Faust an einem praktischen Beispiele , das ihn der Notwendigkeit überhebt , den Versicherungen eines Teufels Glauben zu schenken, wozu er gar nicht geneigt ist, nun erkennt, wie doch auch die Hölle Gesetze hat, die als unverbrüchlich gelten : so läfst sich mit einem Höllenangehörigen ein Pakt abschliefsen. Käme dieser aber jetzt zustande, so wäre Mephistopheles in der unerwünschten Lage, Faust eine Zusage machen zu müssen, die bei alsdann notwendig werdender ehrlicher Ausführung seinen Absichten nicht entsprochen hätte : er will aber Faust durch Betrug gewinnen. Er ist auch nicht um ein Mittel verlegen, sich zu befreien: Faust ist noch nicht der Mann, den Teufel festzuhalten. Das Mittel, mit dem Mephistopheles Faust einlullt, dient ihm aber zugleich dazu , Faust durch Vorgaukelung der wundervollsten Sinnenreize mit einer Unbefriedigung zu erfüllen, von der er hoffen kann , dafs sie Faust für des Teufels Verlockungen gefügig machen wird.

Wie Mephistopheles wiederkommt, um die Sache zur Entscheidung zu bringen, ersteht er es trefflich, diese Mifsstimmung zu erhöhen und besonders durch seine höhnischen Anspielungen auf den nicht ausgeführten Selbstmord , Fausts Verzweiflung zum Ausbruch zu bringen : Faust stöfst in furchtbarem Fluche alles von sich, was das Leben lebenswert macht, ja alles , was noch einen Ausweg ermöglichen könnte, Hoffnung, Glauben, Geduld. Da klagt der unsichtbare Geisterchor über die zerstörte schöne Welt, und ruft dem Mächtigen der Erdensöhne zu , sie durch eigne Kraft in seinem Busen wieder aufzubauen. Zu solchem Zwecke soll er neuen Lebenslauf beginnen. Hier treten die auf der Seite Gottes stehenden guten Geister warnend und wegweisend auf. In der That bleibt Faust nichts anderes übrig, als das Zerstörte selbst wieder aufzubauen : hat er das erreicht, so hat er auch seine Erlösung gewonnen. So wird das Ziel von Fausts weiterem Leben klar hingestellt. Mephistopheles pariert diese unwillkommene Hilfe durch eine tückische Lüge : er giebt die Warner für seine Geister aus und wendet ihren altklugen Rat zu Lust und Thaten nach seinem Sinn : auch er will Faust hinwegführen, weil er so allein Gelegenheit findet, ihn durch Scheingenufs zu betrügen, bis ihm der Ermattete und Abgehetzte von selbst verfällt. So ist der Augenblick günstig, ihm nun seinen Vorschlag zu machen : »Willst du mit mir vereint Deine Schritte durchs Leben nehmen, So will ich mich bequemen, Dein zu sein auf der Stelle. Ich bin dein Geselle, Und mach ich dir's recht, Bin ich dein Diener, bin ich dein Knecht.« Faust kennt den Teufel zu gut, um nicht zu wissen, dafs er bei all seinem Thun von egoistischen Beweggründen getrieben wird. Er fragt nach der Gegenleistung, die von ihm verlangt wird. Mephistopheles sucht erst der Antwort zu entgehen und antwortet dann möglichst zweideutig : hier will er Fausts Knecht sein. Statt hinzuzufügen : drüben sollst du mein sein, gebraucht er hinterlistig die Wendung : »Wenn wir uns drüben wiederfinden, so sollst du mir das Gleiche thun.« Er betont das Wenn, um seinen Vertragsvorschlag annehmbar zu machen; die Möglichkeit des Wiedersehens »drüben« soll zweifelhaft erscheinen, und Faust soll nicht von der Annahme abgebracht werden , dafs das Wiedersehen vielleicht gar nicht eintritt. Faust hätte aus seiner Kenntnis des Teufels als Egoisten abnehmen können, dafs dieser den Vorschlag nicht machte, wenn das Wenn überhaupt fraglich wäre: er bliebe dann ja ohne Gegenleistung. Aber Faust ist in einer Stimmung der Verzweiflung, in der ihn das Drüben, auch wenn es existiert, wenig kümmert, und so hat sich Mephistopheles nicht verrechnet : Faust will auf den Vorschlag eingehen , und in seiner Siegesfreude verspricht Mephistopheles dem Faust, er wolle ihm geben, was noch kein Mensch gesehen. Da zeigt sich wieder, wie wenig Mephistopheles Fausts innerstes Wesen kennt: Faust schliefst den Vertrag, um ein Mittel zu erhalten, seine Verzweiflung zu ertöten, nicht um Genufs zu gewinnen. Schroff weist er darum Mephistopheles zurück: »Ward eines Menschen Geist in seinem hohen Streben Von deinesgleichen je gefafst?« Er will nichts als rasch vergehenden Genufs, um durch immer neuen Genufs sich zu betäuben. Das kann dem Mephistopheles nicht dienen: Faust mufs gerade an dem Genüsse selbst Gefallen finden, denn nur so kann er ihn durch Genufs sich gewinnen; er verweist daher auf die Zeit, »wo wir was Guts in Ruhe schmausen mögen«. Faust ist so sicher, diesen Zustand nie zu erreichen, dafs er in dem Augenblick, in dem Mephistopheles ihn »mit Genufs betrügen« kann, so dafs er zum Augenblicke sagen wird: »Verweile doch, du bist so schön«, ihm unweigerlich angehören will. Mephistopheles glaubt dies dadurch erreichen zu können, dafs er Fausts Genufssucht kein Mafs und Ziel setzt: er soll überall naschen und ergreifen, was ihn ergötzt, und er ermutigt ihn, darin nicht blöde zu sein. Dafs Faust mit dem Hinausstürmen nach Genufs nicht auf den Genufs selbst ausgeht, dafs er sein hohes Streben, dessen Ziel zu erreichen er verzweifelt, nur betäuben will, sich aber bewufst ist, dies trotz allem Genufs nicht zu können , das versteht Mephistopheles nicht : hierin liegt begründet, dafs alle die Wege, die Mephistopheles dem Faust angiebt, nicht zu dem ihm, dem Mephistopheles, erwünschten Ziele führen können. Aber auch hier wird er von seinem Hochmut geblendet. Faust sagt ihm ganz offen : »Du hörest ja, von Freud' ist nicht die Rede. Dem Taumel weih' ich mich, dem schmerzlichen Genufs.« Sein bisheriges Streben, das auf Erkenntnis der Welt ausging, giebt er auf: er will mit der leidenden Welt mitleiden, sein Selbst zu ihrem Selbst erweitern und, wenn sie scheitert, mit zu Grunde gehen. Jetzt, da er alles Gute und Schöne von sich fortgeflucht hat, sieht er in der Welt nur das Schlimme : es wird seiner eignen Thätigkeit bedürfen, um endlich zu der Überzeugung zu kommen , dafs nicht in der Zerstörung, sondern in der Neuschaffung das höchste Ziel des Lebens zu suchen und zu finden ist. Mephistopheles aber, der mit der Blutunterschrift — das Blut gilt seit alter Zeit als Sitz der Seele — schon nicht nur ein Anrecht auf Faust Seele , sondern von dieser selbst schon einen Teil, soweit der Teilbegriff auf die Seele sich anwenden läfst, in sicherem Besitze hat, Mephistopheles drängt nun darauf, dafs Faust mit ihm fortgeht : draufsen in der Welt kann er ihm seine Künste zeigen, kann er ihm die Quellen des Genusses eröffnen. Aber noch bedarf es eines von aufsen kommenden letzten Anstofses zur Herbeiführung des entscheidenden Schrittes: ein Schüler naht sich, Faust kann ihn in dieser Stimmung nicht sehen. Da beginnt Mephistopheles seinen Dienst: er tritt für seinen neuen Herrn ein, damit dieser sich zur Fahrt bereit machen kann. Wahrend Faust dies thut , enthüllt Mephistopheles seinen Plan. Er jubelt, dafs Faust Vernunft und Wissenschaft verachtet, von denen Mephistopheles sehr gut weifs, dafs sie des Menschen beste Kraft sind, über die er aber eben deshalb höhnt und die er dem Menschen zu verleiden sucht. Er glaubt gerade Fausts Unersättlichkeit im Vorwärtsstreben zu seinem Untergang benutzen zu können. Er will ihn durch Genufs darbieten und Genufsversagen zur Verzweiflung bringen, so dafs er sich Erquickung umsonst erfleht : in solchem Zustande müfste er zu Grunde gehen , auch wenn er sich dem Teufel noch nicht übergeben hätte. So ist Mephistopheles auf alle Weise seiner Sache sicher: gelingt es ihm , Faust durch einen Genufs zu befriedigen, so ist Faust sein, kraft des Vertrages; gelingt es ihm nicht, so wird er seiner Herr werden, indem er gerade diese Unersättlichkeit Fausts dazu benutzt, um ihn durch Verzweiflung zu Grunde zu richten : stirbt Faust im Taumel der Sünde, so gehört er dem Mephistopheles und der Hölle von selbst.

Mit dem Eingehen Fausts auf die Forderung des Mephistopheles, fort und in die Welt zu gehen, und dieser Darlegung seines Planes, wie ihn Mephistopheles nach Erlangung des Vertrages mit Faust sich glaubt gestalten zu können , schliefst die Handlung auf der Erde ab, die von Faust selbst ausgeführt wird und für sein Schicksal mafsgebend ist. Sie vollzieht sich in fünf klar gegliederten Gruppen und schreitet ununterbrochen von der einen zur anderen sicheren Ganges fort.

Die erste Gruppe V. 354—6c 1 geht von Fausts verzweifelter Lage aus , zeigt seine Ergebung an die Magie und die mit ihrer Hilfe erlangte Erkenntnis der zwei für ihn unerreichbaren Stufen geistigen Lebens, sowie die seinem Wesen aufs tiefste "widersprechende dritte Stufe der Glückseligkeit irdischpedantischer Gelehrsamkeit : er findet nirgends die seiner Natur gemäfse Stelle.

Die zweite Gruppe V. 602—807 zeigt ihn in seiner Verzweiflung, die ihn zum letzten ernsten Schritte führt: da greift Gott indirekt ein und erhält ihn am Leben, damit aber in einem Zustande, der die Notwendigkeit einer Änderung in sich birgt. Die dritte Gruppe V. 808 —1177 zeigt diesen unhaltbaren Zustand der Behaglichkeit der grofsen Menge und ihrer Zufriedenheit mit ihrem Dasein gegenüber. Selbst ihr Beifall wird Faust zum Hohn; um so entschiedener sehnt er sich nach einem Eingreifen der Geisterwelt : da erscheint ihm Mephistopheles , noch unerkannt in der Hundsgestalt, aber als der Geisterwelt zugehörig geahnt.

Die vierte Gruppe V. 1178 —1529 läfst uns Faust sehen, wie er sich im Ringen nach Befriedigung zur Offenbarung zurückwendet, ein Weg, der auf die Dauer seiner forschenden Natur unmöglich ist. Da beginnt der Teufel, der Gefahr für seinen Plan merkt, sich zu regen: er nimmt den Kampf auf, um Mephistopheles für sich zu gewinnen. Er läfst sich absichtlich von Faust zwingen. Faust siegt durch die Magie, er siegt beinahe durch den Zufall , der den Teufel in seine Hand gegeben hat : Mephistopheles weifs sich zu befreien, nachdem Faust die Gewifsheit gewonnen hat, dafs sich mit dem Teufel ein Vertrag schliefsen läfst, so dafs er durch diesen gebunden ist.

Die fünfte Gruppe V. 1530—1867 bringt den Abschlufs des Vertrages, aber Mephistopheles steht jetzt als freiwillig Abschliefsender Faust gegenüber. Fausts innerste , immer noch vom höchsten Streben erfüllte Natur steht in unlösbarem Widerspruch mit allen Mitteln, durch die Mephistopheles ihm Genufs glaubt verschaffen zu können : Fausts Befriedigung kann nur aus edlen Bestrebungen entspringen, des Mephistopheles Genüsse können nur an niedrige Leidenschaft anknüpfen. Faust kann den Vertrag eingehen, weil er weifs, dafs ein Teufel des Menschen hohes Streben nie begreifen und daher auch nie befriedigen kann : er erwartet von ihm nichts als Betäubung seiner Verzweiflung; Mephistopheles geht den Vertrag ein, weil er Faust nach sich beurteilt und dessen Unersättlichkeit nach Befriedigung der höchsten seelischen Bedürfnisse als eine Unersättlichkeit im Genüsse niederer Leidenschaft auffafst. So ist durch Fausts Natur sein Sieg unmöglich: er dient mit all seinen Bemühungen nur dem Plane Gottes. Für den Miterleber entspringt aus diesem Verhältnis das interessante, von der Weiterentwickelung der Handlung zu lösende Problem: Wie wird Mephistopheles versuchen, sein Ziel zu erreichen, und wie dienen die von ihm eingeschlagenen Wege gerade dazu, Fausts bessere Natur lebendig zu machen, so dafs er sich des rechten Weges allmählich bewufst wird?

Damit ist die ganze vorbereitende Handlung im Himmel und auf Erden (V. 244—1867) zu Ende, und die auf ihr sich aufbauende Haupthandlung kann beginnen.
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