Episode 2.
Das irdische Liebesleben.
V. 2237—4612.
a. Die Vorbereitung in der Hexenküche.
V. 2237—2604.
Für den zweiten Versuch nimmt Mephistopheles
den mächtigsten aller Sinnestriebe zu Hilfe,
den Geschlechtstrieb, aber selbstverständlich so, wie er ihn kennt und allein schätzt. Der Natur des
Teufels, der am liebsten alles zerstören möchte, ist nichts mehr entgegengesetzt als das Schaffen. Von
der durch den Geschlechtstrieb herbeigeführten Geschlechtsvereinigung vermag er daher nur den sinnlichen Reiz zu schätzen, während der tiefe Kern der
Handlung, das Hinauswachsen des Individuums über
seine räumliche und zeitliche Grenze, die in der Fortpflanzung ausgeführte Rettung des Lebens aus der
unvermeidlichen Zerstörung des Individuums, seinem
innersten Wesen widerspricht. So wie er selbst von
der Lüsternheit nach dem Sinnentaumel des Geschlechtsgenusses beherrscht wird, und zwar so vollständig, dafs
hinter ihr sogar sein Daseinszweck, die Seelengewinnung,
zurücktritt, ein Zug, den der Dichter bei der Rettung
der Seele Fausts durch Engel meisterhaft benutzt, so
setzt er voraus, dafs bei dem Menschen dieses eine Element in der Geschlechtsvereinigung gleichfalls das
herrschende sei: er setzt daher in seinem Bestreben,
den Menschen in seine Schlingen zu ziehen, am liebsten bei diesem Punkte an. Er versäumt es darum nie, den Geschlechtstrieb anzureizen und dabei stets das
Moment der Lüsternheit als das einzige bei der Geschlechtsvereinigung zu gewinnende Ziel hervorzukehren.
So hat er es mit gutem Erfolge bei dem Schüler
gemacht, als er den trockenen Ton satt war, und die teuflische Natur in ihm die Oberhand gewann. So
macht er es, ohne Verständnis und Eingehen zu finden,
Gretchen gegenüber, wie er sie bei Frau Marthe trifft, so macht er es weiterhin bei jeder Gelegenheit, bis er endlich selbst diesem »gemeinen Gelüste« unterliegt.
Auch Faust gegenüber glaubt er kein sichreres Mittel finden zu können, als die Aufreizung dieses Gelüstes
:
aber Faust ist schon zu alt dazu, um ohne weiteres
solcher Verlockung zu folgen. Da müssen ihm erst »dreifsig Jahre vom Leibe« geschafft werden : zu diesem
Zwecke führt ihn Mephistopheles zur Hexe. Allein
Faust widerstrebt: ihm »widersteht das tolle Zauberwesen«. Er ruft Weh über sich, wenn Mephistopheles
nichts Besseres weifs, denn noch ist sein hohes Streben nicht in ihm erstickt. Die Hoffnung, die er auf Mephistopheles Versprechen hin auf ihn gesetzt hat, ist verschwunden, und klagend fragt er: .Hat die Natur
und hat ein edler Geist Nicht irgend einen Balsam
ausgefunden?« — ein edler Geist, wie der Erdgeist, wenn er diesen nicht vielmehr hier selbst meint. Die
Natur und der Erdgeist, die für die Erde dasselbe
sind, gelten ihm als die beiden Äufserungen des guten
rettenden Prinzipes, zu dem er in Stunden der Verzweiflung immer wieder zurückkehrt. Mephistopheles
weifs indessen den halb Abtrünnigen durch Spott bei
sich und seinem Plane festzuhalten. Mit höchlichstem
Behagen wendet er sich dann dem Diskurse mit den
Tieren zu : dieser ist so, wie er ihn gerade am liebsten
führt, während Faust die Tiere und ihre Worte im
höchsten Grade abgeschmackt findet. Inzwischen läfst Mephistopheles im Zauberspiegel ein schönes Weib
sehen : Faust macht hier zum erstenmal die Entdeckung,
mit welcher Kraft zur Erweckung des Sinnesreizes im
Manne der Körper des Weibes ausgestattet ist. Faust
ist entzückt und nähert sich der Erscheinung, aber
alsbald beginnt Mephistopheles seinen Plan zur Ausführung zu bringen. Die Erquickung soll Faust vor den gierigen Lippen schweben, aber er soll sie sich umsonst erflehen. So wie Faust näher herantritt, erscheint die Gestalt »wie im Nebel«. So mufs er wieder
zurücktreten, und seine ungestillte Gier wird immer
mehr gereizt. Was er hier nur im Bild und nur von
ferne sehen darf, das will ihm aber Mephistopheles in Wirklichkeit verschaffen. Er tröstet Faust, er wisse
so ein Schätzchen ihm auszuspüren , und preist den
selig , der das gute Schicksal hat , sie als Bräutigam heimzuführen: noch drückt er sich vorsichtig aus, um
Faust nicht durch seine wahre Meinung abzuschrecken
Denn noch hat Faust den Zaubertrank nicht getrunken,
noch könnte er die Zumutung, ein Weib zu verführen,
entrüstet zurückweisen. Aber die Hexe kommt, Faust
trinkt den Trank, und wie er sich zu dem Bilde zurückwenden will, führt ihn Mephistopheles fort: das Bild
hat seine Schuldigkeit gethan, die Wirklichkeit soll in ihr Recht treten. Faust wird mit diesem Trank im
Leibe bald Helenen in jedem Weibe sehn — sein Geschlechtstrieb ist mit der ganzen Kraft der Lüsternheit
erwacht und wird ihn willenlos zum anderen Geschlechte
fortreifsen, sobald ihm eine geeignete Vertreterin begegnet , nicht um des Wertes des Individuums willen,
sondern weil es — ein Weib ist. Die Vorbereitung
ist fertig, die Handlung selbst kann beginnen.
Auch hier knüpft die Vorbereitung an die vorhergehende Handlung an : Faust hat an dem Zauberwesen
keine Freude. Der erste Versuch hat ihm keine Ermutigung gemacht , das , was ihn bei der Anwendung
auf andere schon anwiderte, nun gar auf sich wirken
zu lassen. Dieser Übergang ist aber das Neue, das
hier eintritt und den Inhalt der Vorbereitung bildet:
er schafft den Boden, auf dem die neue Handlung sich entwickeln soll, und leitet so zu dem nächsten Teil über.
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Goethe auf meiner Seite
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