Der Gang zu den Müttern.
Nach Plato ist die Idee ursprünglich das »als in seiner Art vollkommen, unveränderlich, einheitlich und selbständig oder an und für sich existierend vorgestellte Wesen der einander gleichartigen Einzelobjekte«, wird aber allmählich von dem Dichterphilosophen immer individueller vorgestellt : so wird sie das räum- und zeitlose Urbild der Individuen. Hiernach ist die Idee das Paradigma, das Urbild, das »Musterbild«, das irdische Einzelwesen dagegen ist das Abbild der Idee. Diese Auffassung der Idee in der Form selbständiger Einzelexistenz, diese Hypostasierung der Idee geht allmählich so weit, dafs Plato die Ideeen als die wirkenden Ursachen betrachtet, die den Individuen ihr Dasein und Wesen verleihen (vgl. Überweg, Geschichte der alten Philosophie § 41). Diese Ideeen haben objektive Realität: sie existieren wirklich, unabhängig von der Auffassung irgend eines Subjektes: sie verharren dem Wechsel der Erscheinungswelt gegenüber unveränderlich und immer sich selbst gleich. Sind aber die Einzeldinge der Erscheinungswelt die Nachahmungen, die Abbilder oder Abschattungen der Ideeen als ihrer Musterbilder, und wirken die Ideeen schöpferisch als Ursache auf die Entstehung der Abbilder, so sind sie als die Veranlasserinnen der Abbilder nach Goethes dichterischem Ausdruck die »Mütter« der Einzelerscheinungen, ein Ausdruck, der um so treffender ist, als schon die Griechen selbst die als Gottheiten aufgefafsten Verkörperungen der schaffenden Kräfte der Natur als Mütter bezeichneten und Göttinnen unter diesem Namen verehrt wurden. Sonach ist das Reich der Mütter das Reich der ewigen unveränderlichen Ideeen : wenn die ihnen entsprechenden Einzelerscheinungen auch vergangen sind, so bleiben sie selbst ewig und unveränderlich. Wenn also irgend woher Paris und Helena zu holen sind , so ist es aus dem Reiche der Mütter , wo ihre Ideeen in unveränderlicher Vollkommenheit, ewig nach unserer Auffassung, in Wirklichkeit zeitlos und raumlos, existieren. Können sie veranlafst werden zu erscheinen , so sind sie nicht nur als Paris und Helena das schönste Menschenpaar, sondern sie zeigen sich zugleich in dem durch ein Abbild gar nicht erreichbaren Grade der Vollkommenheit, wie es nur dem Urbild , dem Musterbilde selbst zukommt. In dieses Reich kann Mephistopheles nicht dringen : er kann aber Faust den Weg angeben und die Zaubermittel überliefern , die ihn sicher wenigstens hinbringen werden.
Wie Faust den Namen »Mütter« hört, so erfafst ihn dies aufs tiefste : er ahnt, dafs er damit der Quelle alles Lebens sich nähert, er hofft, dort in den Kern, das innerste Dasein alles Lebens einzudringen, dort zu rinden , was die Welt im Innersten zusammenhält : wo Mephistopheles nur das Nichts zu schildern weifs, ruft er erfreut: »In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.« Er empfindet daher bei dieser Schilderung keinerlei Befürchtung, wie Mephistopheles wohl voraussetzt : Faust steht jetzt schon so eigenwillig und eigenmächtig da , dafs er über Mephistopheles und dessen Bemühungen spottet : Mephistopheles kann seine Sprüche, die nach der Hexenküche, »nach einer längst vergangenen Zeit wittern«, sparen: Faust ist über solche Spielereien erhaben; er weifs jetzt bestimmt, was er bei der Vertragsschliefsung schon geahnt hat, dafs er von Mephistopheles selbst nichts für sein höchstes Bestreben zu erwarten hat, und ist jetzt von dem Bewufstsein erfüllt, er habe sich nur, »um nicht, ganz versäumt, allein zu leben«, dem Teufel zuletzt doch ergeben : er weifs, dafs er selbst seinen Weg zu finden hat, und Mephistopheles ist jetzt wirklich nur noch sein Diener. Dieser schildert ihm nun den Weg zu den Müttern: »Versinke denn! Ich könnt' auch sagen: steige« —, im raumlosen Dasein giebt es kein Oben oder Unten. Der Schlüssel , den ihm Mephistopheles reicht, soll ihn bis zu dem glühenden Dreifufs führen; dort wird er die Mütter sehen : »Die einen sitzen, andre stehn und gehn, Wies eben kommt. Gestaltung, Umgestaltung, Des ewigen Sinnes ew'ge Unterhaltung, Umschwebt von Bildern aller Kreatur; Sie sehn dich nicht, denn Schemen sehn sie nur.« Faust soll den Dreifufs mit dem Schlüssel berühren, er wird ihm folgen: »Dann mufs fortan, nach magischem Behandeln, Sein Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln« : so kommen die Ideeen in einem Nebelkörper, nicht in stofflichem Körper zur Erscheinung.
Stampfend versinkt Faust, stampfend soll er wieder steigen. Ob das freilich geschieht, weifs Mephistopheles nicht. Er ist so wenig hier und jetzt Herr der Lage, dafs er selbst sagt : »Neugierig bin ich , ob er wiederkommt.«
weiter
Goethe auf meiner Seite
Testamente, Reden, Persönlichkeiten
Inhalt
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen