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2019-12-15

Goethes Faustdichtung-Die dichterische Behandlungsweise. (22)

Veit Valentin: Goethes Faustdichtung in ihrer künstlerischen Einheit


Die dichterische Behandlungsweise. 

Auf die früher aufgeworfene Frage , ob es dem Dichter auch in der Einzeldurchführung gelungen ist, das hohe Ziel einer einheitlichen Dichtung zu erreichen, wie ihm dies bei der künstlerischen Gestaltung des Stoffes sowie der Grundzüge der künstlerischen Form zweifellos gelungen war, kann nach Durchführung der Einzelbetrachtung die Antwort dahin lauten: die Einzeldurchführung ist in der Weise gelungen , dafs nirgends ein sachlicher Widerspruch vorhanden ist, der uns berechtigte, von zwei nur äufserlich zusammengefügten, aber keinen inneren Zusammenhang bildenden Dichtungen zu sprechen. So ist es ganz besonders falsch , von einem Widerspruch des Planes des Mephistopheles mit der Ausführung zu reden. Sobald der durch die dramatische Form veranlafste Gang der Dichtung berücksichtigt wird, ergiebt es sich von selbst, dafs es dem Wesen der dramatischen Form durchaus entspricht, dafs Absichten durchkreuzt werden, zumal wenn es sich um eine Persönlichkeit handelt, von der von vornan feststeht, dafs sie ihren Plan nicht durchführen kann, weil ihr der Wille einer höheren, jedem Widerspruch entzogenen Persönlichkeit gegenübersteht: wo Gott einen Plan durchführen will, kann der seinen Weg durchkreuzende, mit ihm im Widerspruch stehende Plan des Teufels nur scheitern. Dazu kommt, dafs Gottes Plan sich von jeder Einzelheit in der Durchführung fernhält und sich mit der allgemeinen Fassung begnügt, dafs aber der Plan des Mephistopheles durch die Besonderheit des Weges, den er einzuschlagen gedenkt , eben dadurch dem Irrtum um so leichter ausgesetzt ist. Noch viel weniger richtig ist eine Behauptung wie die, Mephistopheles habe ja sein Ziel, Faust volle Befriedigung zu verschaffen, erreicht, wie er Gretchen in Fausts Arme geliefert hatte : dafs Faust die Verbindung mit Gretchen ohne die Erreichung höchster Befriedigung eingeht, dafs er vielmehr die Geliebte mit dem Bewufstsein umarmt, sie dadurch zu vernichten, und dafs er im Genüsse nach Begier verschmachtet, durchaus aber keine Befriedigung gewinnt, sagt er selbst klar genug. Alle derartige Widersprüche lösen sich leicht, sobald man sich entschliefst, die Dichtung als eine Kunstschöpfung, und zwar in der bestimmten Form des Dramas, zu betrachten und die aus ihr sich ergebenden Folgerungen auf die Beurteilung des Zusammenhanges anzuwenden: hierzu gehört in erster Linie die Überlegung, dafs der dramatische Dichter jede Person in jedem einzelnen Augenblick das sagen läfst, was nicht nur ihrem Charakter, sondern auch dem Wissen entpricht, das sie nach den Umständen der besonderen Lage gerade haben kann, und dafs dies Wissen nicht mit dem des Dichters oder des Miterlebers verwechselt wird.

Müssen wir angebliche sachliche Widersprüche zwischen der sogenannten alten und der neuen Dichtung als nicht vorhanden zurückweisen, so mufs andererseits betont werden, dafs allerdings ein Widerspruch bei der Umgestaltung der alten Dichtung in die neue Dichtung entstanden ist : dieser liegt aber nicht in dem verstandesmäfsig zu kontrollierenden und nach den Erfordernissen einer kausalen Entwickelung auszugestaltenden inneren Zusammenhange , sondern in der dichterischen Behandlungsweise.

Die dichterische Behandlungsweise Goethes hat einen bedeutsamen Prozefs der Entwickelung durchgemacht. In seinen Jugenddichtungen steht sie unter der Herrschaft einer übermächtigen Empfindung, die eine Reihe von Vorstellungen und Gedanken zu einer einzigen gewaltigen Wirkung zusammenzwingt, eine Behandlungsweise, die man als die lyrische bezeichnen kann. Greift nun der Dichter zu einem Stoffe, der seinem Grundzug nach in einer Handlung sich darstellt, so denkt der Dichter nicht daran , die Handlung in ihrer allmählichen, von Motiv zu Motiv fortschreitenden Entwickelung zu geben, so dafs jeder neue Schritt in einem früheren seine vollgültige Begründung findet, sondern die überquellende Kraft der Empfindung greift einen Augenblick der Handlung oder eine aus der Handlung sich ergebende Lage heraus, in denen sich die ganze Wucht ihres hervorbrechenden Stromes ausleben kann. Solche Verdichtungen überströmender, an eine Handlung sich anschliefsender , auf dem Gebiete des Gedankens- und des Gefühlslebens sich ergiefsender Empfindung sind alle Szenen des Urfaust, Gipfelpunkte der Handlung und der sich aus ihr ergebenden Lagen —aber die den Übergang von dem einen Gipfel zum anderen vermittelnden Thäler und Senkungen fehlen : sie sich hinzuzuschaffen, bleibt dem Leser überlassen. Das ist die Behandlungsweise, die früher als volksliedartig bezeichnet worden ist.

Dieser Behandlungsweise steht eine andere gegenüber, die man die epische nennen kann. Sie sucht sorgfältig zu vermitteln , zu verbinden , zu begründen. Sie weifs durch Hereinziehung einer anderen Thätigkeitsanlage im Menschen, der Lust am Verstehen aus den Gründen heraus, einen neuen ästhetischen Reiz zu gewinnen , und übt ihn aus , indem sie diese Anlage zur Bethätigung bringt. Dadurch werden jene Höhepunkte nicht aufgehoben, aber sie wirken nicht mehr ausschliefslich : das nur empfindende Gemüt darf sich zeitweilig ausruhen, und die grofsen, überwältigenden Wirkungen treffen nicht mehr Schlag auf Schlag. Der Hörer und Leser werden zu behaglicher und erfreulicher Mitthätigkeit herangezogen und sind dann auch wieder geneigter, eine allmählich vorbereitete grofse Wirkung über sich ergehen zu lassen. Sie kommt nicht mehr ganz ebenso überwältigend wie bei der ersten Art, aber sie wirkt auch nicht mehr einseitig: es gelangt eine gröfsere Reihe seelischer Kräfte zur Entfaltung, zur Bethätigung, zur Mitwirkung an der Herbeiführung der von dem Dichter erstrebten Gesamtwirkung.

In Goethes dichterischer Behandlungsweise von Stoffen, deren Grundzug Handlung ist, geht nun die lyrische Art der Behandlung allmählich in die epische über. Dichtungen, die in der Zeit der vorherrschenden epischen Behandlungsweise geschaffen sind, tragen diesen Charakter in einheitlicher Weise : bei den früher entstandenen Dichtungen sucht der reifende und gereifte Dichter die lyrische Behandlung möglichst episch umzugestalten. Die Folge davon ist, dafs der einheitliche Charakter der Dichtung nach der Seite der Behandlungsweise nicht durchgeführt erscheint. So ist es mit den späteren Fassungen des Götz neben der ursprünglichen Fassung des Gottfried von Berlichingen der Fall. Ein ähnliches Bestreben erscheint, wenn in der zweiten Bearbeitung Werthers Handeln besser motiviert werden soll , und in vollstem Mafse zeigt es sich in der Umgestaltung des Urfausts zu der neuen Dichtung. Alle Veränderungen sind Ergebnisse dieses Bestrebens , das seinen Zweck nach der Seite der Klärung der inneren Entwickelung hin vollständig erreicht : dagegen die mächtig wirkenden Szenen zwischen Faust und Gretchen, das in grofsen Zügen vor uns sich abspielende Geschick Gretchens selbst, das alles hat den alten lyrischen Charakter behalten, so dafs wir nur die Höhepunkte der Handlungen und die aus ihren entscheidenden Schritten sich ergebenden Lagen sehen. So trägt der sogenannte erste Teil in der Behandlungsweise einen zwiespältigen Charakter, der jedoch auf die Einheit der künstlerischen Gestaltung der Gesamtdichtung keinen Schaden ausübt : in ihrem Inhalte bleibt die Dichtung einheitlich, wenn auch der Grundzug der Behandlungsweise nicht überall derselbe geblieben ist.

Der sogenannte zweite Teil ist, was seine Ausführung betrifft, in einer Zeit entstanden, in der die epische Behandlungsweise längst den Sieg davongetragen hatte : er zeigt daher unter diesem formalen Gesichtspunkt ein einheitlicheres Gepräge als der sogenannte erste Teil. Dieser epische Charakter stimmt vortrefflich nicht nur zu der grofsen Mannigfaltigkeit von Persönlichkeiten und Lagen, die hier eintreten, sondern auch zu dem vielfach Auffallenden und Wunderbaren, das ohne sorgfältige Begründung überhaupt gar nicht anzuwenden gewesen wäre. Allein eben dieser Umstand führt den Dichter dazu, die epische Behandlungsweise zu einem Grade zu steigern, dafs sie bis an die Grenze des im Drama Zulässigen geführt ist. In die dramatische Form fügen sich nur solche Handlungen , die das Empfinden der vorgeführten Persönlichkeiten so mächtig anregen , dafs dieses sich ganz von selbst und naturgemäfs in Worten äufsert : eine die Handlung blofs betrachtende und aus der Betrachtung heraus schildernde Darstellung, die der Dichter, da er sie nicht selbst ausführen kann, wie es in der epischen Form geschieht, einer der mithandelnden Persönlichkeiten in den Mund legt, um die einmal gewählte dramatische Form zu wahren, verstöfst trotzdem gegen die dramatische Form : dies Auskunftsmittel ist nur ein rein äufserliches , solange diese Schilderuug nicht aus der mithandelnden Teilnahme an dem Geschehnis entspringt und Ausdruck der durch diese Mitteilnahme hervorgebrachten Empfindung ist. Der Dichter hat sich nun diese Freiheit häufig gestattet: teils führt sie ihn rascher zum Ziele, als wenn er die geschilderten Vorgänge in dramatischer Selbsthandlung und Selbstäufserung vorgeführt hätte, teils kann er auf diese Weise manches mit zur Darstellung bringen , was sich der dramatischen Form der Selbstäufserung überhaupt entzieht. Zu der ersten Art gehören die Schilderungen des Heroldes vom Erscheinen des grofsen Pan und des Feuerzaubers, zu der letzteren Art die Schilderung der Entstehung der Otter und der Fledermaus aus dem Zoilo-Thersites.

Diese übertreibende Anwendung des Epischen im sogenannten zweiten Teile neben der aus dem Urfaust mit herübergenommenen starken Anwendung des Lyrischen im sogenannten ersten Teil und der echt dramatisch gestalteten, epischen Motivierung, wie sie in beiden Teilen in vielen einzelnen Szenen und im Gesamtgange der ganzen Dichtung erscheint, berechtigt wohl, von einer mangelnden Einheit des dichterischen Stiles zu sprechen. Sie begreift sich leicht aus der Thatsache, dafs die künstlerisch gestaltende Arbeit an der Faustdichtung von einem Zeiträume von etwa sechzig Jahren umspannt wird, innerhalb dessen grofse Pausen eintraten. Goethe war sich dieses Unterschiedes in der Behandlungsweise wohl bewufst. Am 17. Februar 1831 sagte er zu Eckermann nach dessen Bericht: »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv; es ist alles aus einem befangeneren, leidenschaftlicheren Individuum hervorgegangen, welches Halbdunkel den Menschen auch so wohlthun mag. Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives ; es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt.« Auch seines Bestrebens, episch zu motivieren, war sich Goethe wohl bewufst : er setzt sich darin nach Eckermann in Gegensatz zu Schiller: »Ein sorgfältiges Motivieren war nicht seine Sache , woher denn auch die gröfsere Theaterwirkung seiner Stücke kommen mag (25. Mai 1 83 1). Als der Dichter um die vollständige Ausführung besorgt wurde, beschränkte er sich in der Ausführung so, dafs sich in knappester Weise Motiv an Motiv zur Darlegung des Zusammenhanges im Gange der Handlung reihte. Dieses Verfahren tritt besonders beim fünften Akt deutlich hervor, der in dieser Hinsicht ein interessantes Gegenstück zu der Behandlung im Urfaust ist : wie hier Höhepunkt an Höhepunkt sich reiht, ohne dafs das Bedürfnis empfunden würde, die das Einzelne zu ursächlichem Zusammenhange reihenden Zwischenglieder motivierend darzulegen , so reiht sich hier Motiv zu Motiv, ohne die Höhepunkte durch eingehendere Behandlung kräftiger und für den unmittelbaren Eindruck zu ihrer Erklärung als solcher Höhepunkte deutlicher zu markieren. Bei dem letzten Durchlesen seines Werkes mit Ottilie hat Goethe dies selbst wohl bemerkt. Am 20. Januar 1832 fängt er an, mit ihr den fünften Akt zu lesen ; am 24. Januar heifst es im Tagebuch : »Neue Aufregung zu Faust in Rücksicht gröfserer Ausführung der Hauptmotive , die ich , um fertig zu werden, allzu lakonisch behandelt hatte.« Es kann sich dies nur auf den fünften Akt und zwar die Szenen bis zum Tode Fausts beziehen: am 27. Januar liest Goethe mit Ottilie weiter , und erst am 29. Januar heifst es : Faust ausgelesen.« Es stimmt auch nur zu diesem Teile der Dichtung. Es ist merkwürdig, wie der thatsächlich zuletzt ausgeführte Teil, der vierte Akt des zweiten Teiles, viel breiter behandelt ist : nachdem der wichtige Schlufs wenigstens in lakonischer Fassung beendet und damit in der Hauptsache gesichert war, gönnt sich der über die endliche Ausführung nun beruhigter gewordene greise Dichter wieder mehr Zeit. Die »neue Aufregung« ist leider nicht mehr zur Verwirklichung gekommen : als er sie empfand , galten schon für den Dichter die Worte , die er seinen hundertjährigen Faust hören läfst: Es ziehen die Wolken, es schwinden die Sterne ! Dahinten , dahinten ! von ferne, von ferne, Da kommt er, der Bruder, da kommt er, der — Tod.«
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