> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Brieg, den 10. abends. (12)

2019-12-10

J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Brieg, den 10. abends. (12)



Brieg, den 10. abends.

Von unserm heutigen Weg kann ich wenig erzählen, ausgenommen, wenn Sie mit einer weitläuftigen Wettergeschichte sich wollen unterhalten lassen. Wir gingen gegen 11 von Leuk ab, in Gesellschaft eines schwäbischen Metzgerknechts, der sich hierher verloren, in Leuk Kondition gefunden hatte und eine Art von Hanswurst machte. Unser Gepäck war auf ein Maultier geladen, das sein Herr vor sich her trieb. Hinter uns, so weit wir in das Wallistal hineinsehen konnten, lag es mit dicken Schneewolken bedeckt, die das Land herauf gezogen kamen. Es war wirklich ein trüber Anblick, und ich befürchtete in der Stille, daß, ob es gleich so hell vor uns aufwärts war als wie im Lande Gosen, uns doch die Wolken bald einholen und wir vielleicht im Grunde des Wallis an beiden Seiten von Bergen eingeschlossen, von Wolken zugedeckt und in einer Nacht eingeschneit sein könnten. So flüsterte die Sorge, die sich meistenteils des einen Ohrs bemeistert. Auf der andern Seite sprach der gute Mut mit weit zuverlässigerer Stimme, verwies mir meinen Unglauben, hielt mir das Vergangene vor und machte mich auch auf die gegenwärtigen Lufterscheinungen aufmerksam. Wir gingen dem schönen Wetter immer entgegen; die Rhône hinauf war alles heiter, und so stark der Abendwind das Gewölk hinter uns her trieb, so konnte es uns doch niemals erreichen. Die Ursache war diese: In das Wallistal gehen, wie ich schon so oft gesagt, sehr viele Schluchten des benachbarten Gebirges aus und ergießen sich wie kleine Bäche in den großen Strom, wie denn auch alle ihre Gewässer in der Rhône zusammenlaufen. Aus jeder solcher Öffnung streicht ein Zugwind, der sich in den innern Tälern und Krümmungen erzeugt. Wie nun der Hauptzug der Wolken das Tal herauf an so eine Schlucht kommt, so läßt die Zugluft die Wolken nicht vorbei, sondern kämpft mit ihnen und dem Winde, der sie trägt, hält sie auf und macht ihnen wohl stundenlang den Weg streitig. Diesem Kampf sahen wir oft zu, und wenn wir glaubten, von ihnen überzogen zu werden, so fanden sie wieder ein solches Hindernis, und wenn wir schon eine Stunde vorwärts gegangen waren, konnten sie noch kaum vom Fleck. Gegen Abend ward der Himmel außerordentlich schön. Als wir uns Brig näherten, trafen die Wolken fast zu gleicher Zeit mit uns ein; doch mußten sie, weil die Sonne untergegangen war und ihnen nunmehr ein packender Morgenwind entgegenkam, stillestehen und machten von einem Berge zum andern einen großen halben Mond über das Tal. Sie waren von der kalten Luft zur Konsistenz gebracht und hatten, da wo sich ihr Saum gegen den blauen Himmel zeichnete, schöne leichte und muntere Formen. Man sah, daß sie Schnee enthielten, doch scheint uns die frische Luft zu verheißen, daß diese Nacht nicht viel fallen soll. Wir haben ein ganz artiges Wirtshaus und, was uns zu großem Vergnügen dient, in einer geräumigen Stube ein Kamin angetroffen; wir sitzen am Feuer und machen Ratschläge wegen unserer weiteren Reise. Hier in Brig geht die gewöhnliche Straße über den Simplon nach Italien; wenn wir also unsern Gedanken, über die Furka auf den Gotthard zu gehen, aufgeben wollten, so gingen wir mit gemieteten Pferden und Maultieren auf Domodossola, Mergozzo, führen den Lago Maggiore hinaufwärts, dann auf Bellinzona und so weiter den Gotthard hinauf, über Airolo zu den Kapuzinern. Dieser Weg ist den ganzen Winter über gebahnt und mit Pferden bequem zu machen, doch scheint er unserer Vorstellung, da er in unserm Plane nicht war und uns fünf Tage später als unsern Freund nach Luzern führen würde, nicht reizend. Wir wünschen vielmehr das Wallis bis an sein oberes Ende zu sehen, dahin wir morgen abend kommen werden; und wenn das Glück gut ist, so sitzen wir übermorgen um diese Zeit in Realp in dem Ursner Tal, welches auf dem Gotthard nahe bei dessen höchstem Gipfel ist. Sollten wir nicht über die Furka kommen, so bleibt uns immer der Weg hierher unverschlossen, und wir werden alsdann das aus Not ergreifen, was wir aus Wahl nicht gerne tun. Sie können sich vorstellen, daß ich hier schon wieder die Leute examinieret habe, ob sie glauben, daß die Passage über die Furka offen ist; denn das ist der Gedanke, mit dem ich aufstehe, schlafen gehe, mit dem ich den ganzen Tag über beschäftigt bin. Bisher war es einem Marsch zu vergleichen, den man gegen einen Feind richtet, und nun ist’s, als wenn man sich dem Flecke nähert, wo er sich verschanzt hat und man sich mit ihm herumschlagen muß. Außer unserm Maultier sind zwei Pferde auf morgen früh bestellt.

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