> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Gipfel des Gott' hards (15)

2019-12-11

J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Gipfel des Gott' hards (15)



Den 3. Nov., oben auf dem Gipfel des Gott' hards bei den Kapuzinern. Morgens um Zehn.

Morgens um zehn

Endlich sind wir auf dem Gipfel unserer Reise glücklich angelangt! Hier, ist s beschlossen, wollen wir stillestehen und uns wieder nach dem Vaterlande zu wenden. Ich komme mir sehr wunderbar hier oben vor; wo ich mich vor vier Jahren mit ganz andern Sorgen, Gesinnungen, Planen und Hoffnungen, in einer andern Jahrszeit, einige Tage aufhielt und, mein künftiges Schicksal unvorahnend, durch ein ich weiß nicht was bewegt, Italien den Rücken zukehrte und meiner jetzigen Bestimmung unwissend entgegenging. Ich erkannte das Haus nicht wieder. Vor einiger Zeit ist es durch eine Schneelauine stark beschädigt worden; die Patres haben diese Gelegenheit ergriffen, eine Beisteuer im Lande eingesammelt, ihre Wohnung erweitert und bequemer gemacht. Beide Patres, die hier oben wohnen, sind nicht zu Hause, doch, wie ich höre, noch ebendieselben, die ich vor vier Jahren antraf. Pater Seraphim, der schon dreizehn Jahre auf diesem Posten aushält, ist gegenwärtig in Mailand, den andern erwarten sie noch heute von Airolo herauf. In dieser reinen Luft ist eine ganz grimmige Kälte. Sobald wir gegessen haben, will ich weiter fortfahren, denn vor die Türe, merk ich schon, werden wir nicht viel kommen.

Nach Tische

Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg. Ja, es ist die größte Lust, sich obendrauf zu setzen, welches in diesen Gegenden, wo die Ofen von steinernen Platten zusammengesetzt sind, gar wohl angeht. Zuvörderst also wollen wir an den Abschied von Realp und unsern Weg hieher.

Noch gestern abend, ehe wir zu Bette gingen, führte uns der Pater in sein Schlafzimmer, wo alles auf einen sehr kleinen Platz zusammengestellt war. Sein Bett, das aus einem Strohsack und einer wollenen Decke bestund, schien uns, die wir uns an ein gleiches Lager gewöhnt, nichts Verdienstliches zu haben. Er zeigte uns alles mit großem Vergnügen und innerer Zufriedenheit, seinen Bücherschrank und andere Dinge. Wir lobten ihm alles und schieden sehr zufrieden voneinander, um zu Bette zu gehen. Bei der Einrichtung des Zimmers hatte man, um zwei Betten an eine Wand anzubringen, beide kleiner als gehörig gemacht. Diese Unbequemlichkeit hielt mich vom Schlaf ab, bis ich mir durch zusammengestellte Stühle zu helfen suchte. Erst heute früh bei hellem Tage erwachten wir wieder und gingen hinunter, da wir denn durchaus vergnügte und freundliche Gesichter antrafen. Unsere Führer, im Begriffe, den lieblichen gestrigen Weg wieder zurück zu machen, schienen es als Epoche anzusehn und als Geschichte, mit der sie sich in der Folge gegen andere Fremde was zugute tun könnten; und da sie gut bezahlt wurden, mochte bei ihnen der Begriff von Abenteuer vollkommen werden. Wir nahmen noch ein starkes Frühstück zu uns und schieden. Unser Weg ging nunmehr durchs Ursner Tal, das merkwürdig ist, weil es in so großer Höhe schöne Matten und Viehzucht hat. Es werden hier Käse gemacht, denen ich einen besondern Vorzug gebe. Hier wachsen keine Bäume; Büsche von Salweiden fassen den Bach ein, und an den Gebirgen flechten sich kleine Sträucher durcheinander. Mir ist’s unter allen Gegenden, die ich kenne, die liebste und interessanteste; es sei nun, daß alte Erinnerungen sie wert machen oder daß mir das Gefühl von so viel zusammengeketteten Wundern der Natur ein heimliches und unnennbares Vergnügen erregt. Ich setze zum voraus, die ganze Gegend, durch die ich Sie führe, ist mit Schnee bedeckt, Fels und Matte und Weg sind alle überein verschneit. Der Himmel war ganz klar, ohne irgendeine Wolke, das Blau viel tiefer, als man es in dem platten Lande gewohnt ist, die Rücken der Berge, die sich weiß davon abschnitten, teils hell im Sonnenlicht, teils blaulich im Schatten. In anderthalb Stunden waren wir in Hospenthal; ein Örtchen, das noch im Ursner Tal am Weg auf den Gotthard liegt. Hier betrat ich zum erstenmal wieder die Bahn meiner vorigen Reise. Wir kehrten ein, bestellten uns auf morgen ein Mittagessen und stiegen den Berg hinauf. Ein großer Zug von Mauleseln machte mit seinen Glocken die ganze Gegend lebendig. Es ist ein Ton, der alle Bergerinnerungen rege macht. Der größte Teil war schon vor uns aufgestiegen und hatte den glatten Weg mit den scharfen Eisen schon ziemlich aufgehauen. Wir fanden auch einige Wegeknechte, die bestellt sind, das Glatteis mit Erde zu überfahren, um den Weg praktikabel zu erhalten. Der Wunsch, den ich in vorigen Zeiten getan hatte, diese Gegend einmal im Schnee zu sehen, ist mir nun auch gewährt. Der Weg geht an der über Felsen sich immer hinabstürzenden Reuß hinauf, und die Wasserfälle bilden hier die schönsten Formen. Wir verweilten lange bei der Schönheit des einen, der über schwarze Felsen in ziemlicher Breite herunterkam. Hier und da hatten sich, in den Ritzen und auf den Flächen, Eismassen angesetzt, und das Wasser schien über schwarz und weiß gesprengten Marmor herzulaufen. Das Eis blinkte wie Kristalladern und Strahlen in der Sonne, und das Wasser lief rein und frisch dazwischen hinunter. Auf den Gebirgen ist keine beschwerlichere Reisegesellschaft als Maultiere. Sie halten einen ungleichen Schritt, indem sie, durch einen sonderbaren Instinkt, unten an einem steilen Orte erst stehenbleiben, dann denselben schnell hinaufschreiten und oben wieder ausruhen. Sie halten auch auf geraden Flächen, die hier und da vorkommen, manchmal inne, bis sie durch den Treiber oder durch die nachfolgenden Tiere vom Platze bewegt werden. Und so indem man einen gleichen Schritt hält, drängt man sich an ihnen auf dem schmalen Wege vorbei und gewinnt über so eine ganze Reihe den Vorteil. Steht man still, um etwas zu betrachten, so kommen sie einem wieder zuvor, und der betäubende Laut ihrer Klingeln und ihre breit auf die Seite stehende Bürde sind einem hinderlich und beschwerlich. So langten wir endlich auf dem Gipfel des Berges an, den Sie sich wie einen kahlen Scheitel, mit einer Krone umgeben, denken müssen. Man ist hier auf einer Fläche, ringsum wieder von Gipfeln umgeben, und die Aussicht wird in der Nähe und Ferne von kahlen und auch meistens mit Schnee bedeckten Rippen und Klippen eingeschränkt.

Man kann sich kaum erwärmen, besonders da sie nur mit Reisig heizen können und auch dieses sparen müssen, weil sie es fast drei Stunden heraufzuschleppen haben und oberwärts. Wie gesagt, fast gar kein Holz wächst Der Pater ist von Airolo heraufgekommen, so erfroren, daß er bei seiner Ankunft kein Wort hervorbringen konnte. Ob sie gleich hier oben sich bequemer als die übrigen vom Orden tragen dürfen, so ist es doch immer ein Anzug, der für dieses Klima nicht gemacht ist. Er war von Airolo herauf den sehr glatten Weg gegen den Wind gestiegen; der Bart war ihm eingefroren, und es währte eine ganze Weile, bis er sich besinnen konnte. Wir unterhielten uns von der Beschwerlichkeit dieses Aufenthalts;er erzählte, wie es ihnen das Jahr über zu gehen pflege, ihre Bemühungen und häuslichen Umstände. Er sprach nichts als Italienisch, und wir fanden hier Gelegenheit, von den Übungen, die wir uns das Frühjahr in dieser Sprache gegeben, Gebrauch zu machen. Gegen Abend traten wir einen Augenblick vor die Haustüre heraus, um uns vom Pater den Gipfel zeigen zu lassen, den man für den höchsten des Gotthards hält; wir konnten aber kaum einige Minuten dauern, so durchdringend und angreifend kalt ist es. Wir bleiben also wohl für diesmal in dem Hause eingeschlossen, bis wir morgen fortgehen, und haben Zeit genug, das Merkwürdige dieser Gegend in Gedanken zu durchreisen.

Aus einer kleinen geographischen Beschreibung werden Sie sehen, wie merkwürdig der Punkt ist, auf dem wir uns befinden. Der Gotthard ist zwar nicht das höchste Gebirg der Schweiz, und in Savoyen übertrifft ihn der Montblanc an Höhe um sehr vieles; doch behauptet er den Rang eines königlichen Gebirges über alle andere, weil die größten Gebirgsketten bei ihm zusammenlaufen und sich an ihn lehnen. Ja, wenn ich mich nicht irre, so hat mir Herr Wyttenbach zu Bern, der von dem höchsten Gipfel die Spitzen der übrigen Gebirge gesehen, erzählt, daß sich diese alle gleichsam gegen ihn zu neigen schienen. Die Gebirge von Schwyz und Unterwalden, gekettet an die von Uri, steigen von Mitternacht, von Morgen die Gebirge des Graubündner Landes, von Mittag die der italienischen Vogteien herauf, und von Abend drängt sich durch die Furka das doppelte Gebirg, welches Wallis einschließt, an ihn heran. Nicht weit vom Hause hier sind zwei kleine Seen, davon der eine den Tessin durch Schluchten und Täler nach Italien, der andere gleicherweise die Reuß nach dem Vierwaldstätter See ausgießt. Nicht fern von hier entspringt der Rhein und läuft gegen Morgen, und wenn man alsdann die Rhône dazunimmt, die an einem Fuß der Furka entspringt und nach Abend durch das Wallis läuft, so befindet man sich hier auf einem Kreuzpunkte, von dem aus Gebirge und Flüsse in alle vier Himmelsgegenden auslaufen.

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