> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Martinach, den 6. Nov. 1779 abends. (8)

2019-12-09

J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Martinach, den 6. Nov. 1779 abends. (8)






Martinach, den 6. Nov. 1779 abends.

Wie unsre Reise ununterbrochen fortgeht, knüpft sich auch ein Blatt meiner Unterhaltung mit Ihnen ans andre, und kaum hab ich das Ende unsrer Savoyer Wanderungen gefaltet und beiseite gelegt, nehm ich schon wieder ein andres Papier, um Sie mit dem bekannt zu machen, was wir zunächst vorhaben.

Zu Nacht sind wir in ein Land getreten, nach welchem unsre Neugier schon lange gespannt ist. Noch haben wir nichts als die Gipfel der Berge, die das Tal von beiden Seiten einschließen, in der Abenddämmerung gesehen. Wir sind im Wirtshause untergekrochen, sehen zum Fenster hinaus die Wolken wechseln, es ist uns so heimlich und so wohl, daß wir ein Dach haben, als Kindern, die sich aus Stühlen, Tischblättern und Teppichen eine Hütte am Ofen machen und sich darin bereden, es regne und schneie draußen, um angenehme eingebildete Schauer in ihren kleinen Seelen in Bewegung zu bringen. So sind wir in der Herbstnacht in einem fremden, unbekannten Lande. Aus der Karte wissen wir, daß wir in dem Winkel eines Ellenbogens sitzen, von wo aus der kleinere Teil des Wallis, ungefähr von Mittag gegen Mitternacht, die Rhône hinunter sich an den Genfer See anschließt, der andere aber und längste, von Abend gegen Morgen, die Rhône hinauf bis an ihren Ursprung, die Furka, streicht. Das Wallis selbst zu durchreisen macht uns eine angenehme Aussicht; nur wie wir oben hinauskommen werden, erregt einige Sorge. Zuvörderst ist festgesetzt, daß wir, um den untern Teil zu sehen, morgen bis St-Maurice gehen, wo der Freund, der mit den Pferden durch das Pays de Vaud gegangen, eingetroffen sein wird. Morgen abend gedenken wir wieder hier zu sein, und übermorgen soll es das Land hinauf. Wenn es nach dem Rat des Herrn de Saussure geht, so machen wir den Weg bis an die Furka zu Pferde, sodann wieder bis Brig zurück über den Simplonberg, wo bei jeder Witterung eine gute Passage ist, über Domodossola, den Lago Maggiore, über Bellinzona und dann den Gotthard hinauf. Der Weg soll gut und durchaus für Pferde praktikabel sein. Am liebsten gingen wir über die Furka auf den Gotthard, der Kürze wegen und weil der Schwanz durch die italienischen Provinzen von Anfang an nicht in unserm Plane war; allein, wo mit den Pferden hin, die sich nicht über die Furka schleppen lassen, wo vielleicht gar schon Fußgängern der Weg durch Schnee versperrt ist? Wir sind darüber ganz ruhig und hoffen von Augenblick zu Augenblick, wie bisher von den Umständen selbst guten Rat zu nehmen. Merkwürdig ist in diesem Wirtshause eine Magd, die bei einer großen Dummheit alle Manieren einer sich empfindsam zierenden deutschen Fräulein hat. Es gab ein großes Gelächter, als wir uns die müden Füße mit rotem Wein und Kleien, auf Anraten unsers Führers, badeten und sie von dieser annehmlichen Dirne abtrocknen ließen.

Nach Tische

Am Essen haben wir uns nicht sehr erholt und hoffen, daß der Schlaf besser schmecken soll.
Den 7ten. St. Maurice, gegen Mittag.

Unterweges ist es meine Art, die schönen Gegenden zu genießen, daß ich mir meine abwesenden Freunde wechselsweise herbeirufe und mich mit ihnen über die herrlichen Gegenstände unterhalte. Komm ich in ein Wirtshaus, so ist ausruhen, mich rückerinnern und an Sie schreiben eins, wenn schon manchmal die allzusehr ausgespannte Seele lieber in sich selbst zusammenfiele und mit einem halben Schlaf sich erholte. Heute früh gingen wir in der Dämmerung von Martinach weg; ein frischer Nordwind ward mit dem Tage lebendig, wir kamen an einem alten Schlosse vorbei, das auf der Ecke steht, wo die beiden Arme des Wallis ein Y machen. Das Tal ist eng und wird auf beiden Seiten von mannigfaltigen Bergen beschlossen, die wieder zusammen von eigenem, erhaben lieblichem Charakter sind. Wir kamen dahin, wo der Trientstrom um enge und gerade Felsenwände herum in das Tal dringt, daß man zweifelhaft ist, ob er nicht unter den Felsen hervorkomme. Gleich dabei steht die alte, vorm Jahr durch den Fluß beschädigte Brücke, unweit welcher ungeheure Felsstücke vor kurzer Zeit vom Gebirge herab die Landstraße verschüttet haben. Diese Gruppe zusammen würde ein außerordentlich schönes Bild machen. Nicht weit davon hat man eine neue hölzerne Brücke gebaut und ein an der Stück Landstraße eingeleitet. Wir wußten, daß wir uns dem berühmten Wasserfall der Pissevache näherten, und wünschten einen Sonnenblick, wozu uns die wechselnden Wolken einige Hoffnung machten. An dem Wege betrachteten wir die vielen Granit- und Gneisstücke, die bei ihrer Verschiedenheit doch alle eines Ursprungs zu sein schienen. Endlich traten wir vor den Wasserfall, der seinen Ruhm vor vielen andern verdient. In ziemlicher Höhe schießt aus einer engen Felskluft ein starker Bach flammend herunter in ein Becken, wo er in Staub und Schaum sich weit und breit im Wind herumtreibt. Die Sonne trat hervor und machte den Anblick doppelt lebendig. Unten im Wasserstaube hat man einen Regenbogen hin und wieder, wie man geht, ganz nahe vor sich. Tritt man weiter hinauf, so sieht man noch eine schönere Erscheinung. Die luftigen, schäumenden Wellen des obern Strahls, wenn sie gischend und flüchtig die Linien berühren, wo in unsern Augen der Regenbogen entstehet, färben sich flammend, ohne daß die aneinanderhängende Gestalt eines Bogens erschiene; und so ist an dem Platze immer eine wechselnde feurige Bewegung. Wir kletterten dran herum, setzten uns dabei nieder und wünschten ganze Tage und gute Stunden des Lebens dabei zubringen zu können. Auch hier wieder, wie so oft auf dieser Reise, fühlten wir, daß große Gegenstände im Vorübergehen gar nicht empfunden und genossen werden können. Wir kamen in ein Dorf, wo lustige Soldaten waren, und tranken daselbst neuen Wein, den man uns gestern auch schon vorgesetzt hatte. Er sieht aus wie Seifenwasser, doch mag ich ihn lieber trinken als ihren sauren jährigen und zweijährigen. Wenn man durstig ist, bekommt alles wohl. Wir sahen St-Maurice von weitem, wie es just an einem Platze liegt, wo das Tal sich zu einem Passe zusammendrückt. Links über der Stadt sahen wir an einer Felsenwand eine kleine Kirche mit einer Einsiedelei angeflickt, wo wir noch hinaufzusteigen denken. Hier im Wirtshaus fanden wir ein Billett vom Freunde, der zu Bex, drei Viertelstunden von hier, geblieben ist. Wir haben ihm einen Boten geschickt. Der Graf ist spazierengegangen, vorwärts die Gegend noch zu sehen; ich will einen Bissen essen und alsdann auch nach der berühmten Brücke und dem Paß zu gehn.

Nach eins

Ich bin wieder zurück von dem Fleckchen, wo man tagelang sitzen, zeichnen, herumschleichen und, ohne müde zu werden, sich mit sich selbst unterhalten könnte. Wenn ich jemanden einen Weg ins Wallis raten sollte, so wär es dieser vom Genfer See die Rhône herauf. Ich bin auf dem Weg nach Bex zu über die große Brücke gegangen, wo man gleich ins Berner Gebiet eintritt. Die Rhône fließt dort hinunter, und das Tal wird nach dem See zu etwas weiter. Wie ich mich umkehrte, sah ich die Felsen sich bei St-Maurice zusammendrücken, und über die Rhône, die unten durchrauscht, in einem hohen Bogen eine schmale, leichte Brücke kühn hinübergesprengt. Die mannigfaltigen Erker und Türme einer Burg schließen drüben gleich an, und mit einem einzigen Tore ist der Eingang ins Wallis gesperrt. Ich ging über die Brücke nach St-Maurice zurück, suchte noch vorher einen Gesichtspunkt, den ich bei Hubern gezeichnet gesehn habe und auch ungefähr fand.

Der Graf ist wiedergekommen, er war den Pferden entgegengegangen und hat sich auf seinem Braunen vorausgemacht. Er sagt, die Brücke sei so schön und leicht gebaut, daß es aussehe, als wenn ein Pferd flüchtig über einen Graben setzt. Der Freund kommt auch an, zufrieden von seiner Reise. Er hat den Weg am Genfer See her bis Bex in wenigen Tagen zurückgelegt und es ist eine allgemeine Freude, sich wiederzusehen.

Martinach, gegen neun

Wir sind tief in die Nacht geritten, und der Herweg hat uns länger geschienen als der Hinweg, wo wir von einem Gegenstand zu dem andern gelockt worden sind. Auch habe ich aller Beschreibungen und Reflexionen für heute herzlich satt, doch will ich zwei schöne noch geschwind in der Erinnerung festsetzen. An der Pissevache kamen wir in tiefer Dämmerung wieder vorbei. Die Berge, das Tal und selbst der Himmel waren dunkel und dämmernd. Graulich und mit stillem Rauschen sah man den herabschießenden Strom von allen andern Gegenständen sich unterscheiden, man bemerkte fast gar keine Bewegung. Es war immer dunkler geworden. Auf einmal sahen wir den Gipfel einer sehr hohen Klippe, völlig wie geschmolzen Erz im Ofen, glühen und roten Dampf davon aufsteigen. Dieses sonderbare Phänomen wirkte die Abendsonne, welche den Schnee und den davon aufsteigen den Nebel erleuchtete.




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