> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Münster, den 11. abends 6 Uhr. (13)

2019-12-10

J.W.v.Goethe: Briefe a. d. Schweiz 2. Abt. : Münster, den 11. abends 6 Uhr. (13)



Münster, den 11. abends 6 Uhr. 

Wieder einen glücklichen und angenehmen Tag zurückgelegt! Heute früh, als wir von Brig bei guter Tagszeit ausritten, sagte uns der Wirt noch auf den Weg, wenn der Berg, so nennen sie hier die Furka, gar zu grimmig wäre, so möchten wir wieder zurückkehren und einen andern Weg suchen. Mit unsern zwei Pferden und einem Maulesel kamen wir nun bald über angenehme Matten, wo das Tal so eng wird, daß es kaum einige Büchsenschüsse breit ist. Es hat daselbst eine schöne Weide, worauf große Bäume stehen und Felsstücke, die sich von benachbarten Bergen abgelöst haben, zerstreut liegen. Das Tal wird immer enger, man ist genötiget, an den Bergen seitwärts hinaufzusteigen, und hat nunmehr die Rhône in einer schroffen Schlucht immer rechts unter sich. In der Höhe aber breitet sich das Land wieder aus, auf mannigfaltig gebogenen Hügeln sind schöne nahrhafte Matten, liegen hübsche Örter, die mit ihren dunkelbraunen hölzernen Häusern gar wunderlich unter dem Schnee hervorgucken. Wir gingen viel zu Fuß und taten’s uns einander wechselseitig zu Gefallen. Denn ob man gleich auf den Pferden sicher ist, so sieht es doch immer gefährlich aus, wenn ein anderer auf so schmalen Pfaden, von so einem schwachen Tiere getragen, an einem schroffen Abgrund vor einem herreitet. Weil nun kein Vieh auf der Weide sein kann, indem die Menschen alle in den Häusern stecken, so sieht eine solche Gegend sehr einsam aus, und der Gedanke, daß man immer enger und enger zwischen ungeheuren Gebirgen eingeschlossen wird, gibt der Imagination graue und unangenehme Bilder, die einen, der nicht recht fest im Sattel säße, gar leicht herabwerfen könnten. Der Mensch ist niemals ganz Herr von sich selbst. Da er die Zukunft nicht weiß, da ihm sogar der nächste Augenblick verborgen ist, so hat er oft, wenn er etwas Ungemeines vornimmt, mit unwillkürlichen Empfindungen, Ahnungen, traumartigen Vorstellungen zu kämpfen, über die man kurz hinterdrein wohl lachen kann, die aber oft in dem Augenblicke der Entscheidung höchst beschwerlich sind. In unserm Mittagsquartier begegnete uns was Angenehmes. Wir traten bei einer Frau ein, in deren Hause es ganz rechtlich aussah. Ihre Stube war nach hiesiger Landesart ausgetäfelt, die Betten mit Schnitzwerk gezieret, die Schränke, Tische, und was sonst von kleinen Repositorien an den Wänden und in den Ecken befestigt war, hatte artige Zieraten von Drechsel- und Schnitzwerk. An den Porträts, die in der Stube hingen, konnte man bald sehen, daß mehrere aus dieser Familie sich dem geistlichen Stand gewidmet hatten. Wir bemerkten auch eine Sammlung wohl eingebundener Bücher über der Tür, die wir für eine Stiftung eines dieser Herren hielten. Wir nahmen die Legenden der Heiligen herunter und lasen drin, während das Essen vor uns zubereitet wurde. Die Wirtin fragte uns einmal, als sie in die Stube trat, ob wir auch die Geschichte des heiligen Alexis gelesen hätten? Wir sagten nein, nahmen aber weiter keine Notiz davon, und jeder las in seinem Kapitel fort. Als wir uns zu Tische gesetzt hatten, stellte sie sich zu uns und fing wieder von dem heiligen Alexis an zu reden. Wir fragten, ob es ihr Patron oder der Patron ihres Hauses sei, welches sie verneinte, dabei aber versicherte, daß dieser heilige Mann so viel aus Liebe zu Gott ausgestanden habe, daß ihr seine Geschichte erbärmlicher vorkomme als viele der übrigen. Da sie sah, daß wir gar nicht unterrichtet waren, fing sie uns an zu erzählen: Es sei der heilige Alexis der Sohn vornehmer, reicher und gottesfürchtiger Eltern in Rom gewesen, sei ihnen, die den Armen außerordentlich viel Gutes getan, in Ausübung guter Werke mit Vergnügen gefolgt; doch habe ihm dieses noch nicht genuggetan, sondern er habe sich in der Stille Gott ganz und gar geweiht und Christo eine ewige Keuschheit angelobet. Als ihn in der Folge seine Eltern an eine schöne und treffliche Jungfrau verheiraten wollen, habe er zwar sich Ihrem Willen nicht widersetzt, die Trauung sei vollzogen worden; er habe sich aber, anstatt sich zu der Braut in die Kammer zu begeben, auf ein Schiff, das er bereit gefunden, gesetzt und sei damit nach Asien übergefahren. Er habe daselbst die Gestalt eines schlechten Bettlers angezogen und sei dergestalt unkenntlich geworden, daß ihn auch die Knechte seines Vaters, die man ihm nachgeschickt, nicht erkannt hätten. Er habe sich daselbst an der Türe der Hauptkirche gewöhnlich aufgehalten, dem Gottesdienst beigewohnt und sich von geringen Almosen der Glaubigen genährt Nach drei oder vier Jahren seien verschiedene Wunder geschehen, die ein besonderes Wohlgefallen Gottes angezeigt. Der Bischof habe in der Kirche eine Stimme gehört, daß er den frömmsten Mann, dessen Gebet vor Gott am angenehmsten sei, in die Kirche rufen und an seiner Seite den Dienst verrichten sollte. Da dieser hierauf nicht gewußt, wer gemeint sei, habe ihm die Stimme den Bettler angezeigt, den er denn auch zu großem Erstaunen des Volks hereingeholt. Der heilige Alexis, betroffen, daß die Aufmerksamkeit der Leute auf ihn rege geworden, habe sich in der Stille davon und auf ein Schiff gemacht, willens, weiter sich in die Fremde zu begeben. Durch Sturm aber und andere Umstände sei er genötiget worden, in Italien zu landen. Der heilige Mann habe hierin einen Wink Gottes gesehen und sich gefreut eine Gelegenheit zu finden, wo er die Selbstverleugnung im höchsten Grade zeigen konnte. Er sei daher geradezu auf seine Vaterstadt losgegangen, habe sich als ein armer Bettler vor seiner Eltern Haustür gestellt, diese, ihn auch dafür haltend, haben ihn nach ihrer frommen Wohltätigkeit gut aufgenommen und einem Bedienten aufgetragen, ihn mit Quartier im Schloß und den nötigen Speisen zu versehen. Dieser Bediente, verdrießlich über die Mühe und unwillig über seiner Herrschaft Wohltätigkeit, habe diesen anscheinenden Bettler in ein schlechtes Loch unter der Treppe gewiesen und ihm daselbst geringes und sparsames Essen gleich einem Hunde vorgeworfen. Der heilige Mann, anstatt sich dadurch irremachen zu lassen, habe darüber erst Gott recht in seinem Herzen gelobt und nicht allein dieses, was er so leicht ändern können, mit gelassenem Gemüte getragen, sondern auch die andaurende Betrübnis der Eltern und seiner Gemahlin über die Abwesenheit ihres so geliebten Alexis mit unglaublicher und übermenschlicher Standhaftigkeit ausgehalten. Denn seine vielgeliebten Eltern und seine schöne Gemahlin hat er des Tags wohl hundertmal seinen Namen ausrufen hören, sich nach ihm sehnen und über seine Abwesenheit ein kummervolles Leben verzehren sehen. An dieser Stelle konnte sich die Frau der Tränen nicht mehr enthalten, und ihre beiden Mädchen, die sich während der Erzählung an ihren Rock angehängt, sahen unverwandt an die Mutter hinauf. ,,Ich weiß mir keinen erbärmlichern Zustand vorzustellen", sagte sie, ,,und keine größere Marter, als was dieser heilige Mann bei den Seinigen und aus freiem Willen ausgestanden hat. Aber Gott hat ihm seine Beständigkeit aufs herrlichste vergolten und bei seinem Tode die größten Zeichen der Gnade vor den Augen der Gläubigen gegeben. Denn als dieser heilige Mann, nachdem er einige Jahre in diesem Zustande gelebt, täglich mit größter Inbrunst dem Gottesdienste beigewohnet, so ist er endlich krank geworden, ohne daß jemand sonderlich auf ihn achtgegeben. Als darnach an einem Morgen der Papst, in Gegenwart des Kaisers und des ganzen Adels, selbst hohes Amt gehalten, haben auf einmal die Glocken der ganzen Stadt Rom wie zu einem vornehmen Totengeläute zu lauten angefangen; wie nun jedermänniglich darüber erstaunt, so ist dem Papste eine Offenbarung geschehen, daß dieses Wunder den Tod des heiligsten Mannes in der ganzen Stadt anzeige, der in dem Hause des Patricii *** soeben verschieden sei. Der Vater des Alexis fiel auf Befragen selbst auf den Bettler. Er ging nach Hause und fand ihn unter der Treppe wirklich tot. In den zusammengefalteten Händen hatte der heilige Mann ein Papier stecken, welches ihm der Alte, wiewohl vergebens, herauszuziehen suchte. Er brachte diese Nachricht dem Kaiser und Papst in die Kirche zurück, die alsdann mit dem Hofe und der Klerisei sich aufmachten, um selbst den heiligen Leichnam zu besuchen. Als sie angelangt, nahm der Heilige Vater ohne Mühe das Papier dem Leichnam aus den Händen, überreichte es dem Kaiser, der es sogleich von seinem Kanzler vorlesen ließ. Es enthielte dieses Papier die bisherige Geschichte dieses Heiligen. Da hätte man nun erst den übergroßen Jammer der Eltern und der Gemahlin sehen sollen, die ihren teuren Sohn und Gatten so nahe bei sich gehabt und ihm nichts zugute tun können und nunmehro erst erfuhren, wie übel er behandelt worden. Sie fielen über den Körper her, klagten so wehmütig, daß niemand von allen Umstehenden sich des Weinens enthalten konnte. Auch waren unter der Menge Volks, die sich nach und nach zudrängten, viele Kranke, die zu dem heiligen Körper gelassen und durch dessen Berührung gesund wurden." Die Erzählerin versicherte nochmals, indem sie ihre Augen trocknete, daß sie keine erbärmlichere Geschichte jemals gehört habe; und mir kam selbst ein so großes Verlangen zu weinen an, daß ich Mühe hatte, es zu verbergen und zu unterdrücken. Nach dem Essen suchte ich im Pater Cochem die Legende selbst auf und fand, daß die gute Frau den ganzen reinen menschlichen Faden der Geschichte behalten und alle abgeschmackten Anwendungen dieses Schriftstellers vergessen hatte.

Wir gehen fleißig ins Fenster und sehen uns nach der Witterung um, denn wir sind jetzt sehr im Fall, Winde und Wolken anzubeten. Die frühe Nacht und die allgemeine Stille ist das Element, worin das Schreiben recht gut gedeiht, und ich bin überzeugt, wenn ich mich nur einige Monate an so einem Orte innehalten könnte und müßte, so würden alle meine angefangenen Dramen eins nach dem andern aus Not fertig. Wir haben schon verschiedene Leute vorgehabt und sie nach dem Übergange über die Furka gefragt, aber auch hier können wir nichts Bestimmtes erfahren, ob der Berg gleich nur zwei Stunden entfernt ist. Wir müssen uns also darüber beruhigen und morgen mit Anbruche des Tages selbst rekognoszieren und sehen, wie sich unser Schicksal entscheidet. So gefaßt ich auch sonst bin, so muß ich gestehen, daß mir’s höchst verdrießlich wäre, wenn wir zurückgeschlagen würden. Glückt es, so sind wir morgen abend in Realp auf dem Gotthard und übermorgen zu Mittage auf dem Gipfel des Bergs bei den Kapuzinern; mißlingt’s, so haben wir nur zwei Wege zur Retirade offen, wovon keiner sonderlich besser ist als der andere. Durchs ganze Wallis zurück und den bekannten Weg über Bern auf Luzern; oder auf Brig zurück und erst durch einen großen Umweg auf den Gotthard! Ich glaube, ich habe Ihnen das in diesen wenigen Blättern schon dreimal gesagt. Freilich ist es für uns von der größten Wichtigkeit. Der Ausgang wird entscheiden, ob unser Mut und Zutrauen, daß es gehen müsse, oder die Klugheit einiger Personen, die uns diesen Weg mit Gewalt widerraten wollen, recht behalten wird. Soviel ist gewiß, daß beide, Klugheit und Mut, das Glück über sich erkennen müssen. Nachdem wir vorher nochmals das Wetter examiniert, die Luft kalt, den Himmel heiter und ohne Disposition zu Schnee gesehen haben, legen wir uns ruhig zu Bette.

Münster, den 12. Nov. früh 6 Uhr.


Wir sind schon fertig und alles ist eingepackt, um mit Tagesanbruch von hier wegzugehen. Wir haben zwei Stunden bis Oberwald, und von da rechnet man gewöhnlich sechs Stunden auf Realp. Unser Maultier geht mit dem Gepäck nach, so weit wir es bringen können.





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