Supplement des Rochus-Festes; 1814
DAS lebendige Schauen der nunmehr zu beschreibenden Örtlichkeiten und Gegenstände verdanke ich der geliebten wie verehrten Familie Brentano, die mir an den Ufern des Rheins, auf ihrem Landgute zu Winkel, viele glückliche Stunden bereitete.
Die herrliche Lage des Gebäudes läßt nach allen Seiten die Blicke frei, und so können auch die Bewohner, zu welchen ich mehrere Wochen mich dankbar zählte, sich ringsumher, zu Wasser und Land, fröhlich bewegen. Zu Wagen, Fuß und Schiff erreichte man auf beiden Ufern die herrlichsten, oft vermuteten, öfters unvermuteten Standpunkte. Hier zeigt sich die Welt mannigfaltiger, als man sie denkt; das Auge selbst ist sich in der Gegenwart nicht genug—wie sollte nunmehr ein schriftliches Wort hinreichen, die Erinnerung aus der Vergangenheit hervorzurufen? Mögen deshalb diese Blätter wenigstens meinem Gefühl an jenen unschätzbaren Augenblicken und meinem Dank dafür treulich gewidmet sein.
Den 1. September.
Kloster Eibingen gibt den unangenehmsten Begriff eines zerstörten würdigen Daseins. Die Kirche alles Zubehörs beraubt, Zimmer und Säle ohne das mindeste Hausgerät, die Zellenwände eingeschlagen, die Türen nach den Gängen mit Riegeln verzimmert, die Fache nicht ausgemauert, der Schutt umherliegend. Warum denn aber diese Zerstörung ohne Zweck und Sinn? Wir vernehmen die Ursache. Hier sollte ein Lazarett angelegt werden, wenn der Kriegsschauplatz in der Nähe geblieben wäre. Und so muß man sich noch über diesen Schutt und über die verlassene Arbeit freuen. Man scheint übrigens gegenwärtig die leeren Räume zu Monturkammern und Aufbewahrung älterer, wenig brauchbarer Kriegsbedürfnisse benutzen zu wollen. Im Chor Hegen Sättel gereihet, in Sälen und Zimmern Tornister, an abgelegten Montierungsstücken fehlt es auch nicht, so daß, wenn eine der Nonnen vor Jahren die Gabe des Vorgesichts gehabt hätte, sie sich vor der künftigen Zerrüttung und Entweihung hätte entsetzen müssen. Die Wappen dieser ehemals hier beherbergten und ernährten Damen verzieren noch einen ausgeleerten Saal.
Hierauf besuchten wir in Rüdesheim das Brömserische Gebäude, welches zwar merkwürdige, aber unerfreuliche Reste aus dem sechzehnten Jahrhundert enthält. Nur ist ein Familiengemälde der Herrn von Croneburg, von 1549, in seiner Art besonders gut und der Aufmerksamkeit aller Freunde des Altertums und der Kunst würdig. In der Stadtkirche auf dem Markt befindet sich das Wunderbild, das ehemals so viele Gläubige nach Not-Gottes gezogen hatte. Christus knieend, mit aufgehobenen Händen, etwa acht Zoll hoch, wahrscheinlich die übrig gebliebene Hauptfigur einer uralten Ölbergsgruppe. Kopf und Körper aus Holz geschnitzt. Das Gewand von feinem Leinenzeuge aufgeklebt, fest anliegend, wo die Falten schon ins Holz geschnitzt waren, an den rohen Armen aber locker, die Ärmel bildend und ausgestopft, das Ganze bekreidet und bemalt. Die angesetzten Hände zwar zu lang, die Gelenke und Nägel hingegen gut ausgedrückt; aus einer nicht unfähigen, aber ungeschickten Zeit.
Den 2. September.
Ohngefähr in der Mitte von Winkel biegt man aus nach der Höhe zu, um Vollraths zu besuchen. Erst geht der Weg zwischen Weinbergen, dann erreicht man eine Wiesenflächc; sie ist hier unerwartet, feucht und mit Weiden umgeben. Am Fuss des Gebirges auf einem Hügel liegt das Schloß, rechts und links fruchtbare Felder und Weinberge, einen Bergwald von Buchen und Eichen im Rücken.
Der Schloßhof, von ansehnlichen Wohn- und Haushaltungsgebäuden umschlossen, zeugt von altem Wohlstande; der kleinere hintere Teil desselben ist den Feldbedürfnissen gewidmet.
Rechts tritt man in einen Garten, der, wie das Ganze, von altem Wohlbaben und gutsherrlicher Vorsorge zeugt und jetzt als eine belebte Ruine uns eigentümlich anspricht. Die sonst pyramiden- und fächerartig gehaltenen Obstbäume sind zu mächtigen Stämmen und Asten kunstlos wild ausgewachsen, überschatten die Beete, ja verdrängen die Wege und geben, von vortrefflichem Obste reich behangen, den wundersamsten Anblick. Eine Lustwohnung, von dem Kurfürsten aus der Greiffenklauischen Familie erbaut, empfängt mit sichtbarstem Verfall den Eintretenden. Die untern Räume sind völlig entadelt; der Saal des ersten Stocks erweckt durch Familienbilder, die, ohne gut gemalt zu sein, doch die Gegenwart der Persönlichkeiten aussprechen, das Andenken einer früheren blühenden Zeit. Lebensgroß sitzt ein behaglicher Greiffenklau, der auf sich und seinen Zustand sich etwas einbilden durfte. Zwei Gattinnen und mehrere Söhne, Domherrn, Soldaten und Hofleute stehen ihm zur Seite, und was von Kindern, vielleicht auch Verwandten, auf ebenem Boden nicht Platz fand, erscheint als Gemälde im Gemälde oben in Bilde. So hängen auch Kurfürsten, Domherrn und Ritter lebensgroß, in ganzen und halben Figuren umher, in dem nicht verwüsteten, aber wüsten Saale, wo alte reiche Stühle zwischen vernachlässigten Samenstauden und an dem Unrat unordentlich noch ihren Platz behaupten. In den Seitenzimmern schlottern die Goldledertapeten an den Wänden; man scheint die Tapeziermängel, die sie festhielten, zu anderm Gebrauch herausgezogen zu haben. Wendet nun das Auge von diesem Greuel sich weg gegen das Fenster, so genießt es, den verwilderten fruchtbaren Garten unter sich, der herrlichsten Aussicht. Durch ein sanft geöffnetes Tal sieht man Winkel nach seiner Länge; überrheinisch sodann Nieder- und Oberingelheim, in fruchtbarer Gegend. Wir gingen durch den vernachlässigten Garten, die Baumschulen aufzusuchen, die wir aber in gleichem Zustande fanden; der Gärtner, wollte man wissen, liebe die Fischerei.
Draußen unter dem Garten, auf der Wiese, zog eine große, wohlgewachsene Pappel unsere Aufmerksamkeit an sich: wir hörten, sie sei am Hochzeitsfeste des vorletzten Greiffenklau gepflanzt, dessen Witwe noch zuletzt diese Herrlichkeiten mit ungebändigter Lust genossen habe. Nach dem frühzeitigen Tode eines Sohnes aber ging der Besitz dieses schönen Guts auf eine andere Linie hinüber, welche, entfernt wohnend, für dessen Erhaltung weniger besorgt zu sein scheint. Einen wunderlichen, in einen kleinen Teich gebauten Turm gingen wir vorüber und verfügten uns in das ansehnliche Wohngebäude.
Hatten wir gestern im Kloster Eibingen die Zerstörung gesehen, welche durch Änderung der Staats-Verhältnisse, Religionsbegrifle, durch Kriegsläufte und andere Sorgen und Bedürfnisse mit Willen und Unwillen einreißt, sahen wir dort ein aufgehobenes Kloster, so fanden wir hier die Spuren einer alten Familie, die sich selbst aufhebt. Die ehrwürdigen Stammbäume erhielten sich nochan den Wänden der umherlaufenden Gänge. Hier sproßten Greiffenklaue und Sickingen gegen einander über und verzweigten sich ins Vielfache; die vornehmsten und berühmtesten Namen schlossen sich weiblicherseits an den Greiffenklauischen.
Auf einem andern dieser Bilder knieten Bischöfe, Äbte, Geistliche, Frauen unter dem Baume, von dem sie entsprossen, Heil erbittend. Ein drittes Gemälde dieser Art war, mutwillig oder absichtlich, entstellt; es hatte jemand den Stammvater herausgeschnitten, vielleicht ein Liebhaber solcher Altertümer, denen nirgends zu trauen ist. Da schwebten nun Äste und Zweige in der Luft, das Verdorren weissagend.
Wie unterhaltend übrigens in guten lebendigen Zeiten diese Galerien für Familienglieder, für Verwandte müssen gewesen sein, kann man noch daraus ermessen, daß die Grundrisse mancher Besitzungen mit ihren Grenzen, Gerechtsamen, streitigen Bezirken, und was sonst bemerklich sein mochte, hier aufgehangen und vor das Auge gebracht sind.
Doch fehlte nunmehr manches, was Besuchende hier in früherer Zeit gekannt hatten, und wir entdeckten zuletzt in einer Kammer sämtliche Familienbilder, flözweise übereinander geschichtet und dem Verderben geweiht. Einige sind wert, erhalten zu sein, allen hätte man wohl einen Platz an den Wänden gegönnt. In wenigen Zimmern finden sich noch Stühle und Bettstellen, Kommoden und dergleichen, durch Zeit und Unordnung langsam verdorben und unbrauchbar;
In der kleinen Kapelle wird noch Gottesdienst gehalten; auch diese ist nur notdürftig reinlich. Ein paar kleine griechische Bildchen verdienen kaum aus diesem allgemeinen Verderben gerettet zu werden.
Aus solchen traurigen Umgebungen eilten wir in die reiche, frohe Natur, indem wir auf der Höhe des Hügels, Weinberge links, frisch geackerte Fruchtfelder rechts, dem Johannisberg zugingen. Die Grenze des Weinbaues bezeichnet zugleich die Grenze des aufgeschwemmten Erdreichs; wo die Äcker anfangen, zeigt sich die ursprüngliche Gebirgsart. Es ist ein Quarz, dem Tonschiefer verwandt, der sich in Platten und Prismen zu trennen pflegt.
Man kann nicht unterlassen, links hinterwärts nach dem Fluß und nach denen ihn an beiden Ufern begleitenden Landschaften und Wohnlichkeiten umzuschauen, die, im einzelnen schon bekannt, mit größerem Anteil im ganzen überblickt werden.
Überrascht wird man aber doch, wenn man auf den Altan des Johannisberger Schlosses tritt. Denn wollte man auch alle in der Festbeschreibung genannten Orte und Gegenstände wiederholen, so würde sich doch nur dasjenige allenfalls in der Folge dem Gedächtnis darstellen, was man hier auf einmal übersieht, wenn man, auf demselben Flecke stehend, den Kopf nur rechts und links wendet. Denn von Biebrich bis Bingen ist alles einem gesunden oder bewaffneten Auge sichtbar: der Rhein, mit denen daran gegürteten Ortschaften, mit Inselauen, jenseitigen Ufern und ansteigenden Gefilden; links oben die blauen Gipfel des Altkins und Feldbergs, gerade vor uns der Rücken des Donnersbergs! Er leitet das Auge nach der Gegend, woher die Nahe fließt. Rechts unten liegt Bingen, daneben die ahndungsvolle Bergschlucht, wohin sich der Rhein verliert.
Die uns im Rücken verweilende Abendsonne beleuchtete diese mannigfaltigen Gegenstände an der uns zugekehrten Seite. Leichte, seltsam, streifenweis vom Horizont nach
dem Zenit strebende Wolken unterbrachen die allgemeine Klarheit des Bildes; wechselnde Sonnenblicke lenkten jetzt die Aufmerksamkeit bald dabald dorthin, und das Auge ward stellenweise mit einzelner frischer Anmut ergetzt. Der Zustand des Schlosses selbst störte nicht diese an- genehmen Eindrücke. Leer stehts, ohne Hausgerät, aber nicht verdorben.
Bei untergehender Sonne bedeckte sich der Himmel von allen Seiten mit bunten, immer auf den Horizont sich beziehenden, pfeilförmigen Streifen; sie verkündigten eine Wetterveränderung, über welche die Nacht entscheiden wird.
Den 3. September.
Der Morgenhimmel, erst völlig umwölkt, erheiterte sich bei fortdauerndem Nordwind. Nachdem wir in Geisenheim bei einem Handelsmanne ein altes Gemälde gesehen, ging der Weg aufwärts durch einen Eichenbusch, welcher alle vierzehn Jahre zum Behuf der Gerberei abgetrieben wird. Hier findet sich das Quarzgestein wieder und weiter oben eine Art von Totliegendem. Rechts blickt man in ein tiefes, von alten und jungen Eichen vollgedrängtes Bergtal hinab; die Türme und Dächer eines alten Klosters zeigen sich, von dem reichsten Grün ganz eingeschlossen, in wildem einsamen Grunde—eine Lage, übereinstimmend mit dem Namen dieser heiligen Stätte: denn man nennt sie noch immer Not Gottes^ obgleich das Wunderbild, das dem Ritter hier seine Not zujammerte, in die Kirche von Rüdesheim versetzt worden. Völlig unwirtbar erschiene diese Stelle noch jetzt, hätte man nicht einen kleinen Teil der angrenzenden Höhe gerodet und dem; Feldbau gewidmet.
Aufwärts dann, eine hochgelegene, bebaute Fläche hin, geht der Weg, bis man endlich auf den Niederwald gelangt, wo eine gerade, lange, breite Fahrstraße vornehme Anlagen verkündigt. Am Ende derselben steht ein Jagdschloss, mit Nebengebäuden. Schon vor dem Hofraum, bester von einem Türmchen, sieht man in der ungeheuren Schlucht den Rhein abwärts fließen. Lorch, Trechtlings
hausen, Bacharach sind hüben und drüben zu sehen, und mir war in diesem Blick der Anfang einer neuen Gegend und der völlige Abschluß des Rheingaues gegeben. Auf einem Spaziergang durch den Wald gelangte man zu verschiedenen Aussichten und endlich zu einem auf einer Felskuppe des Vorgebirgs liegenden Altan, von welchem eine der schönsten Übersichten genossen wird: tief unter uns die Strömung des Binger Lochs, oberhalb derselben den Mäuseturm; die Nahe, durch die Brücke von Bingen herfließend, aufwärts der Bergrücken der Rochuskapelle und was dem angehört—eine große, in allen Teilen mannigfaltige Ansicht. Wendet sich das Auge zurück und unterwärts, so sehen wir das verfallene Schloß Ehrenfels zu unsern Füßen.
Durch eine große, wohlbestandne Waldstrecke gelangt man zu dem gegen Norden gerichteten runden Tempel. Hier blickt man von neuem rheinaufwärts und findet Anlaß, alles zu summieren, was man diese Tage her gesehen und wieder gesehen hat. Wir sind mit den Gegenständen im einzelnen wohl bekannt, und so läßt sich durch das Fernrohr, ja sogar mit bloßen Augen, manches Besondere, nah und fern, schauen und bemerken.
Wer sich in der Folge bemühte, den Niederwald besser darzustellen, müßte im Auge behalten, wie das Grundgebirge von Wiesbaden her immer mehr an den Rhein heranrückt, den Strom in die westliche Richtung drängt und nun die Felsen des Niederwaldes die Grenzen sind, wo er seinen nördlichen Weg wieder antreten kann. Der steile Fußpfad nach Rüdesheim hinab führt durch die herrlichsten Weinberge, welche mit ihrem lebhaften Grün in regelmäßigen Reihen, wie mit wohlgewirkten Teppichen, manche sich an- und übereinander drängende Hügel bekleiden.
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