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2019-12-06

Rudolf Magnus-Goethe als Naturforscher -Erste Vorlesung: Einleitung (3)

Goethe als Naturforscher


Erste Vorlesung-Einleitung. 

Meine Herren! „Weite Welt und breites Leben, Langer Jahre redlich Streben, Stets geforscht und stets gegründet, Nie geschlossen, oft gerundet. Ältestes bewahrt mit Treue, Freundlich aufgefaßtes Neue, Heitern Sinn und reine Zwecke, Nun! man kommt schon eine Strecke.* Diese Verse, welche der Dichter selbst der Abteilung „Gott und Welt" seiner Gedichte vorangesetzt hat, in welcher er seine naturwissenschaftlichen Dichtungen zusammenfaßte, können auch wir als Motto für eine Betrachtung von Goethes naturwissenschaftlicher Tätigkeit nehmen. Hat er doch von seinen Jünglingsjahren an fast ununterbrochen geforscht und gegründet. Nur die Schlußworte „Nun, man kommt wohl eine Strecke" werden wir als zu bescheiden nicht zu den unsrigen machen: Denn wir haben tatsächlich in Goethe einen der hervorragenden Naturforscher an der Wende des 18. und 19. Jahrhunderts zu sehen, der auf allen den zahlreichen Gebieten, die er bearbeitete, seine Studien mit größter Energie betrieb und sich nie mit dilettantischer Tätigkeit begnügte, sondern nicht ruhte, bis er sich die Kenntnisse und die Selbständigkeit des Fachmanns erworben hatte. Es soll gleich hier zu Beginn auf das schärfste betont werden, daß derselbe Mann, der uns die herrlichsten Dichtungen deutscher Sprache geschenkt hat, seine naturwissenschaftlichen Ergebnisse nicht als gelegentliche Früchte dichterischer Phantasie gewonnen hat, sondern stets die sorgfältigsten und mühevollsten Detailstudien anstellte, ehe er zu seinen oft grundlegenden Verallgemeinerungen gelangte. Nur ist für Goethe charakteristisch, daß er sich nie mit Kleinigkeiten, mit unwichtigen Nebensachen abgab, sondern daß ihn stets die grundlegenden Hauptfragen der von ihm bearbeiteten Gebiete interessierten. So kommt es, daß von den Resultaten, die er in den einzelnen Zweigen der Naturwissenschaft zeitigte, viele geradezu die Grundlage für die weitere Fortentwicklung dieser Wissenschaften geworden sind, und daß eine ganze Reihe von wichtigen Erkenntnissen direkt auf Goethe zurückgeführt werden können.

Müssen wir so die Energie anerkennen, mit der er jedesmal bemüht war, in die Tiefe der Erkenntnis zu dringen, so ist andrerseits die Breite seiner naturwissenschaftlichen Studien erstaunlich. Es ist heutzutage einem einzelnen Menschen überhaupt nicht mehr möglich, Goethe In allen Zweigen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit mit vollem Verständnis nachzugehen. Ich muß daher auch Ihre Nachsicht erbitten, wenn ich diejenigen Gebiete Goethescher Forschung, welche mir persönlich näher liegen, eingehender vor Ihnen erörtere, während ich z. B. seine mineralogischen und geologischen Arbeiten als Nichtfachmann Ihnen nur in kürzerer Übersicht referieren kann.

Goethe hat schon von seiner Studienzeit her Chemie getrieben, er hat die Entwicklung dieser Wissenschaft sorgfältig verfolgt und selbst gelegentlich chemische Versuche angestellt. Sehr viel eingehender war seine Beschäftigung mit physikalischen Problemen. Dasjenige Werk, das Goethe selbst für sein hervorragendstes gehalten hat, ist die Farbenlehre, für die er das ganze Gebiet der physikalischen Optik aufs exakteste durchexperimentiert hat; auch späterhin hat er die optischen Versuche fortgesetzt. Die Physik der Atmosphäre beschäftigte ihn lange Jahre hindurch und fand ihren Abschluß in einer eigenen Schrift über Meteorologie. Auch astronomische Beobachtungen blieben ihm nicht fremd. Sehr eingehend war seine Beschäftigung mit Mineralogie und Geologie. Er legte ausgedehnte Sammlungen an, verschaffte sich fachmännische Kenntnis des geologischen Aufbaus der deutschen Mittelgebirge und nahm selbst Stellung zu den sich damals bekämpfenden geologischen Theorien. Sehen wir ihn so fast das gesamte Gebiet der anorganischen Naturwissenschaften bearbeiten, so sind ihm fast noch größere Erfolge bei dem Studium der organischen Natur beschieden gewesen. Pflanzenkunde hat ihn durch viele Jahrzehnte seines Lebens beschäftigt; die moderne Botanik verdankt das erste Eindringen in das Verständnis der Pflanzenform unserem Dichter. Eifrige zoologische Studien gehen nebenher, und wir haben in Goethe den eigentlichen Schöpfer der vergleichenden Anatomie zu sehen: seine Abhandlung über den Zwischenkiefer ist die erste vergleichend-anatomische Abhandlung. Die Knochenlehre studiert er eifrig und bereichert sie durch wichtige Befunde. Auch das Studium der vorsintflutlichen Tiere nach ihren knöchernen Überresten gewinnt sein Interesse. Dabei bleiben diese Forschungen nicht auf die Säugetiere beschränkt, auch Vögel, Fische, ja die Wirbellosen werden in den Kreis der Beobachtung hineingezogen. Aus all diesen Untersuchungen hat dann Goethe die Lehre von der Gestalt der organisierten Wesen, die Morphologie, als eigene Wissenschaft zusammengefaßt und begründet. Doch auch hiermit ist der Kreis seiner Interessen nicht erschöpft. Neben der Form interessiert ihn das Funktionieren der lebenden Gebilde, die Physiologie. Er studiert das Leben der Insekten, beobachtet Entwicklung und Bewegung der Infusionstiere, experimentiert über den Einfluß der Wärme, des Lichts und andrer Bedingungen auf das Pflanzenwachstum. Einen wichtigen Zweig der Physiologie hat er aber geradezu selbst begründet, das ist die physiologische Optik! Ich werde Ihnen später aus-  einanderzusetzen haben, daß die grundlegende Bedeutung der Goetheschen Farbenlehre weniger in ihrem physikalischen als in ihrem physiologischen Teil liegt, und daß die physiologische Optik des 19. Jahrhunderts sich in direktem Anschluß an die Goethesche Farbenlehre entwickelt hat. So sehen wir Goethes Geist den gewaltigen Umfang der Natur ganz umfassen.

Der Dichter hat auf fast allen Gebieten, die er bearbeitete, zunächst seine Forschungen durchaus selbständig begonnen; war er aber zu wichtigen Ergebnissen gelangt, so suchte er den Anschluß an die gleichzeitigen Fachgelehrten, und es hat ihn nichts so sehr gekränkt und erbittert, als daß er fast jedesmal von diesen nicht anerkannt und zurückgewiesen wurde. Später drangen dann in den meisten Fällen die Goetheschen Ideen durch, und so finden wir ihn denn in den letzten Jahrzehnten seines Lebens in regem persönlichen und brieflichen Verkehr mit den hervorragendsten Gelehrten seiner Zeit. Es kam schließlich dazu, daß die Fäden fast der ganzen naturwissenschaftlichen Welt in Weimar zusammenliefen und Goethe nach allen Seiten hin in regem Gedankenaustausch stand. Mit Alexander v. Humboldt verbanden ihn schon früh anatomische, später botanische Interessen. Der Anatom Loder in Jena ist anfangs Goethes Lehrer, und auch später nach dessen Übersiedlung nach Moskau wird der Verkehr brieflich fortgesetzt Mit Sömmering, dem hervorragenden Anatomen in Kassel, später am Senkenbergschen Institut in Frankfurt, steht Goethe in fortgesetzter Verbindung. Seine Beziehungen zu Gall, dem Phrenologen und Gehirnanatomen, werden wir noch zu erörtern haben. Der Chemiker Döbbereiner in Jena, noch heute als der Erfinder des bekannten Feuerzeuges genannt, muß Goethe in allen Fortschritten der Chemie durch Mitteilungen und Experimente auf dem laufenden erhalten. Von dem Meister der modernen Chemie Berzelius sind verschiedene Briefe an Goethe erhalten. Der Botaniker V. Martins in München und eine Reihe von andern zeitgenössischen Botanikern stehen in regem Briefwechsel mit Weimar. D'alton in Bonn und Carus in Dresden, beide vergleichende Anatomen, berichten regelmäßig über ihre wissenschaftlichen Fortschritte an Goethe, und dieser teilt ihnen wieder die eigenen Forschungen, Ideen und Zeichnungen mit. Ein umfassender Briefwechsel wurde mit dem Grafen Kaspar Sternberg besonders über mineralogische und paläontologische Probleme geführt, und auch mit Leonhard, der später Professor der Mineralogie an der Heidelberger Universität wurde, verbanden Goethe personliche und briefliche Beziehungen. Wenn man diese zahlreichen uns erhaltenen Briefe durchmustert, So spricht aus ihnen allen die tiefe Bewunderung und Ehrfurcht nicht nur vor Goethes Persönlichkeit, sondern auch vor dem Ernst und der Bedeutung seiner wissenschaftlichen Bestrebungen.

Nun fiel Goethes Leben allerdings auch in eine Zeit, in der die Naturwissenschaften eine ganz ungeahnte Entwicklung erlebten. Als er geboren wurde, befanden sie sich mit wenig Ausnahmen in einem ziemlichen Tiefstand; als er starb, hatten sie ihren Siegeszug als moderne Naturwissenschaften angetreten, der bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört hat. Goethe hat als junger Mann noch alchimistische Studien getrieben, am Ende seiner Tage aber die neuere Chemie bereits als einen stolzen Bau aufgeführt gesehen. Als er seine botanischen Studien begann, herrschte noch absolut das starre System Linnes, als er sie abschloß, war, zum Teil auf Grund seiner eigenen Arbeiten, die neuere wissenschaftliche Botanik im Entstehen; und so war es auf fast allen Gebieten des Naturganzen.

Das bisher Besprochene bildet aber nur die eine Seite dessen, was uns hier interessiert. Wir haben es nicht allein mit der Schilderung eines der großen Naturforscher zu tun. Es würde, wie ich glaube, niemandem einfallen, eine eigene Vorlesung etwa über Cuvier, Faraday oder selbst Helmholtz vor einem allgemein gebildeten Hörerkreis zu halten. Was uns hier interessiert, ist, daß eben Goethe dieser Naturforscher gewesen ist, daß in dem Leben des Mannes, der uns den Werther, den Faust, den Wilhelm Meister geschenkt hat, die Naturwissenschaften eine solche große Rolle gespielt haben. Und in der Tat ist die Berücksichtigung dieser wissenschaftlichen Beschäftigung Goethes zum Verständnis seines Gesamtbildes und seiner Entwicklung unumgänglich notwendig. Es haben daher die Goethebiographen auch in neuerer Zeit immer größeren Wert auf diese Seite seines Geistes gelegt. Man muß aber im allgemeinen wohl sagen, daß die Kenntnis von Goethes wissenschaftlichen Bestrebungen lange nicht in dem Maße Gemeingut aller Gebildeten geworden ist, als es für eine richtige Würdigung des Dichters wünschenswert wäre, und wir werden im Verlauf dieser Stunden sehen, wie vielfältig die natur- wissenschaftlichen Bestrebungen alles, was Goethe denkt, tut und dichtet, durchdringen und bedingen.

Wir wollen in dieser Einleitung die Frage, wie in Goethes Persönlichkeit der Dichter und der Naturforscher zusammenhängen, nur kurz streifen, um sie dann ein zweites Mal zu erörtern, wenn wir von Goethes Forschungen Näheres erfahren haben. Schon jetzt aber sei darauf hingewiesen, daß das Zusammentreffen von künstlerischer und naturwissenschaftlicher Betätigung bei ein und demselben Individuum gar nicht 80 selten vorzukommen scheint. Um mit geringeren Beispielen zu beginnen, so erinnere ich Sie nur an den Dichter Chamisso, dessen reizvolle Beschreibung seiner Weltumsegelung, auf der er wichtige zoologische und botanische Untersuchungen vornahm, Ihnen allen bekannt ist. Von Albrecht v. Haller wissen die meisten Menschen nur, daß er ein beschreibendes Gedicht über die Alpen verfaßt hat; er war aber außerdem der Begründer der modernen experimentellen Physiologie in Deutschland, und seine Forschungen sind die Grundlage, auf der auch heute noch weiter gearbeitet wird. Schon Goethe hat sich mit den Anschauungen und Dogmen Albrecht V. Hallers mehrfach in polemischer und scharfer Weise auseinanderzusetzen gehabt. Auch unter den bildenden Künstlern finden sich nicht selten Naturforscher. Michelangelo hat seine anatomischen Studien nicht allein deshalb vorgenommen, um seinen Skulpturen und Gemälden höchste Lebenswahrheit verleihen zu können, sondern auch aus reinem Interesse an der wissenschaftlichen Forschung. Die schlagendste Parallele gewährt aber der Mann, in dem Art und Geist des italienischen Volkes ihren höchsten Ausdruck gefunden haben: Leonardo da Vinci. Es ist wohl mehr als ein Zufall, daß gerade jetzt, wo man sich Goethes naturwissenschaftlichen Bestrebungen wieder mit Interesse zuwendet, auch Leonardos gleiche Tätigkeit neu untersucht wird. Ich hatte durch die Liebenswürdigkeit eines italienischen Kollegen Gelegenheit, bei einem diesjährigen Aufenthalt in Florenz einem Vortragszyklus beizuwohnen, welcher in der Societä Leonardo da Vinci über den italienischen Meister gehalten wurde. Wenn ich Ihnen nun ganz kurz aufzähle, was da über Leonardos Bedeutung als Architekt, Anatom und Biologe gesagt wurde, so werden Sie ohne weiteres die auffallende Ähnlichkeit in der Betätigung beider Männer erkennen.

Leonardo hat als Baumeister nicht nur neue künstlerische Gesichtspunkte entwickelt, sondern auch konstruktive und technische Fortschritte angebahnt. Er legte dem Florentiner Rat einen genauen Plan vor, wie man das Baptisterium S. Giovanni, das ziemlich tief in der Erde steckt, als Ganzes, ohne es zu verletzen, heben und auf ein neues Fundament stellen könne. Er galt als der erste Wasserbaumeister seiner Zeit, und seine Pläne zur Kanalisation der Poebene und Toskanas sind Ideale, welche bis heute noch nicht erreicht worden sind. Von ihm stammt die Idee einer völligen Reform des Städtebaus in der Weise, daß jede Stadt zwei voneinander unabhängige Systeme von Straßen besitzen soll, von denen eine nur für Fußgänger, die andere für Wagen und Güterverkehr dient, jedes Haus aber von beiden Straßenzügen zugänglich sein soll. Nur Edinburgh besitzt meines Wissens Andeutungen einer derartigen Bauart. Als Festungsingenieur besaß Leonardo, in ähnlicher Weise übrigens wie auch Michelangelo, weitverbreiteten Ruf; die Zitadelle von Mailand ist von ihm erbaut worden. Er galt als einer der hervorragendsten Artilleristen, der Geschützkonstruktionen erfand und die Geschoßbahnen berechnete. Auch als Mathematiker ist er seiner Zeit weit, vorausgeeilt. Erst in neuerer Zeit ist bekannt geworden, daß wir in Leonardo den eigentlichen Begründer der modernen menschlichen Anatomie zu sehen haben. Während bisher Vesal diesen Ruhm besaß, hat sich jetzt ergeben, daß Leonardo schon mehrere Jahrzehnte früher seine Sektionen menschlicher Leichen ausgeführt und deren Resultate in wunderbaren Zeichnungen niedergelegt hat, zu denen er einen eingehenden wissenschaftlichen erklärenden Text gab. Die einzige Frage, welche heute noch diskutiert wird, ist, ob Vesal von diesen Arbeiten Leonardos Kenntnis hatte, und also des Plagiats schuldig ist, oder ob er selbständig die ganze Anatomie noch einmal entdeckt hat. Auch vergleichend anatomische Studien hat Leonardo angestellt. Er verglich besonders den Aufbau des Menschen mit dem des Pferdes, und legte sich die Frage vor, inwieweit durch die verschiedene Körpergestalt und die verschiedene Funktion der Unterschied in der Anordnung von Knochen und Muskeln bei beiden Wesen bedingt sei. Daneben treffen wir bei Leonardo auf eingehende Beschäftigung mit physiologischen Problemen. Er studierte den auch heute noch nicht aufgeklärten Vogelflug. Er stellte Untersuchungen über die Bewegungen des Blutes an und er scheint der Erste gewesen zu sein, der die Probleme des tierischen Stoffwechsels klar erkannt und formuliert hat. Allgemein bekannt ist, daß er optische Studien betrieben und Forschungen zur Farbenlehre angestellt hat. So finden wir denselben Künstler, der die Mona Lisa und das Abendmahl schuf, als Techniker, Physiker, Anatom und Physiologe tätig. Wenn Sie nun das vergleichen, was ich Ihnen vorhin über Goethes naturwissenschaftliche Wirksamkeit gesagt habe, werden Sie leicht die überraschende Ähnlichkeit in der Geistesart beider Männer erkennen. Freilich war Leonardo Bildner, Goethe Dichter, aber auch hier ist der Unterschied kein so durchgreifender, als es auf den ersten Blick scheint Goethe selbst hat in einem kurzen Aufsatz, anknüpfend an eine Bemerkung in Heinroths Anthropologie, ausgeführt, daß für seine Geistesart die Fähigkeit zu anschaulichem Denken charakteristisch sei, da er das Vermögen besitze, sich alle Dinge, alle Vorgänge, alle Menschen, über die er nachdenke und die er dichte, in jedem Augenblick so plastisch vorzustellen, daß er sie gleichsam vor seinem inneren Auge erscheinen sehe. So operiert Goethe beim Dichten und beim Forschen immer mit optischen Vorstellungen, und es ist ohne weiteres klar, wie ihm das beim wissenschaftlichen Arbeiten, wie für die unmittelbare Anschaulichkeit seiner Dichtungen zustatten kommen mußte. Sehen wir hier den Poeten von der Eigenschaft des Naturforschers Gebrauch machen, so wird auf der andern Seite auch der Forscher Goethe durch die dichterischen Qualitäten unterstützt. Kein geringerer als Helmholtz hat darauf hingewiesen, daß jeder Naturforscher, der mehr leisten will, als die einfache nackte Aufzählung der von ihm beobachteten Erscheinungen, der die Naturphänomene begreifen und zu einem übersichtlichen und verständlichen Ganzen zusammenfassen will, etwas von der schöpferischen Phantasie des Künstlers nötig hat, und so sehen wir, wie sich auch bei Goethe diese beiden Eigenschaften gegenseitig ergänzen und durchdringen: vom Naturforscher die Fähigkeit gegenständlichen Denkens, vom Dichter die schöpferische Phantasie; und wir finden daher sowohl in den naturwissenschaftlichen Werken immer den ganzen Goethe, wie in seinen Dichtungen. So bewundern wir in seinen wissenschaftlichen Abhandlungen neben der Exaktheit der Forschung und der Klarheit des Gedankens auch die Schönheit der Darstellung, und so finden wir auch in Goethes Dichtungen neben der höchsten poetischen Vollendung die außerordentliche Anschaulichkeit der dargestellten Menschen und Handlungen und die Treue in der Wiedergabe der menschlichen Art und der Natur. Auch Goethes Dichtungen kann man erst ganz würdigen, wenn man den naturwissenschaftlichen Einschlag in ihnen bewußt oder unbewußt mit in Rechnung zieht.

Bis in die 80 er Jahre des vorigen Jahrhunderts war man für die Beurteilung von Goethes natur- wissenschaftlicher Tätigkeit im wesentlichen auf diejenigen Aufsätze angewiesen, welche er selbst in seine Werke, einschließlich der nachgelassenen Schriften, aufgenommen hatte, und welche hier ein ziemlich wenig beachtetes Dasein fristeten. In Wirklichkeit ist der Umfang seiner naturwissenschaftlichen Werke ein wesentlich größerer. Schon zu Lebzeiten von Goethes Enkeln haben diese seine naturwissenschaftliche Korrespondenz in einer Reihe von Publikationen veröffentlichen lassen. Nach ihrem Tode wurde Goethes vollständiger Nachlaß der Allgemeinheit zugänglich, und es ist nun auf Grund dieses jetzt im Goethe- und Schillerarchiv befindlichen Materials die Gesamtheit von Goethes naturwissenschaftlichen Aufzeichnungen als 2. Abteilung der großen Weimarer Goetheausgabe in 13 stattlichen Bänden veröffentlicht worden, welche jetzt nahezu vollständig vorliegen. Erst dadurch wurde es möglich, einen wirklichen Einblick in Goethes Forschungen zu gewinnen. Hier sind nicht nur diejenigen Schriften abgedruckt, welche er selbst veröffentlich hat, sondern eine Fülle noch ungedruckten Materials; Aufsätze, Entwürfe, erste, später verworfene Fassungen, Notizen, Aufzeichnungen und Versuchsprotokolle, hingeworfene Ideen zu späteren Arbeiten, kurzum alles, was Goethes Geist in diesen Fragen bewegt hat und was er der Aufzeichnung für wert erachtete. Dadurch ist die Übersicht über Goethes naturwissenschaftliche Forschungen wesentlich vertieft und erweitert, und wir können erst jetzt die Fülle desjenigen ermessen, was ihn alles beschäftigt hat. Nicht minder wichtig erscheint aber, daß sich aus seinen kurzen Notizen und Protokollen ein klarer Einblick in die Art gewinnen läßt, wie er wissenschaftlich arbeitete, wie bei ihm die Probleme sich entwickelten, angepackt und gelöst wurden, wie ihm seine Resultate durchaus nicht spielend zufielen, sondern in ernster, mühevoller und oft enttäuschender Arbeit errungen werden mußten. Indem wir so in die Werkstätte des Forschers einen Einblick tun können, wie das vielleicht bei keinem andern Naturforscher mit gleicher Deutlichkeit möglich ist, gewinnen wir zugleich von einer neuen Seite her ein persönliches Verhältnis zu Goethe und sehen seine reifen Arbeiten aus ihren ersten Anfängen her entstehen und sich entwickeln.

Außer dem handschriftlichen Nachlaß haben Goethes Enkel das Haus ihres Großvaters mit seinem gesamten Inhalt der Nation vermacht, und hier findet sich nun noch wohl erhalten neben den zahlreichen anderen Sammlungen auch alles, was von den naturwissenschaftlichen Studien her von Goethe der Aufbewahrung wert erachtet wurde. Hier ruht in umfangreichen Schränken seine gewaltige, mehr als 18000 Nummern umfassende Mineraliensammlung, welche Stücke von ganz hervorragender Schönheit und Seltenheit enthält. Hier sieht man Skelette und Schädel, an denen Goethe vergleichend anatomische Studien gemacht hat. Hier finden sich zahlreiche physikalische, besonders elektrische Apparate, mit denen er für sich und bei seinen Vorträgen experimentierte. Hier ist vor allen Dingen in ganz überraschender Reichhaltigkeit alles erhalten, was er zu seinen optischen Studien verwendet hat: Prismen, Spiegel, Polarisationsapparate, Flintglasstücke, farbige Papiere und Seiden, und alle die andern Dinge, welche bei den in der Farbenlehre beschriebenen Experimenten zur Verwendung kamen, liegen noch heute zum Teil in denselben Papieren, in welche Goethe sie eingewickelt hat, in den Schränken des Goethehauses, und es gewährt, wie ich Sie aus eigener Erfahrung versichern kann, einen eigentümlichen Reiz, an dieser geweihten Stätte mit Goethes eigenen Apparaten seine Versuche nachzumachen und sich zu überzeugen, mit welcher Exaktheit er beobachtete, mit welcher anschaulichen Treue alles, was er bei seinen Versuchen sah, von ihm geschildert wurde. Auf diese Weise läßt sich noch heute die ganze Pracht der von Goethe beschriebenen optischen Phänomene wieder hervorzaubern. Im Goethehause findet sich ferner seine naturwissenschaftliche Bibliothek, die von der Reichhaltigkeit seiner Interessen und seiner Studien, von dem Ernst, mit dem er sich auf allen Gebieten unterrichtete, ein noch heute sprechendes Zeugnis ablegt. Außerdem liegen hier noch zahlreiche Zeichnungen und graphische Darstellungen, welche ein wertvolles Illustrationsmaterial für viele von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften abgeben, Tafeln mit geologischen, anatomischen, botanischen und anderen Abbildungen, welche zum Teil noch immer der Veröffentlichung harren. So ist man heute vielleicht besser als vor 30 Jahren imstande, Goethes naturwissenschaftliche Tätigkeit zu verfolgen und zu würdigen, und ich will versuchen, ob es mir gelingt, Ihnen ein anschauliches Bild von dieser Seite des Goetheschen Geisteslebens zu entwerfen.

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