Siebente Vorlesung.
Die Farbenlehre I. — Physiologische Optik.
Meine Herren! „Die Geschichte der Wissenschaft
nimmt immer auf dem Punkte wo man steht ein
gar vornehmes Ansehen; man schätzt wohl seine
Vorgänger und dankt ihnen gewissermaßen für das
Verdienst das sie sich um uns erworben; aber es
ist doch immer, als wenn wir mit einem gewissen
Achselzucken die Grenzen bedauerten worin sie oft unnütz, ja rückschreitend sich abgequält; niemand
sieht sie leicht als Märtyrer an die ein unwiederbringlicher Trieb in gefährliche, kaum zu überwindende Lagen geführt, und doch ist oft, ja gewöhnlich, mehr Ernst in den Altvätern die unser Dasein
gegründet, als unter den genießenden, meistenteils
vergeudenden Nachkommen." Dieses Goethesche
Wort wollen wir als Motto über unsere Besprechung
der Farbenlehre setzen, denn was Schiller von
Wallenstein sagte, gilt für kein Buch mehr als für dieses:
»Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt,
Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte.
Gleich nach seinem Erscheinen von den Physikern vollständig abgelehnt und aufs heftigste verurteilt, von einigen der bedeutendsten zeitgenössischen Physiologen, wie Purkinje und Johannes
Miller, außerordentlich geschätzt, wurde es in der
Mitte des Jahrhunderts fast vergessen und selbst
Helmholtz wird seiner Bedeutung keineswegs gerecht. Erst in den letzten Jahrzehnten erweckt es wieder das Interesse der Gelehrten. Während die
Physiker auf ihrem ablehnenden Standpunkt verharren müssen, finden die Physiologen hier zahlreiche Tatsachen und Anschauungen niedergelegt,
welche in der letzten Zeit zu den Grundlagen der
physiologischen Optik geworden sind.
Die Würdigung des Inhalts der Farbenlehre ist daher eine schwierige Aufgabe, und wir wollen den
Gang der Darstellung, den wir bei den früheren
wissenschaftlichen Werken Goethes gewählt haben,
hier verlassen. Ich will Ihnen nicht zuerst den
Inhalt von Goethes Schriften mitteilen und danach
entwickeln, welches die allgemeinen leitenden Gedanken und die gewichtigen, wissenschaftlichen
Resultate sind, sondern ich möchte Ihnen zunächst
in dieser Vorlesung eine kurze sinnes-physiologische Einleitung geben, damit Sie in den
Stand gesetzt werden, aus eigener Kenntnis die
Probleme, um deren Lösung Goethe sich bemühte,
zu begreifen. Denn die Farbenlehre gründet sich nicht nur auf physikalische Tatsachen, sie gehört
vielmehr zu einem wesentlichen Teil der Sinnesphysiologie an. Durch unser Auge empfangen wir
erst optische Eindrücke, Licht und Farbe. Zu Beginn muß nun gleich bemerkt werden, daß alle die
Tatsachen und Erwägungen, die ich Ihnen jetzt
vortragen werde, zu Goethes Zeiten noch so gut
wie unbekannt waren. Während wir heute mit verhältnismäßiger Leichtigkeit die Probleme beurteilen
können, legten Goethe und seine sämtlichen Vorgänger und Zeitgenossen sich derartige sinnesphysiologische Fragen überhaupt noch nicht vor. Wir
haben es jetzt leicht, in Goethes Werk das Gold
von den Schlacken zu sondern. Der damaligen Zeit war dies keineswegs geläufig.
Goethes Farbenlehre enthält zunächst einmal eine
genaue und ganz mustergültige Darstellung
der Tatsachen. Die verschiedenen Arten der
Farbenerscheinungen und die Methoden, sie hervorzurufen, werden mit unerreichter klassischer Anschaulichkeit geschildert, mit einer Treue, daß jeder
mit Leichtigkeit alle Versuche selber anstellen kann.
Erst auf Grund dieser Goetheschen Schilderung der
Erscheinungen und in bewußter Anlehnung an Kants
Kritik der reinen Vernunft hat zunächst Schopenhauer die Farbenlehre für die Physiologie in Anspruch genommen, und danach Johannes Müller die
wissenschaftliche physiologische Optik begründet; von deren Fortentwicklung durch Helmholtz und
Hering werden wir noch später zu sprechen haben.
Wir dürfen es also Goethe nicht zum Vorwurf
machen, daß er die Kenntnis, die sich erst später
auf Grund seiner eigenen Farbenlehre entwickeln
konnte, selbst noch nicht besessen hat.
Licht- und Farbenempfindung werden uns vermittelt durch ein Sinnesorgan, das Auge. Wir
legen uns zunächst die Frage vor, worin denn im
allgemeinen die Bedeutung unserer Sinnesorgane
liegt? Die Antwort lautet: daß von der Art und
von der Funktion unserer Sinnesorgane ganz eigentlich die Beschaffenheit unserer Außenwelt, unseres
Milieus abhängig ist. Ein Beispiel wird die Richtigkeit dieses scheinbaren Paradoxons schneller verdeutlichen als alle Auseinandersetzungen. Denken
Sie sich einen tiefstehenden Wurm, der auf dem
Grunde des Meeres lebt und der nur eine einzige
Art von Sinnesorganen besitzt, die tastempfindenden Apparate seiner Haut. Die Außenwelt eines
solchen Tieres wird sich nur aus denjenigen Teilen
des Meeresgrundes zusammensetzen, welche mit
seiner Hautoberfläche in direkte Berührung geraten.
Zu allen anderen Körpern hat der Wurm überhaupt keine Beziehungen, sie existieren also nicht
für ihn. Er ist nur imstande, den Kreis seiner
Außenwelt zu erweitern, wenn er mit seinem Körper
Ortsbewegungen ausführt und so immer neue Teile des Meeresgrundes mit seiner Haut in direkte Berührung bringt Ein beschränkteres Milieu läßt sich
wohl kaum vorstellen als in diesem Fall. — Wir
betrachten jetzt einen anderen Wurm, der etwas
höher steht und der außer den Tastorganen noch
ein zweites Sinnesorgan haben möge, ein Auge am
Vorderende des Kopfes. Ohne weiteres wird Ihnen
klar, wie durch den Gewinn dieses Organs sich
das Milieu des Tieres mit einem Schlage ausdehnen
muß. Es kann jetzt von einer ganzen Reihe von
Gegenständen beeinflußt werden, welche weit von
ihm entfernt liegen, sofern nur von ihnen Licht
zum Auge gelangen kann. So wird durch das Auftreten neuer Sinnesorgane der Kreis der Körper,
welche auf ein gegebenes Tier einwirken können,
um ein Beträchtliches erweitert. Nun machen wir
gleich einen großen Sprung und gehen über zu uns
selber. Wir haben optische Sinnesorgane in unseren Augen, akustische in unseren Ohren, chemische für die Ferne in unserer Nase, für die Nähe in den Geschmacksapparaten, die Sinnesorgane in unserer Haut vermitteln uns Druck-, Schmerz- und Temperaturempfindungen. Aus den Elementen, welche
uns diese Sinnesorgane liefern, setzt sich unsere so außerordentlich reichhaltige und komplizierte
Außenwelt zusammen. Sie bestimmen das Milieu,
in dem wir leben. Sie stellen aber keineswegs das
Maximum dessen dar, was überhaupt erreichbar wäre. Würde unser Auge für Lichtwellen von
größerer Länge als die des äußersten Rot empfindlich sein, so würden wir den wärmenden Kachelofen
Licht in einer Farbe ausstrahlen sehen, die wir uns
natürlich nicht vorstellen können. Besäßen wir eine
ganz neue Gruppe von Sinnesorganen, welche direkt
für elektrische Veränderungen unserer Umgebung
empfindlich wären, so würden wir beim Vorbeifahren eines elektrischen Trambahnwagens eine
ganze Fülle von Erscheinungen in den Drähten und
der umgebenden Luft wahrnehmen, die uns jetzt
völlig entgehen; bei jedem telephonischen Gespräch,
bei jedem Druck auf die elektrische Klingel würde
eine ganze Reihe von Empfindungen in uns ausgelöst werden. Wie sehr wir von unseren Sinnesorganen abhängig sind, sehen wir daraus, daß es uns völlig unmöglich ist, uns vorzustellen, wie die
Welt einem der sogenannten Farbenblinden, welche
meist Rot und Grün nicht unterscheiden können, er- scheint, und umgekehrt haben solche Farbenblinden
keine Möglichkeit, sich die Außenwelt eines normalsichtigen Menschen zu vergegenwärtigen. So sehen
wir, daß die Sinnesorgane Tyrannen sind, welche
uns einzwängen in einen ganz bestimmten Kreis von
Vorstellungen von der Außenwelt, aus dem wir nicht
herauskönnen.
Welches sind nun die Gesetze, nach denen diese
Sinnesorgane arbeiten? Die leitende Regel, welche für alle Sinnestätigkeit gilt, ist von Johannes Müller
in dem Gesetz von der spezifischen Sinnesenergie aufgestellt worden. Dieses besagt, daß
unsere Sinnesempfindungen allein abhängig sind von der Art des Sinnesnervenapparates, welcher in Erregung gerät. Es mag dies zuerst selbstverständlich klingen, ist es aber keineswegs, wie Sie sofort
sehen werden, wenn wir die Kehrseite dieses Satzes
betrachten. Die Sinnesempfindung ist nämlich nicht
abhängig von der Art des äußeren Reizes, der unser Sinnesorgan trifft. Auch hier ein Beispiel statt vieler
Worte. Der Arzt kommt gelegentlich in die Lage, an unglücklichen Patienten, um sie vor schwererem
Unglück zu bewahren, ein Auge herausnehmen zu müssen. Das Auge ist durch den Sehnerv mit dem
Gehirn verbunden, und dieser muß bei der Operation durchtrennt werden. In früheren Zeiten, wo die
Narkose noch unbekannt war, hat man nun festgestellt, daß in dem Moment, wo die Schere des
Chirurgen den Sehnerv des Patienten durchtrennt,
dieser nicht eine Schmerzempfindung, sondern eine
Lichterscheinung hat. Diese Tatsache illustriert das
Gesagte, denn trotzdem der Sehnerv keineswegs
optisch durch das Licht gereizt worden ist, sondern
mechanisch durch den Scherenschlag, hat der Patient
eine optische Empfindung, und diese optische
Empfindung beruht gesetzmäßig darauf, daß der
Sehnerv erregt worden ist, ist aber unabhängig davon, durch welche Art von Reiz die Erregung
des optischen Nerven bewirkt wurde. Wenn wir
einen galvanischen Strom quer durch unseren Kopf in der Augengegend schicken, so haben wir
beim öffnen und beim Schluß desselben ebenfalls
eine Lichtempfindung. Wenn wir unseren Augapfel
drücken, resultiert daraus in gleicher Weise eine
Lichtempfindung. Unsere Sinnesorgane sagen uns
also gar nichts aus über die Art des Reizes, der von außen auf unseren Sinnesapparat einwirkt,
sondern sie vermitteln uns nur die Kunde davon,
daß überhaupt das betreffende Sinnesorgan erregt
worden ist. Wie kommt es nun, daß wir trotz dieser Unzuverlässigkeit doch so wenigen Sinnestäuschungen unterliegen, daß wir trotzdem so richtige
Nachrichten von der Außenwelt erhalten; d. h. daß,
wenn wir auf Grund unserer Sinneswahrnehmungen
handeln, wir so selten mit den Gegenständen der
Außenwelt in Konflikt geraten? Die Lösung dieser
schwierigen Aufgabe wird ermöglicht wiederum
durch die Anordnung unserer Sinneswerkzeuge. So
liegt z. B. unser inneres Ohr, in welchem sich die
Endigungen des Hörnerven befinden, tief eingebettet
im Innern des Kopfes, eingeschlossen in den kompaktesten elfenbeinharten Knochen des Felsenbeins,
in dem sich kleine Hohlräume befinden, die mit
Flüssigkeit erfüllt sind; in dieser Flüssigkeit liegen
die Endapparate des inneren Ohres aufs sorgfältigste geschützt vor allen Einflüssen der Außenwelt, welche
etwa den Hörnerven erregen können. Nur einzig
und allein die Schallwellen der Luft vermögen sich
in diese Tiefe den Weg zu bahnen. Durch den
Gehörgang setzen sie das Trommelfell und dahinter
die Gehörknöchelchen in Schwingungen, welche sich
auf die Flüssigkeit des inneren Ohres übertragen
und so den Hörnerven erregen können. Die Sinnesorgane sind also so angeordnet, daß alle anderen,
wie man sagt, nicht adäquaten Reize nach Möglichkeit fern gehalten werden und nur die adäquaten
Reize, z. B. die Schallwellen zum Ohr, die Lichtwellen zum Auge hingelangen können. Und noch
etwas weiteres: der Hörnerv selber, welcher die
Verbindung des inneren Ohres mit dem Gehirn
vermittelt, ist für die Schallschwingungen der Luft
völlig unempfindlich. Nur seine Endigungen im
inneren Ohr werden durch Schallwellen erregt. Es
besitzen also die Sinnesorgane die wichtige Aufgabe, Vorgänge der Außenwelt, welche an sich aufs
Nervensystem nicht wirken, aufzunehmen und in Nervenerregungen umzusetzen. Dasselbe gilt fürs Auge. Der Augapfel ist eingebettet in die Augenhöhle, wohl beschützt durch die Lider und die
knöchernen Augenbrauenbogen. Er besteht aus einer
derben fibrösen Kapsel, die mit einer durchsichtigen
Gallerte gefüllt ist, und nur auf dem Grund dieser
Kapsel breitet sich der nervöse Endapparat aus, die Netzhaut, welche für Licht empfindlich ist, während
der Sehnerv selber durch Lichtschwingungen nicht
erregt werden kann. Wir besitzen in Ausnahmefällen die Möglichkeit, Druck oder Elektrizität auf unser Auge einwirken zu lassen, aber im allgemeinen
ist die Netzhaut vor diesen Eingriffen geschützt und
nur die Lichtstrahlen gelangen durch die brechenden
Medien des Auges zu ihr. So kommt es, daß wir
gewöhnlich keinen Trugschluß machen, wenn wir unseren Gesichts- und Gehörwahrnehmungen trauen,
denn nur in Ausnahmefällen werden diese durch
andere äußere Ursachen hervorgerufen als durch
Licht- bzw. Schallschwingungen.
Aus dem Material, welches so die Sinnesorgane
dem Geiste liefern, setzt dieser seine Vorstellung von der Außenwelt zusammen. Wir treten z. B. aus dem Hause in den Garten und nehmen mit unserem Auge eine blaue Fläche wahr, in deren
Mitte sich etwas Grünes befindet, unterhalb dessen
wir etwas Braunes sehen. Das Ohr hört gleichzeitig ein leises Rauschen, und wenn wir uns nach
dem Orte hinbewegen, von dem diese Empfindungen
auszugehen scheinen und mit der Hand das gesehene braune Gebilde berühren, so bekommen wir
das Gefühl des Harten, Rauhen; gleichzeitig riechen
wir einen angenehmen Duft, oder, wenn unsere Hand ein rundes Gebilde, welches wir sehen, nimmt
und zum Munde führt, so bekommen wir einen Süßen Geschmack. Aus diesen rein objektiv geschilderten, ganz heterogenen Sinnesempfindungen,
welche uns unsere verschiedenen Sinnesorgane
liefern, baut der Verstand zwangsmäßig und unbewußt einen Gegenstand auf. In diesem Fall einen
grünen Baum, der vor dem blauen Himmel steht und Blüte oder Frucht trägt Was nun das Merkwürdigste von allem ist, dieser Gegenstand, der in unserem Innern durch das Zusammentreffen so ganz
verschiedener Sinneseindrücke gebildet wird, wird,
ohne daß wir uns dessen bewußt werden, zwangsmäßig nach außen verlegt und erscheint uns als ein außerhalb unseres Körpers befindlicher Baum.
Jetzt sind wir so weit gelangt, daß wir uns die
Frage vorlegen können, was denn geschieht, wenn
jemand einen Gegenstand, sagen wir eine brennende
Kerze, sieht. Die Prozesse, die hierbei mitspielen,
können wir wie folgt beschreiben: In der brennenden Kerze findet eine Oxydation des Stearins oder
Paraffins zu Kohlensäure und Wasser statt, und
dieser Prozeß geht bei so hoher Temperatur vor
sich, daß dadurch einzelne Kohlenteilchen in der
Flamme zum „Glühen" kommen, d. h. sie werden
nach der Annahme der Physiker in so lebhafte
Schwingungen versetzt, daß sie diese Bewegung
ihrer Umgebung und speziell dem hypothetischen
Äther mitteilen. Von den glühenden Kohlenteilchen
der Flamme pflanzen sich also Bewegungsvorgänge mit großer Geschwindigkeit nach allen Seiten durch
den Äther fort. Ein Teil von ihnen trifft auf das
Auge des Beobachters und dringt durch dessen
Pupille ins Innere bis zur Netzhaut. Unter dem
Einfluß dieser Ätherschwingungen entstehen nun in der Netzhaut auf noch nicht näher aufgeklärte Weise
nervöse Erregungen und diese werden ähnlich wie
durch einen telegraphischen Draht auf dem Wege
des Sehnerven zum Gehirn unserer Versuchsperson
fortgeleitet. Hier treten darauf eine Reihe von komplizierten nervösen Erregungsvorgängen auf, über
deren feineres Ineinandergreifen wir nur unvollkommen unterrichtet sind. Und nun kommt das
Wunder! Gleichzeitig mit den nervösen Erregungen
im Gehirn, welche vom Sehnerven aus veranlaßt
worden sind, hat die Person eine Empfindung, und
zwar eine Lichtempfindung. Über den Zusammenhang der nervösen Erregungen mit den Empfindungen besitzen wir keine Kenntnis, es ist dies
ein unlösbares Rätsel. Aber die Lichtempfindung
tritt gesetzmäßig im Anschluß an die optische Erregung auf und wird zwangsmäßig nach außen verlegt und lokalisiert. Die Versuchsperson sieht die
Kerze an ihrem Orte im Raum. Jetzt wollen wir
eine einfache Frage der Nomenklatur stellen; wir
wollen fragen, wie man die einzelnen Teile dieses
ganzen eben geschilderten Vorgangs benennt. Die
brennende Kerze nennen wir Licht, den Schwingungsvorgang des Äthers, der von der Kerze aus nach allen Seiten sich verbreitet, nennen die Physiker
wieder Licht, und die Empfindung, welche im
Geiste unserer Versuchsperson dadurch hervorgerufen wird, nennen die Physiologen und Psychologen ebenfalls Licht (eine Lichtempfindung). Ja es
ist sogar der Erregungsvorgang in der Netzhaut von
Helmholtz und anderen als Lichtempfindung bezeichnet worden; wir wollen von dieser Benennung
hier absehen. Wenn wir statt der weißbrennenden
Kerze ein rotleuchtendes bengalisches Zündholz zu unserem Versuche nehmen, so schreiben wir der
roten Flamme eine Farbe zu. Die Lichtstrahlen,
die von ihr ausgehen, nennen die Physiker wiederum
farbiges Licht oder Farbe, und die Empfindung,
die der Beobachter dadurch bekommt, ist wieder
Farbe. So sehen Sie, daß bei diesem komplizierten Vorgang, den wir eben in seine Komponenten aufgelöst haben, eine heillose Verwirrung
der Nomenklatur besteht, und daß jeder mit dem
Worte Licht oder Farbe eigentlich etwas ganz
anderes bezeichnet Daher ist es so schwer gewesen, und auch heute noch so schwierig, sich über
die Natur der Farbe und des Lichts zu verständigen.
Hier liegt der Hauptgrund, weshalb auch Goethe in seiner Farbenlehre heterogene Dinge miteinander
vereinigen wollte. Denn wir müssen daran denken,
daß, wie oben betont wurde, »die Aufklärung des ganzen Sehprozesses erst in die nachgoethesche
Zeit fällt. Goethe hat allerdings einen sehr wichtigen Schritt vorwärts getan dadurch, daß er alle Farbenerscheinungen in drei große Gruppen sonderte, in die physiologischen, in die physischen
und die chemischen Farben. Die physiologischen
Farben sind nach Goethe diejenigen, welche durch
die Zustände und Tätigkeit unseres Auges bedingt
sind. Die physischen sind die, welche nach unserer
heutigen Nomenklatur durch Beeinflussung der Lichtstrahlen und Ätherschwingungen entstehen, also die
prismatischen Farben, die Farben bei der Brechung
und Beugung des Lichtes, die Farbenerscheinung
bei der Doppelbrechung durch Kalkspat u. a. m. Die chemischen Farben endlich sind die Körperfarben, die Farben der Steine, Wände, Kleidung,
Papiere usf. 1). Diese Goethesche Einteilung lehnt
sich also eng an das Schema an, das wir oben
vom Sehprozeß gegeben haben. Hierbei würde der
Kerze die chemische, den Ätherwellen die physische
und den Erregungen in der Netzhaut und im Gehirn
die physiologische Farbe entsprechen. Goethe hat
aber dadurch einen fundamentalen Irrtum begangen, daß er versucht hat, diejenige Methode auch auf
die sinnesphysiologischen Probleme zu übertragen,
welche sich ihm bei seinen morphologischen Studien so glänzend bewährt hatte, die Methode der kontinuierlichen Reihe. Er hat versucht die physiologischen, physischen und chemischen Farben so
zu schildern, daß er, ausgehend von den physiologischen, die physischen und die chemischen all- mählich schrittweise entwickeln wollte. Er hat wohl
gesehen, daß in dem Gegensatz zwischen Objekt
und Subjekt ein großes, schwieriges Problem verborgen liegt: „Hier ist es, wo sich der Praktiker
in der Erfahrung, der Denker in der Speculation
abmüdet und einen Kampf zu bestehen aufgefordert
ist, der durch keinen Frieden und keine Entscheidung geschlossen werden kann." Aber
er hat ebenso wie alle seine Zeitgenossen, außer Kant,
versucht, den prinzipiellen Unterschied zwischen der
physiologischen und der objektiven Seite des Sehprozesses außer acht zu lassen bzw. zu überbrücken,
und daher schreibt sich der Irrtum in Goethes
Farbenlehre. In diesem Irrtum aber ist Goethe das
Kind seiner Zeit; und sein fundamentales Verdienst
ist, daß er als einer der ersten auf die physiologischen Gesichtserscheinungen im Zusammenhang
aufmerksam geworden ist und sie in ihrer Gesamtheit in klassischer und mustergültiger Weise dargestellt hat Der Teil der Farbenlehre, welcher die physiologischen Farben schildert, ist daher bis auf
den heutigen Tag als bahnbrechend und wissenschaftlich grundlegend anzusehen. Ihm werden wir
in unserer Besprechung die erste und wesentliche
Stellung einräumen. Doch auch die anderen Teile von Goethes optischem Werk entbehren der Bedeutung nicht, weil sie eine vollständige Zusammenfassung und genaue tatsächliche Schilderung der
Phänomene und Experimente darbieten, so daß
selbst ein so genauer Kenner wie Helmholtz angibt, daß über die tatsächliche Richtigkeit irgend
eines von Goethe geschilderten objektiven Vorganges und Experimentes niemals ein Zweifel habe
obwalten können.
1. Heute würden wir den Gegensatz zwischen den physiologischen und den andern Farben so definieren, daß in dem
einen Fall eine Farbenempfindung ohne äußeren Reiz entsteht, in dem andern Fall durch äußeren Reiz hervorgerufen
wird.
Jetzt haben wir die Grundlage gewonnen, von
der aus das Goethesche Werk zu beurteilen sein
wird. Eine genauere Kenntnis der Farbenlehre wird uns vor allem mit dem äußerst exakten Vorgehen
des Naturforschers bekannt machen.
Goethe selbst hat uns am Schluß seiner Geschichte der Farbenlehre überliefert, wie er zu seinen
optischen Studien gekommen ist. Schon als Student
in Leipzig sah er in Winklers physikalischen Vorlesungen die optischen Versuche, welche in großer
Zahl im Anschluß an Newtons Lehre angestellt
wurden, und er behielt sie von daher bis in sein
Alter wohl im Gedächtnis. Er berichtet aber, daß er selbst nicht von der physikalischen Seite zur Farbenlehre gekommen sei, sondern von der künstlerischen. In den Jahren vor der italienischen Reise
versuchte er vielfach sich als Maler und als Zeichner
zu betätigen und gewann erst in Italien die Erkenntnis, daß ihm das eigentliche Talent hierzu mangele.
Daher bemühte er sich auch vor allem um die
technische Seite der Malerei, um ihre Regeln. In
Italien studierte er von diesem Gesichtspunkte aus
die Gesetze der Farbengebung an den Meisterwerken
der Malerei und suchte sich vielfach auch bei
Künstlern Rat zu erholen. Diese aber konnten ihm
gewöhnlich nur ganz allgemeine Anhaltspunkte geben,
sie unterschieden kalte und warme Farben und
wußten, daß einzelne Farben sich gegenseitig in ihrer Leuchtkraft heben. Bestimmte Gesetze erfuhr aber Goethe von ihnen nicht. Angelika Kauffmann, mit der er in Rom nah verkehrte, wurde nun von ihm zu verschiedenen koloristischen Versuchen
veranlaßt. Sie malte ein Bild zunächst grau in grau,
das erst zum Schluß mit Farbe lasiert wurde; sie entwarf eine Landschaft, in der alle blauen Töne
fehlten, und dergleichen mehr. Neben diesen malerischen Studien hielt Goethe auch in der freien
Natur seine Augen offen und beobachtete eifrigst
die atmosphärischen Farbenerscheinungen: grüne
Schatten bei purpurnem Sonnenuntergang, die blaue
Färbung entfernter Berge, die Farben naher Schatten und manches andere. So wurden ihm die
Farbenphänomene in Natur und Kunst vertraut. Nach der Rückkehr auf deutschen Boden trat die
optische Beschäftigung zunächst zurück. Als aber
Hofrat Büttner von Göttingen nach Jena übersiedelte
und einen reichhaltigen optischen Apparat mitbrachte, lieh er einiges davon aus und beabsichtigte
damit zu experimentieren. Es blieb aber bei dieser
Absicht und Büttners Prismen blieben unberührt
liegen, bis ihr Eigentümer ungeduldig wurde und
sie immer energischer zurückverlangte. Schließlich
wurde sogar ein Bote nach Weimar geschickt, um
sie zu holen. So gedrängt, wollte sie Goethe gerade aushändigen, als er noch rasch einen Blick
durch ein Prisma warf. Dieser Moment ist für Goethes ganze späteren optischen Studien entscheidend. Ihm war von der Studienzeit her im Gedächtnis geblieben, daß durch ein Prisma weißes
Licht in farbiges zerlegt werde, und als er durch
Büttners Prisma die weiße Wand seines Zimmers
betrachtete, erwartete er fälschlich die ganze Wand
in Regenbogenfarben schillern zu sehen. Das war nun
natürlich nicht der Fall. Die Wand erschien weiß, nur ihre Ränder und die Stäbe des Fensterkreuzes
zeigten die prismatischen Farben. Goethe stutzt, und
es fällt ihm ein, die Newtonsche Theorie des Lichts
müsse falsch sein. Er behält die Prismen zurück und
beginnt nun 1790 aufs eifrigste zu experimentieren. Mehr und mehr befestigt sich in ihm die Überzeugung von der Unrichtigkeit der Newtonschen Lehre,
aber alle Bemühungen, diese Überzeugung auch
andern Leuten zu vermitteln, scheitern, besonders
die Physiker verhalten sich Goethes immer dringender werdenden Demonstrationen gegenüber völlig
ablehnend. Doch immer tiefer versenkt er sich in seine Überzeugung. Er läßt sich schließlich Newtons
Werke kommen und macht seine Versuche in allen Einzelheiten aufs sorgfältigste nach. Diese Experimente scheinen ihm nun absichtlich kompliziert zu
sein, um den wahren Sachverhalt zu verdecken, und
er geht jetzt daran, selbst die einfachen grundlegenden Versuche anzustellen und zu schildern. Von
den physikalischen Forschungen gelangt Goethe
dann wieder zurück zu den physiologischen. Er
studiert die Phänomene der farbigen Schatten, er
vertieft sich schließlich von Jahr zu Jahr immer mehr
in die Farbenlehre, bis schließlich nach mehr als zwanzigjähriger Tätigkeit das gesamte Werk abgeschlossen wird und 1810 erscheint.
Wie rasch aber Goethe besonders am Anfang
arbeitete, ist daraus zu ersehen, daß er schon im
Jahre 1791 das erste Stück seiner Beiträge zur Optik
erscheinen ließ, mit Abbildungen, die in Spielkartenformat in einer Kartenfabrik gedruckt waren. Diese
wurden mit schlechtem Dank und hohlen Redensarten der Schule beiseite geschoben." Das zweite Stück der Beiträge erschien 1792; in demselben
Jahre schrieb er den ersten Aufsatz über die farbigen
Schatten, der das dritte Stück seiner Beiträge bilden sollte und das höchste Interesse des Physikers
und Satyrikers Lichtenberg in Göttingen erregte.
Im Jahre 1793 wurde im Lager von Marienborn
ein kleiner Aufsatz, „einige allgemeine chromatische Sätze", geschrieben. In demselben Jahre
verfaßte er höchst wahrscheinlich noch den „Versuch die Elemente der Farbenlehre zu entdecken",
den Aufsatz „über Newtons Hypothese der diversen Refrangibilität" und „über Farbenerscheinungen
bei der Refraktion". Das endgültige Hauptwerk:
„Zur Farbenlehre" erschien in zwei Bänden mit
einem Tafelheft. Der erste Band enthält: „Entwurf einer Farbenlehre. Des Ersten Bandes Erster,
didaktischer Teil" und „Enthüllung der Theorie
Newtons. Des Ersten Bandes Zweiter, polemischer
Teil". Der zweite Band besteht fast ganz aus den
„Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. Des
Zweiten Bandes Erster, historischer Teil". Ein beabsichtigter zweiter supplementärer Teil ist nie erschienen. „Statt des versprochenen supplementären
Teils" läßt Goethe einen Aufsatz von Seebeck
„Wirkung farbiger Beleuchtung" abdrucken. Seine
späteren optischen Aufsätze sind in den Heften
„Zur Naturwissenschaft" erschienen. So weit die
bibliographischen Notizen. Lassen Sie uns jetzt zur Sache, zum Inhalt von Goethes Farbenlehre übergehen.
Goethe geht in der Einleitung davon aus, daß wir
durch unser Sinnesorgan über das eigentliche Wesen
des Lichtes nichts Direktes wahrnehmen können, sondern nur seine Wirkung erfahren. Die wichtigsten
Wirkungen sind die Farben. „Die Farben sind Thaten
des Lichts, Thaten und Leiden." Für die Erkenntnis
unserer sichtbaren Welt sind nun die Farben von
wesentlicher Bedeutung. „Die ganze Natur offenbart
sich durch die Farbe dem Sinn des Auges." Er
spricht von der Welt des Auges, die durch Gestalt und
Farbe erschöpft wird, und fragt: „Gehören die Farben
nicht ganz eigentlich dem Gesicht an?" Die Empfindungen Schwarz, Weiß und die Farben sind nach
unserer heutigen Bezeichnungsweise die Qualitäten,
d. h. die verschiedenen Empfindungsarten des Auges.
Unser Auge vermittelt uns nur solche Qualitäten.
Diese Erkenntnis spricht Goethe schon mit aller Deutlichkeit aus, wenn er sagt: „Hell, dunkel und
Farben zusammen machen allein dasjenige aus, was
den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des
Gegenstands voneinander fürs Auge unterscheidet,
und so erbauen wir aus diesen dreien die sichtbare Welt" Wie entsteht nun ein Auge? Goethe
beantwortet diese Frage von demselben Standpunkte, von dem aus er die tierische Formbildung überhaupt betrachtet. Das Auge soll durchs Licht fürs Licht
gebildet sein; aus gleichgültigen tierischen Hilfsorganen soll unter dem Einfluß des Lichts ein so zweckmäßiges Sinnesorgan entstanden sein. Wir erinnern uns, daß Goethe dieselbe Vorstellungsart entwickelte, als er die Fische durchs Wasser fürs
Wasser, die Vögel durch die Luft für die Luft gebildet sein ließ. Es wird dann in der Einleitung
weiter darauf hingewiesen, daß die alten ionischen
Philosophen lehrten, es könne nur Gleiches von
Gleichem erkannt werden, und welche daher dem
Auge auch Licht zuschrieben. „War' nicht das Auge
sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?"
Er meint nun von seinem Standpunkte aus dies
etwa so ausdrücken zu können: „Im Auge wohnt
ein ruhendes Licht, das bei der mindesten Veranlassung von innen oder von außen erregt wird."
Dieses ruhende Licht bezeichnen wir heute als Lichtempfindung, die durch innere oder äußere Ursachen
hervorgerufen werden kann. Goethe ist hier also
der Erkenntnis, daß Licht und Farbe nur unsere Empfindungen sind, ganz außerordentlich nahe gekommen, hat aber trotzdem diese Konsequenz nicht
gezogen und spricht kurz darauf von der Farbe als einem Naturphänomen für den Sinn des Auges.
Der erste Abschnitt von Goethes Farbenlehre
behandelt die physiologischen Farben. Es ist schon eine große wissenschaftliche Tat, diesen Abschnitt an die Spitze zu stellen und als das Fundament der ganzen Lehre zu bezeichnen. Diese Farbenerscheinungen, welche man früher nur für zufällig,
täuschend oder krankhaft gehalten hatte, beruhen
nach Goethe auf der Tätigkeit des gesunden Auges,
über dessen Eigenschaften wir durch sie Sicheres er- fahren. Sehr scharf wendet sich Goethe gegen die Anschauung, daß es sich hier um Gesichtstäuschungen
handle. „Gesichtstäuschungen sind Gesichtswahrheiten, und „es ist eine Gotteslästerung zu sagen,
daß es einen optischen Betrug gibt". Gerade aus den Fällen, in denen unser Auge uns Empfindungen
vermittelt, die den Vorgängen in der Außenwelt entsprechen, können wir nichts über die normale Tätigkeit
dieses Organs erfahren; die physiologischen Farbenerscheinungen lehren uns dagegen die Eigenschaften
des Auges kennen. Goethe hat hier in aller Kürze,
aber doch eingehend genug ein Lehrbuch der physiologischen Optik geschrieben. Hier liegen auch nach
ihm die Ursachen der chromatischen Harmonie
begründet Da er in seinen Studien von der Untersuchung des malerischen Kolorits ausgegangen war, so mußte ihn die Frage, worauf denn die Farbenharmonie
beruhe, lebhaft interessieren. Seine Studien haben ihn zu der Erkenntnis geführt, daß sie durch die physiologischen Eigenschaften unseres Auges bedingt sei.
Der erste Abschnitt „Licht und Finsternis zum
Auge" setzt das Verhalten des Auges zur Belichtung und Verdunkelung auseinander. Die Netzhaut
befindet sich nach Goethe bei Belichtung und Verdunkelung in zwei verschiedenen, und zwar entgegengesetzten Zuständen. Trotzdem bezeichnet er das Schwarz nicht als eine eigentliche Empfindung,
wie es heute geschieht, sondern als einen Mangel
an Empfindung. Die Erregbarkeit des Auges zeigt nun im Dunkeln und im Hellen sehr starke Veränderungen. Diese Zustände, die wir als Adaption
bezeichnen, sind Ihnen allen aus Erfahrung bekannt.
Wenn wir in ein dunkles Zimmer treten, so sehen wir
zunächst gar nichts; erst nach einiger Zeit gewöhnt
sich unser Auge an die geringe hier herrschende
Helligkeit, und wir beginnen allmählich die Gegenstände immer besser zu unterscheiden. Goethe
hat die zur Dunkeladaption erforderliche Zeit zu ein
bis acht Minuten bestimmt. Umgekehrt werden wir,
wenn wir aus dem Dunklen ins Helle treten, geblendet und können erst nach einiger Zeit die Gegenstände wieder gut unterscheiden. Im Dunkeln wird
die Empfindlichkeit unseres Auges gesteigert, im
Hellen herabgesetzt. Darauf beruht es nach Goethe,
daß wir am Tage die Sterne nicht sehen, obwohl
sie am Himmel stehen und dieselbe Lichtmenge wie
des Nachts zu uns herunter schicken. Wir sehen
auch faulendes Holz im hellen Tageslicht aus diesem
Grunde nicht leuchten, nicht aber weil die Erscheinung nur des Nachts tatsächlich eintritt.
Der nächste Abschnitt „Schwarze und weiße
Bilder zum Auge" handelt zunächst von den Irradiationserscheinungen. Sie sehen auf der oberen
Hälfte von Fig. 6, daß eine weiße Scheibe auf
schwarzem Grunde größer aussieht als eine schwarze
Scheibe von gleichem Umfang auf weißem Grunde.
So scheint auch die leuchtende Mondsichel einem
größeren Kreis anzugehören als die dunkle Mondscheibe, die man an klaren Nächten gleichzeitig sieht. Schwarze Kleider machen schlank, weiße dick. Ein
Lineal, das man quer vor eine leuchtende Kerze
hält, scheint an der Stelle, wo es die Flamme
schneidet, durch diese eingekerbt zu sein. Ich möchte
hier nicht die heutige Theorie der Irradiationserscheinung auseinandersetzen, welche etwas kompliziert
ist, sondern nur die interessante Deutung erwähnen,
die Goethe diesen Phänomenen wenn auch mit aller Vorsicht und nur hypothetisch gibt. Er stellt sich
vor, daß im Dunkeln die Netzhaut in sich zusammengezogen ist und sich bei Belichtung flächenhaft
ausbreitet Dasselbe tritt ein, wenn die Netzhaut
gleichzeitig das Bild schwarzer und weißer Gegenstände empfängt. Dann bleibt sie an den Stellen,
die nicht vom Licht getroffen werden, zusammengezogen und breitet sich an den belichteten aus. So beruht also nach Goethe die Vergrößerung des
weißen Bildes auf einer objektiven Größenzunahme
und Ausdehnung der belichteten Netzhautstelle. Bewegungserscheinungen der Netzhaut haben sich in dieser Form nicht nachweisen lassen. Die Hypothese muß daher aufgegeben werden. Sie ist aber
deshalb von größtem Interesse, weil Goethe hier
schon überhaupt Bewegungserscheinungen der Netzhaut durch Belichtung angenommen hat. Solche
Phänomene sind in der Folgezeit verschiedentlich bekannt geworden, und wir wissen jetzt, daß durch Belichtung Verlängerungen und Verkürzungen der Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut eintreten können,
und daß ganz gesetzmäßige Wanderungen schwarzen
Pigments zu beobachten sind.
Es werden sodann die positiven Nachbilder
geschildert. Fixieren wir mit wohl ausgeruhtem
Auge kurze Zeit das Fensterkreuz und schließen
sodann die Lider, so bleibt das Bild noch einige
Zeit lang bestehen. Die Erscheinung ist allbekannt, daß, wenn man zufällig in die strahlende
Sonne gesehen hat und darauf geblendet das Auge
schließt, das leuchtende Sonnenbild noch eine Zeit
im Auge bleiben kann. Auch hier hat Goethe die
zeitliche Dauer der Nachbilder bestimmt. Er findet
sie abhängig von der Intensität der Beleuchtung und
vor allem von der Empfindlichkeit, vom Adaptionszustande des Auges. Bei Augenkranken können sie eine Viertelstunde und länger dauern.
Genau das Umgekehrte tritt auf, wenn man nach
Fixierung z. B. des Fensterkreuzes nicht ins Dunkle, sondern ins Helle, auf eine graue oder weiße Wand
sieht Dann erblickt man das umgekehrte, negative Nachbild, nach Goethes Ausdrucksweise „das
geforderte Bild". Wenn Sie z. B. eine weiße
Scheibe auf schwarzem Grunde (Fig. 6) längere Zeit
fixieren und danach auf eine weiße Fläche blicken, so sehen Sie einen dunklen Kreis auf hellem Grunde.
Goethe gibt gleich die richtige Erklärung. Starren
wir längere Zeit auf eine schwarze und weiße
Fläche, so bleiben die Teile der Netzhaut, auf die
das schwarze Bild fällt, ausgeruht (dunkeladaptiert),
während die Teile, auf die das weiße Bild fällt, er- müdet, in ihrer Empfindlichkeit herabgesetzt (helladaptiert) werden. Fällt nun nachher das Bild einer
gleichmäßig grauen Fläche ins Auge, so trifft dies
verschiedene Teile der Netzhaut in verschiedenem
Erregungszustande. Die Teile, auf die vorher das
dunkle Bild gefallen war, sind erregbarer und sehen
daher das graue Papier an den entsprechenden
Stellen heller. Sehr zahlreich sind die Fälle, in denen sich dies Phänomen beobachten läßt. Z. B. sehen wir um dunkel gekleidete Personen auf hellem
Grunde eine Gloriole, einen Heiligenschein, der besonders deutlich wird, wenn z. B. Menschen im Gebirge sich gegen den grauen Himmel abheben. Es
ist „das geforderte Bild", das bei kleinen Augenbewegungen über die Konturen der dunkeln Personen
herübergreift. Diese Erscheinung bezeichnet man als Successivkontrast. Im Gegensatz hierzu unterscheidet man einen Simultankontrast, zu dessen
Schilderung Goethe in dem nächsten Abschnitt
„Graue Flächen und Bilder übergeht. Sie sehen
auf der unteren Hälfte von Fig. 6 zwei graue Rechtecke. Das auf weißem Grunde erscheint dunkler,
das auf schwarzem Grunde heller. In Wirklichkeit
sind sie aber genau gleich hell. Goethe deutet
dieses Phänomen physiologisch, es beruht nach ihm
auf einer Lebensäußerung der Netzhaut. Wenn irgend
welche Teile der Retina durch Licht getroffen werden, so ändert sich nicht nur ihre eigene Empfindlichkeit, sondern auch die der umliegenden Netzhautpartien. Diejenigen Stellen der Retina, auf
welche die beiden gleichgrauen Bilder fallen, haben
eine verschiedene Empfindlichkeit, weil die umliegenden Netzhautteile das eine Mal von weißem
Licht, das andere Mal von keinem Licht getroffen
werden. Einige andere hierher gehörige Beispiele
führt Goethe des weiteren noch an. In der Deutung
des Simultankontrastes nimmt er einen ganz modernen
Standpunkt ein. Noch Helmholtz hatte den Simultankontrast auf psychologische Ursachen bezogen; es
sollte ihm eine Urteilstäuschung zugrunde liegen.
Die neuere Forschung hat aber immer mehr Fälle
bekannt gemacht, in denen solche Urteilstäuschungen
ausgeschlossen sind, und bekennt sich daher mehr
und mehr zu dem Goetheschen Standpunkt. Wir haben im Simultankontrast ein physiologisches Phänomen zu sehen, eine „Induktion" von einem Teil
der Netzhaut auf einen anderen, wodurch dessen
Erregbarkeit geändert wird.
Goethe geht nun zu den Farbenerscheinungen
über und bespricht zunächst solche Fälle, in denen
Farbenempfindungen nach Belichtung mit weißem
Licht auftreten; das beste Beispiel liefert das farbige
Abklingen der Blendungsbilder, wie wir es von der
Sonne oder im Dunkelzimmer von stark belichtetem
weißen Papier empfangen. Sehen wir danach ins
Dunkle, so wird das ursprüngliche gelbe Sonnenbild allmählich farbig. Für Goethes Augen war die
Reihenfolge so, daß zuerst das Bild purpur, dann
blau, dann grau gefärbt wurde. Er bestimmte die
zeitliche Dauer der verschiedenen Farbenerscheinungen und fand sie sehr wechselnd, meinte aber,
daß sich vielleicht ein konstantes Verhältnis zwischen
der Dauer der einzelnen Phasen finden lasse. Hieran
hat dann später Purkinje in seinen „Beiträgen zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht" angeknüpft. Ganz anders wurden nun die Farben, wenn
Goethe das Blendungsbild nicht auf dunklem, sondern auf hellem Grund abklingen ließ. Sah er auf
ein weißes Blatt Papier, so erschien ihm das Nachbild der Sonne nicht gelb, sondern blau, die nächste
Phase war nicht purpur, sondern grün, die dritte gelb statt blau. Schließlich ging das Bild ebenfalls in grau über. Sehr schön läßt sich dieses gegensätzliche Verhalten erkennen, wenn man das Nachbild auf ein Blatt Papier fallen läßt, das zur Hälfte
schwarz, zur Hälfte weiß gefärbt ist; dann sieht man
gleichzeitig in der einen Hälfte die Folge gelb,
purpur, blau, während in der andern Hälfte blau,
grün, gelb erscheint. So können Farbenempfindungen
in einem Auge entstehen, in welches vorher nur weißes Licht gefallen war. Diese Farben sind verschieden, je nachdem die Netzhaut in Ruhe bleibt
oder gleichzeitig durch weißes Licht gereizt wird.
In letzterem Falle erscheint die Komplementärfarbe, nach Goethes Ausdruck die „geforderte"
Farbe. Ein schönes Beispiel, welches gleichzeitig
lehrt, wie Goethe in der Natur seine Augen offen
hielt und zu beobachten pflegte, findet sich in der
Farbenlehre. „Ich befand mich gegen Abend in einer Eisenschmiede, als eben die glühende Masse
unter den Hammer gebracht wurde. Ich hatte scharf
darauf gesehen, wendete mich um und blickte zufällig in einen offenstehenden Kohlenschoppen. Ein
ungeheures purpurfarbnes Bild schwebte nun vor meinen Augen, und als ich den Blick von der dunklen
Öffnung weg, nach dem hellen Bretterverschlag wendete, so erschien mir das Phänomen halb grün, halb
purpurfarben, je nachdem es einen dunklem oder
hellem Grund hinter sich hatte." Ebenso wird von
Goethe das Purpursehen der Schneeblinden, welche längere Zeit ohne Schutzbrillen über Gletscher gewandert sind, als solche Blendungsfarbe gedeutet.
Nach dieser Vorbereitung erörtert Goethe die
Erscheinungen, welche bei Betrachtung farbiger
Bilder auftreten, und schildert zunächst die negativen farbigen Nachbilder. Wenn man auf einer
weißen Papiertafel ein rotes Papierstückchen (z. B.
eine Zehnpfennigmarke) befestigt und dieses längere
Zeit fixiert, so sieht man nachher, wenn das Auge
auf einen gleichmäßig weißen Grund gerichtet wird,
ein grünes Nachbild. War das Papier vorher grün
(eine Fünfpfennigmarke), so ist das Nachbild rot, nach orange ist es blau, nach gelb violett, und umgekehrt Dieses Auftreten der geforderten Farbe nennen wir Successivkontrast, und Goethe gibt auch
hierfür die noch heute gültige physiologische Deutung. Es erscheint uns bei diesem Versuch „die zur Opposition aufgeforderte und durch den Gegensatz eine Totalität hervorbringende Lebendigkeit
der Netzhaut". Der Sinn dieses nicht leicht zu ver- stehenden Satzes ist, daß es sich bei dem Phänomen
um eine Lebensäußerung, um eine Reaktion der
Netzhaut handelt, welche unter dem Einfluß des
Reizlichtes ihre Erregbarkeit so ändert, daß sie für die Gegenfarbe erregbarer (zur Opposition aufgefordert) wird. Da nun, wie wir gleich sehen werden,
Reizlicht und Gegenfarbe sich ergänzen und aufheben, wird durch diesen Gegensatz eine Totalität hervorgebracht. Goethe hat an einer andern
Stelle sich folgendermaßen ausgedrückt: „Wenn das
Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Thätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß, auf der
Stelle eine andere, so unbewußt als notwendig,
hervorzubringen, welche mit der gegebenen die
Totalität des ganzen Farbenkreises enthält. Eine
einzelne Farbe erregt in dem Auge, durch eine
spezifische Empfindung, das Streben nach Allgemeinheit." Daß es sich bei
diesen negativen Nachbildern
um tatsächliche farbige Erregungen in der Netzhaut handelt (Successivinduktion), dafür gibt Goethe einen schönen
Beweis. Er zeigt an einer späteren Stelle der Farbenlehre, daß man die Farbe des negativen Nachbildes mit
der Farbe irgend eines objektiven Papierstückes
mischen könne, und daß dabei die gesetzmäßige
Mischfarbe auftritt. Auf Grund dieser Tatsachen
hat nun Goethe einen Farbenkreis konstruiert, aus dem sich die geschilderten Erscheinungen sofort
ableiten lassen.
In diesem Kreis (Fig. 7) stehen sich die Farben
gerade gegenüber, welche sich gegenseitig fordern.
Er enthält nach Goethes Ansicht, der in dem Grün
keine einheitliche, sondern eine Mischfarbe sah, drei einfache Farben: blau, gelb und purpur (rot), und
drei Mischfarben: grün, orange und violett. Es
stehen sich immer eine einfache und eine Mischfarbe gegenüber. Da die geforderte Mischfarbe
(orange, violett, grün) immer aus den zwei andern
Farben zusammengesetzt ist, als das einfache Reizlicht (blau, gelb, purpur), so sehen wir, wie nach
Goethe das Reizlicht und die geforderten Farben zusammen immer eine Totalität liefern müssen, in- dem sie immer aus den drei Grundfarben zusammengesetzt sind. Das ist die physiologische Dreifarbentheorie, wie sie Goethe gegeben hat. Sie hat mit
der Young-Helmholtzschen Dreifarbentheorie gar
nichts zu tun, zeigt vielmehr eine nähere Verwandtschaft mit der Heringschen Theorie der Gegenfarben,
weil sie ebenfalls von den Empfindungen ausgeht.
Der Farbenkreis, wie er sich in neuern physiologisch-optischen Lehrbüchern findet, hat ein anderes
Aussehen. Hier stehen sich grün und rot, blau und
gelb gegenüber. Wir dürfen daraus aber nicht
schließen, daß Goethes Farbenkreis etwa fehlerhaft konstruiert sei. Es ist nur ein anderes Konstruktionsprinzip verwendet worden. Hering z. B. konstruiert
seinen Farbenkreis so, daß immer zwei gegenüberstehende Farben bei der Mischung grau oder weiß
ergeben, während Goethe die physiologischen Kontrastfarben einander gegenüberstellt. Das ist aus Gründen, deren Erörterung hier zu weit führen würde, nicht ganz dasselbe. Goethes Farbenkreis
beruht auf außerordentlich genauen Beobachtungen.
So gelangt er zu dem Schluß, daß die Farbenempfindungen unseres Auges einen in sich abgeschlossenen Ring bilden, der aus drei Grundfarben
und den dazwischenliegenden Übergängen besteht. Dadurch scheidet sich das Farbensystem unseres Auges scharf vom objektiven Farbensystem, wie es im Spektrum vorhanden ist. Dieses bildet eine einfache lineare Reihe vom Rot über Gelb, Grün, Blau zum Violett; das Auge erst schließt diese Reihe zum
Kreis dadurch, daß es eine Farbenempfindung besitzt, für welche im Spektrum das entsprechende
Reizlicht nicht vertreten ist, und welche erst bei
Mischung des äußersten spektralen Rots und Violetts
auftritt, den Purpur. Dieser Goethesche Purpur stellt nach seiner Ansicht das reinste Rot dar, welches
keine Spur von Blau oder Gelb beigemischt enthält. Von dem modernen Heringschen Farbensystem unterscheidet das Goethesche sich dadurch, daß Grün als eine Mischfarbe betrachtet wird. Goethe war hier
durch die Erfahrung irregeleitet, daß man bei der
Malerei Grün aus Gelb und Blau mischen kann. Das
liegt aber nur an der Unreinheit der verwendeten
Pigmente. Reines spektrales Blau und Gelb gemischt geben grau oder weiß. Aus diesem Irrtum
ist aber Goethe kein Vorwurf zu machen, denn die
Erkenntnis der Mischungsverhältnisse von Blau und Gelb ist erst fünfzig Jahre nach Goethe durch die
Untersuchungen von Helmholtz ermöglicht worden.
Es ist interessant, daß bei Goethe ebenso wie bei
dem Physiker Brewster die Gewißheit, Grün sei eine
Mischfarbe, so weit ging, daß sie im Grün den
gelben und den blauen Anteil zu erkennen glaubten,
während es doch tatsächlich unmöglich ist, sich ein
gelbliches Blau oder bläuliches Gelb vorzustellen 1.
Abgesehen von diesem einen Punkte entspricht
Goethes Dreifarbentheorie, soweit es das Wissen der
Zeit erlaubte, in den wesentlichen Zügen der späteren
Vierfarbentheorie Herings.
1. Ooethe hat allerdings beachtet, daß Grün uns nicht deutlich als Mischfarbe erscheint, wie z. B. Orange oder
Violett. So sagt er: .Die Mischung Grün hat etwas Spezifisches für das Auge" und bemerkt, daß „das Auge und das
Gemüt auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen" ruhe. Den Schluß, daß Grün eine einheitliche Grundempfindung sei, hat er aber nicht gezogen.
Sehr anschaulich sind wieder die Beispiele, die
Goethe für den Successivkontrast anführt. „Als ich
gegen Abend in ein Wirtshaus eintrat und ein wohlgewachsenes Mädchen mit blendendweißem Gesicht,
schwarzen Haaren und einem scharlachroten Mieder
zu mir ins Zimmer trat, blickte ich sie, die in einiger Entfernung vor mir stand, in der Halbdämmerung scharf an. Indem sie sich nun darauf hinwegbewegte, sah ich auf der mir entgegenstehenden
weißen Wand ein schwarzes Gesicht, mit einem hellen Schein umgeben, und die übrige Bekleidung
der völlig deutlichen Figur erschien von einem
schönen Meergrün." Dieses Ergebnis muß einen
tiefen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn unter
den optischen Papieren im Goethehaus befindet sich
noch heute das Bild eines Mädchens in den Kontrastfarben (s. unten S. 240, Fig. 9, Nr. 6). Hat man
dieses längere Zeit fixiert, so sieht man nachher auf
weißem Grunde ein deutliches Frauenbild.
Das nächste hierher gehörige Phänomen hat
Goethe längere Zeit beschäftigt und wird auch
in seiner Korrespondenz mehrfach erwähnt. „Man
erzählt, daß gewisse Blumen im Sommer bei Abendzeit gleichsam blitzen, phosphorescieren oder ein
augenblickliches Licht ausströmen. Einige Beobachter geben diese Erfahrungen genauer an. . . . Am
19. Jun. 1799, als ich zu später Abendzeit, bei
der in eine klare Nacht übergehenden Dämmerung,
mit einem Freunde im Garten auf- und abging, bemerkten wir sehr deutlich an den Blumen des
orientalischen Mohns, die vor allen andern eine sehr
mächtig rote Farbe haben, etwas Flammenähnliches,
das sich in ihrer Nähe zeigte. Wir stellten uns vor
die Stauden hin, sahen aufmerksam darauf, konnten
aber nichts weiter bemerken, bis uns endlich, bei
abermaligem Hin- und Wiedergehen, gelang, indem
wir seitwärts darauf blickten, die Erscheinung so
oft zu wiederholen, als uns beliebte. Es zeigte sich,
daß es ein physiologisches Farbenphänomen, und
der scheinbare Blitz eigentlich das Scheinbild der
Blume in der geforderten blaugrünen Farbe sei. Die Dämmerung ist Ursache, daß das Auge völlig
ausgeruht und empfänglich ist, und die Farbe des
Mohns ist mächtig genug, bei einer Sommerdämmerung der längsten Tage, noch vollkommen zu wirken und ein gefordertes Bild hervorzurufen. . .
.
Will man indessen sich auf die Erfahrung in der
Natur vorbereiten, so gewöhne man sich, indem
man durch den Garten geht, die farbigen Blumen
scharf anzusehen und sogleich auf den Sandweg
hinzublicken; man wird diesen alsdann mit Flecken
der entgegengesetzten Farbe bestreut sehen. Diese
Erfahrung glückt bei bedecktem Himmel, aber auch
selbst beim hellsten Sonnenschein, der, indem er die Farbe der Blume erhöht, sie fähig macht die
geforderte Farbe mächtig genug hervorzubringen,
daß sie selbst bei einem blendenden Lichte noch
bemerkt werden kann. So bringen die Päonien
schön grüne, die Calendeln lebhaft blaue Spectra hervor.
Eine farbige Belichtung, welche eine Stelle der
Netzhaut trifft, ändert aber nicht nur die „chromatische Stimmung" an dieser selben Stelle, sondern
vermag auch auf die umliegenden Netzhautbezirke eine ähnliche Wirkung auszuüben. Wir kommen
damit zur Besprechung der Fälle, welche heute als farbiger Simultankontrast bezeichnet werden. Goethe
hat sie in besonders eingehender Weise studiert
und ihnen die physiologische Deutung gegeben.
Wird an einer gelben Wand ein Stückchen weißes
Papier befestigt, so bekommt dieses, aus der Entfernung gesehen, einen violetten Schein. Legt man
geblümten Musselin auf ein lebhaft grün gefärbtes
Papier, so scheint die Unterlage durch die durchsichtigen Stellen des Musselins grünlich hindurch,
die undurchsichtigen weißen Blumen erscheinen in der geforderten Komplementärfarbe rötlich. Sieht
man durch die Zwischenräume des herabgelassenen
grünen Fensterladens aus dem Zimmer auf ein gegenüberliegendes graues Haus, so sehen dessen Wände
ebenfalls rötlich aus. Am Meeresstrand sieht man
die grünen Wellen lebhafte purpurne Schatten werfen.
„Siehst auf und ab lichtgrüne schwanke Wellen,
Mit Purpursaum, zu schönster Wohnung schwellen"
(Faust).
Alle diese Fälle haben das Gemeinsame, daß eine
Netzhautstelle farbig erregt wird und dadurch andere
Netzhautstellen disponiert werden, die Komplementärfarben erscheinen zu lassen. Diesen Vorgang
physiologisch gedeutet zu haben ist Goethes Verdienst „Mahlt sich auf einem Theile der Netzhaut ein
farbiges Bild, so findet sich der übrige Theil sogleich in einer Disposition, die bemerkten correspondirenden Farben hervorzubringen. Diese physiologische Deutung Goethes, die sich eng an seine
Auffassung des farblosen Simultankontrastes anschließt, ist keineswegs die einzig mögliche. Helmholtz hat auch den farbigen Simultankontrast auf
psychische Ursachen zurückzuführen und als Urteilstäuschungen zu deuten versucht. Neuerdings ist man aber mehr und mehr wieder zu der Goetheschen
Ansicht gekommen. Man sieht im Simultankontrast
den Ausdruck für eine „farbige Induktion", die ein
Netzhautbezirk auf den andern auszuüben imstande
ist, in dem Sinne, daß bei Belichtung eines Netzhautteiles die chromatische Stimmung der Umgebung
gegen die geforderte Farbe hin verschoben wird.
Dafür, daß es sich tatsächlich beim Simultankontrast
um farbige Erregungen der Netzhaut handelt, hat
Goethe einen sehr schönen experimentellen Beweis
angegeben. Fixiert man längere Zeit ein orange
Viereck auf weißem Grund, so bekommt man nachher, wenn der Blick auf eine gleichmäßig weiße
Fläche fällt, ein lebhaft blau-grünes Nachbild; ist dieses kräftig genug, so sieht man die Umgebung
dieses Nachbildes nicht weiß, sondern deutlich orange.
Hier tritt also in der Umgebung des farbig gereizten
Netzhautbezirks an Stellen, welche während des
ganzen Versuchs nur von weißem Lichte getroffen
worden sind, eine Farbenerscheinung auf. Dieser Simultankontrast gegen ein farbiges Nachbild ist vielleicht der Versuch Goethes, der am schlagendsten die physiologische Natur dieser Phänomene
beweist Aber damit nicht genug. Goethe zeigt an einer andern Stelle der Farbenlehre weiter, daß
man die Farben, welche durch Simultankontrast erscheinen, mit objektiv dargebotenen Reizlichtern
mischen kann, wenn man auf eine farbige Fläche
blickt. Goethes Beispiel bezieht sich allerdings
auf den nicht ganz reinen Fall der Mischung von
subjektivem Blau und objektivem Gelb zu Grün,
aber er gibt ausdrücklich an, daß auch alle übrigen Mischungen in typischer Weise zu erzielen
sind. So wird die farbige Erregung nicht gereizter Netzhautpartien durch Induktion von ihm nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen. Die den
Malern bekannte Tatsache, daß nebeneinandergestellte Komplementärfarben sich auf Bildern gegenseitig „heben", d. h. in ihrer Leuchtkraft verstärken,
wird von Goethe mit Recht ebenfalls auf Simultankontrast bezogen.
Die größten Triumphe feierte diese neue Erkenntnis, als sie zur Aufklärung einer Erscheinung
verwendet wurde, welche schon früher vielfach bekannt, aber falsch gedeutet war. Goethe hat die
farbigen Schatten auf den Simultankontrast zurückgeführt. Schon früh hatte er dieselben in der Natur
mit aufmerksamem Auge beobachtet, auf seinen Reisen im Harz, in der Schweiz und Italien drängten sie sich ihm
immer von neuem auf, und schon im Jahre 1792 veröffentlichte er einen kleinen Aufsatz „Über die farbigen
Schatten, in dem die Bedingungen ihres Auftretens
auf das Sorgfältigste experimentell dargelegt werden.
Die richtige Deutung findet sich jedoch in diesem
Aufsatze noch nicht. Sie wird erst 18 Jahre später
in dem Hauptwerk gegeben. Die Erscheinung selbst
ist allbekannt. Stellt man gegen Abend wenn das Tageslicht gedämpft ins Zimmer
dringt, eine brennende
Kerze so auf, daß ein
weißes Blatt Papier,
das auf dem Tische
liegt, vom Tageslicht
und Kerzenlicht gleichzeitig getroffen wird, und läßt nun von einem senkrecht gestellten Bleistift oder Lineal
zwei Schatten auf das Papier fallen (s. Fig. 8), der
eine vom Kerzenlicht geworfen und vom Tageslicht
erhellt, der andere umgekehrt vom Tageslicht geworfen und vom Kerzenlicht erhellt, so sieht man
den einen Schatten gelb, den andern in lebhaftem
Blau erscheinen. Dieses Blau ist oft so kräftig, daß
die früheren Beobachter die Farbe für objektiv hielten
und viele sie als Reflex vom blauen Himmel her
erklärten. Um was es sich tatsächlich dabei handelt, wird klar, wenn man sich überlegt, welches
Licht die einzelnen Partien des weißen Papiers bei
diesem Versuche bekommen. Der weiße Grund A
(siehe Figur 8) erhält weißes Licht vom Fenster und
gelbes Licht von der Kerze, der eine Schatten B erhält nur gelbes Kerzenlicht, der andere C nur weißes
Tageslicht; dieser letztere erscheint blau, und zwar,
wie Goethe gezeigt hat, deshalb, weil die Umgebung A dieses Schattens, welche uns bei oberflächlicher Betrachtung einfach weiß erscheint, in Wirklichkeit durch das Gemisch von Tages- und
Kerzenlicht gelblich erleuchtet ist. Die blaue Farbe
des Schattens erscheint durch Simultankontrast gegen
den gelblichen Grund. Daß dieses die richtige
Deutung ist, dafür gibt Goethe eine ganze Reihe von verschiedenen Versuchen an. Erzeugt man sich
die Schatten zunächst mit zwei ganz gleichen Kerzen, so sehen beide schwarz aus; färbt man aber das
Licht der einen Kerze mit farbigen Gläsern, so erscheinen beide Schatten farbig, der eine in der
Farbe des Glases, der zweite in der „geforderten"
Kontrastfarbe. Ein besonders elementares Beispiel
dafür, daß die Farbe des Schattens unabhängig ist von der Farbe des zweiten Lichts, findet sich in Goethes erster Abhandlung. Hier wird das gleichmäßig graue Licht, das von einer weißen Hauswand
reflektiert wird, benützt, um einmal gegenüber dem
Kerzenlicht, das andere Mal gegenüber dem Sonnenlicht zu wirken. Trotzdem der zweite Schatten in beiden Fällen von dem gleichen Licht erhellt wird,
sieht er das eine Mal gelb, das andere Mal blau aus. Besonders schön erscheinen die farbigen Schatten,
wenn Kerzenlicht und Mondlicht gegeneinander
wirken. Zahllos ist ihr Auftreten in der Natur. Nachstehende schöne Schilderung zeigt, wie Goethe hier zu beobachten verstand. „Auf einer Harzreise im
Winter stieg ich gegen Abend vom Brocken herunter, die weiten Flächen auf- und abwärts waren
beschneit, die Heide von Schnee bedeckt, alle zerstreut stehenden Bäume und vorragenden Klippen,
auch alle Baum- und Felsenmassen völlig bereift,
die Sonne senkte sich eben gegen die Oderteiche
hinunter. — Waren den Tag über, bei dem gelblichen
Ton des Schnees, schon leise violette Schatten bemerklich gewesen, so mußte man sie nun für hochblau ansprechen, als ein gesteigertes Gelb von den
beleuchteten Teilen widerschien. —Als aber die Sonne
sich endlich ihrem Niedergang näherte, und ihr durch
die stärkeren Dünste höchst gemäßigter Strahl die
ganze mich umgebende Welt mit der schönsten
Purpurfarbe überzog, da verwandelte sich die Schattenfarbe in ein Grün, das nach seiner Klarheit einem
Meergrün, nach seiner Schönheit einem Schmaragdgrün verglichen werden konnte. Die Erscheinung
ward immer lebhafter, man glaubte sich in einer
Feenwelt zu befinden, denn alles hatte sich in die zwei lebhaften und so schön übereinstimmenden
Farben gekleidet, bis endlich mit dem Sonnenuntergang die Prachterscheinung sich in eine graue
Dämmerung, und nach und nach in eine mond -und sternhelle Nacht verlor. — Auch die farbigen
Schatten in der Taucherglocke, welche von Newton
für objektiv angesehen waren, erklärt Goethe als physiologisch bedingt. Bei Sonnenschein sehen die
Taucher den Meeresgrund purpurfarbig, die Schatten im lebhaftesten Grün. Alle Schilderung der
farbigen Schatten vermag aber nicht das Vergnügen
zu ersetzen, welches die Nachahmung der von
Goethe angegebenen Versuche gewährt. Man wird
erstaunt sein über die Schönheit der auftretenden
Farben.
Gelegentliche Bemerkungen, welche Goethe an
anderer Stelle der Farbenlehre macht, zeigen, daß er auch über die Brechungsverhältnisse des Auges nachgedacht hat. Er erwähnt, daß eine Öffnung im Fensterladen der Dunkelkammer ihm beim Geradeaussehen
mit farblosen Rändern erscheine, daß er dagegen
bei starkem Neigen des Kopfes nach vorn oder
hinten gelbe und blaue Ränder wahrnehme. Er bezieht das darauf, daß die Kristallinse im Auge in ihren mittleren Partien ein guter achromatischer
optischer Apparat sei, daß dagegen ihre seitlichen
Teile nicht genügend chromatisch korrigiert wären, so daß beim Durchtritt der Lichtstrahlen durch die Seitenteile ebensolche farbigen Ränder entstehen wie
bei schlechten Ferngläsern. Goethe bemerkt also
die ungenügende chromatische Korrektion unserer
Linse unter bestimmten Bedingungen, die später von
Helmholtz auch für ihre mittleren Teile exakt nachgewiesen worden ist.
Daß Goethe die Erscheinung der Doppelbilder
auch wohl vertraut war, und daß er über das Zustandekommen der Tiefenwahrnehmung nachgedacht
hat, ergibt sich aus gelegentlichen Bemerkungen.
Nach einem kurzen Kapitel über subjektive und
objektive Höfe, wie sie um Kerzenflammen, um
Sonne und Mond erscheinen, folgt dann im didaktischen Teil der Farbenlehre der kurze, aber inhaltreiche Abschnitt: „Pathologische Farben". Auch
gegenüber den Krankheitszuständen des Auges vertritt Goethe denselben Standpunkt, den wir schon
früher anläßlich der Mißbildungen von Tier und
Pflanzen kennen gelernt haben. Er sieht im Abnormen ebenfalls Lebensäußerungen, deren normale
Grundlage erforscht werden kann. „Die krankhaften
Phänomene deuten ebenfalls auf organische und
physische Gesetze." Die interessanteste Beobachtung
dieses Abschnitts bezieht sich auf die sogenannte
Farbenblindheit, im Jahre 1794 hat der englische
Chemiker Dalton diesen Zustand, an dem er selber
litt und der nach ihm „Daltonismus" genannt wurde,
zuerst wissenschaftlich geschildert. Seine Mitteilung erschien 1798 im Druck und in demselben Jahre hat
Goethe unabhängig von Dalton ebenfalls an zwei
Fällen genaue Untersuchungen angestellt. Besonders bot sich ein junger Gildemeister, der eben in Jena studierte, freundlich zu allen Hin- und Wiederversuchen, und Goethe lieferte eine so klare Beschreibung dessen, was sich an den Versuchspersonen feststellen ließ, daß wir heute die Art der
Farbenblindheit noch nachträglich diagnosticieren
können. Er beschränkte sich aber keineswegs wie
Dalton auf einfache Schilderung der Symptome,
sondern gab als der erste eine theoretische Deutung. Nach seiner Meinung beruht „das wunderbare Schwanken, daß gewisse Menschen die Farben
verwechseln", darauf, daß sie einige Farben sehen,
andere nicht sehen, daß sie also für bestimmte
Farben blind sind. Die von Goethe untersuchten
Fälle gehören dem häufigsten Typus der Farbenblinden an, welche nach Hering als rot-grünblind
bezeichnet werden. Goethe aber deutet diese Fälle
als Blaublindheit. Interessanterweise rührt diese letztere Ansicht von Schiller her, und es ist lehrreich,
sich den Grund klar zu machen, aus dem die beiden
Dichter zu ihrem Irrtum kamen. Sie stellten fest, daß
Grün nicht gesehen wurde; da aber Grün nach
Goethes Meinung eine gemischte Empfindung aus Blau und Gelb ist, und da Gelb von den untersuchten Personen sehr gut unterschieden werden konnte, wurde per exclusionen geschlossen, daß
die blaue Empfindung fehlen müsse. Wenn es sich
also tatsächlich auch nicht um Blau-, sondern um
Rotgrünblindheit gehandelt hat, so ist wichtig genug, daß Goethe als der erste in dem Fehlen einer
Gruppe von Farbenempfindungen die Ursache dieses
Zustands gesehen hat. Um zu veranschaulichen,
wie solchen Personen die Welt erscheint, bildete er
in den Tafeln zur Farbenlehre eine Landschaft ab,
auf der alles Blau fehlt, der Himmel rosa und die
Bäume rot und gelb aussehen.
Erwähnt wird in dem Abschnitt über pathologische Farben noch die Lichterscheinung, welche
bei galvanischer Durchströmung des Kopfes eintritt, das Funkensehen, welches bei einem Schlag
aufs Auge erfolgt, die Lichtempfindung, die durch
seitlichen Druck auf den Augapfel hervorgerufen
wird, u. a. m. Eine sehr gute Beschreibung gibt
Goethe von den sogenannten „mouches volantes",
den fliegenden Mücken, welche durch das Gesichtsfeld huschen, wenn man längere Zeit mit
gesenktem Kopf, z. B. am Mikroskop, gearbeitet
hat, und die hauptsächlich auf kleinen Trübungen
beruhen, welche im Glaskörper des Auges aufgewirbelt werden. Erwähnt wird ferner, daß in krankhaften Zuständen des Auges die Nachbilder
oft abnorm lang andauern, Blendungsbilder manchmal tagelang von Patienten gesehen werden. Noch vieles Interessante ist in diesem Abschnitt enthalten.
Fragt man nun, worin die Bedeutung dieses ersten Teiles der Farbenlehre liegt, der zweifellos als der
wichtigste und wissenschaftlich bahnbrechendste des
ganzen Goetheschen Werkes bezeichnet werden muß,
so läßt sich zusammenfassend etwa folgendes sagen.
Ein Teil der Tatsachen, die hier geschildert werden, war schon früher bekannt, so die Irradiationserscheinungen, die farbigen Nachbilder und die farbigen
Schatten. Aber sie waren teilweise nicht als subjektiv angesprochen worden, teilweise hatte man sie für nebensächliche oder pathologische Phänomene
gehalten. Goethe war der erste, welcher alle diese
Dinge unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte zusammenfaßte, daß sie ein Kennzeichen für die normale
Tätigkeit unseres Auges sind, und er hat auf diese
Weise die erste Darstellung von der Physiologie des
Licht- und Farbensinns gegeben, eine Darstellung,
welche den heutigen Leser noch durchaus modern
anmutet. Nimmt man irgend eines der jüngsten
Lehrbücher der physiologischen Optik zur Hand,
z. B. die neu erschienene Darstellung Herings, und
liest nachher Goethes Farbenlehre, so ist man erstaunt, in diesem Werke in den Grundzügen die
heutigen Anschauungen bereits niedergelegt zu finden.
Goethes wichtigste Entdeckungen sind, daß er die
Kontrastfarben auf die physiologische Tätigkeit der Netzhaut bezog; sowohl der Successivkontrast wie
der Simultankontrast sind so von ihm in modernster
Weise gedeutet worden ; die Lehre von den farbigen
Schatten hat von ihm die feste physiologische Basis
erhalten; für die Erscheinung der Farbenblindheit
hat er zuerst eine physiologische Theorie gegeben;
auch die Anordnung des Farbensystems in einen
Farbenkreis nach physiologischen Gesichtspunkten
ist Goethes originelles Werk, das von ihm auf die Erscheinung der Kontrastfarben gegründet wurde. So
sehen wir in diesem Abschnitt von den physiologischen Farben wichtige wissenschaftliche Entdeckungen
und Anschauungen in großer Zahl niedergelegt.
Goethe läßt hierauf die Darstellung der physischen
und chemischen Farben folgen. Wir wollen diesen
Gang hier aber unterbrechen und gleich das letzte Kapitel des didaktischen Teils besprechen, das von
der „sinnlich-sittlichen Wirkung der Farben" handelt.
In diesem Abschnitt hat Goethe seine Farbenästhetik niedergelegt. Wie Sie wissen, gingen ja
die optischen Untersuchungen von Fragen des malerischen Kolorits aus, und hier am Schluß kehrt Goethe
zu diesem Ausgangspunkt zurück. Auch hierin bewährt er sich als durchaus originell. Er nimmt
nämlich die von ihm ermittelten physiologisch-optischen Gesetze zur Grundlage für die ästhetische
Betrachtung der Farbenzusammenstellungen. „Das
Grundgesetz der Farbenharmonie ist physiologisch."
So sehen wir Goethe auf Wegen, die später Helmholtz in seinem Vortrag: „Optisches über Malerei"
betrat. Dadurch, daß er die Lehre von der Farbenharmonie so auf physiologische Basis stellte, ist er ebenfalls ein Bahnbrecher geworden, dessen Ausführungen von vielen der zeitgenössischen Maler
freudig aufgenommen worden sind.
Goethe geht aus von seinem Farbensystem, von dem Farbenkreis (s. o. S. 195, Fig. 7), dessen Konstruktion ja auf den Kontrastempfindungen des Auges beruht. Hier stehen sich Rot (Purpur) und Grün, Orange
und Blau, Gelb und Violett gegenüber. Diese drei
Paare von Kontrastfarben („geforderten Farben")
bilden nun nach Goethe diejenigen Farbenzusammenstellungen, welche harmonisch wirken. Die harmonische Ergänzung jeder Farbe ist ihre Kontrastfarbe.
Bei Betrachtung des Farbenkreises ergibt sich dann
weiter, daß noch eine Reihe von andern Farbenzusammenstellungen möglich ist. Zunächst kann man
zwei Farben nebeneinander stellen, welche im Farbenkreis nur durch eine zwischenliegende Farbe getrennt
sind. Solche Zusammenstellung nennt Goethe charakteristisch. Es sind z. B. Blau und Gelb, Gelb und
Purpur, Purpur und Blau, Orange und Violett. Dann
kann man aber auch Farbenpaare bilden aus Pigmenten, welche im Farbenkreis direkt benachbart
sind. Das sind charakterlose Zusammenstellungen:
Gelb — Orange, Orange —Purpur, Purpur —Violett, Violett — Blau, Blau — Grün, Grün — Gelb. Durch
diese Einteilung schafft Goethe in der unendlichen
Mannigfaltigkeit der möglichen Zusammenstellungen
zunächst einmal durch die Aufstellung weniger charakteristischer Gruppen Ordnung. In Wirklichkeit werden alle Möglichkeiten durch die angeführten Beispiele nicht erschöpft; es gibt erstens viel mehr
Farbennuancen als die sechs des Goetheschen Kreises,
und diese Farben können in allen Abstufungen der
Sättigung und Reinheit erscheinen; aber immer werden sie sich bei der Zusammenstellung mehr oder
weniger in eine der drei Goetheschen Gruppen
einfügen lassen. — Es wird dann weiter noch die
Definition des Bunten gegeben. Bunt wirken alle Zusammenstellungen, in denen die Pigmente in ihrer
höchsten Energie und Leuchtkraft erscheinen, die
aber nicht in harmonischem Gleichgewicht sind.
Darauf analysiert Goethe die verschiedenen Komponenten, aus denen sich das Kolorit eines Gemäldes zusammensetzt. Zunächst erscheinen in einem
Bilde die Unterschiede zwischen Hell und Dunkel.
Alle Obergänge vom höchsten Licht durch das
Halblicht zu dem tiefsten Schatten sind möglich,
und diese letzteren können wieder durch zahlreiche
Reflexe aufgehellt werden. Um sich den Anteil
dieser „Schwarz-weiß-Komponente" an der Bildwirkung klar zu machen, hatte Goethe, wie erwähnt,
Angelika Kaufmann veranlaßt, ein Ölbild grau in grau auszuführen und dann erst nachträglich mit
Lasurfarben zu überziehen. Auf dieses „Helldunkel"
superponieren sich nun die Farbenwirkungen. Zunächst hat jeder Gegenstand im Gemälde seine ihm
eigentümliche Körperfarbe, die Lokalfarbe: der Baum
sein Grün, der Stamm sein Braun, das Dach sein
Rot. Auf einem guten Ölbilde werden aber diese
ursprünglichen Körperfarben durch die mannigfaltigsten Umstände modifiziert. Vor allem kommt die
lokale Beleuchtung hinzu. Wird diese durch das
Sonnen- oder Tageslicht gegeben und trifft sie Gegenstände des Vordergrundes, so werden die
Körperfarben dadurch ins Gelbliche oder Rötliche
hinübergezogen. Demgegenüber unterliegen die entfernten Gegenstände des Hintergrundes der Einwirkung der Luftperspektive. Sie erscheinen dadurch, aus Gründen, welche im Abschnitt über die
physischen Farben auseinandergesetzt werden, bläulicher, als der Körperfarbe entspricht. Zu diesen
Abwandlungen der Körperfarben gesellen sich dann
weiter solche, die durch physiologische Vorgänge
bedingt sind. Der aufmerksame Naturbeobachter
sieht in einer Landschaft, besonders in den Schatten,
vielfach die „geforderten" Farben. Vor einer grünen
Wiese erscheinen die braunen Baumstämme im rötlichen Ton, die Schatten einer Schneelandschaft sind
blau, usw. Auch dieses hat der Maler wiederzugeben, wenn er auch, wie Goethe bemerkt, von Unkundigen sich den Vorwurf der Unnatürlichkeit zuzieht. Man
glaubt hier einen Beurteiler der modernsten Malerei
reden zu hören. Aber auch die Farben des Bildes
selbst, so wie sie der Maler nebeneinander setzt, beeinflussen sich gegenseitig. Schon die Farbe des
Rahmens vermag die Stimmung eines Gemäldes
vollkommen zu ändern. So gehen in das farbige
Kolorit die verschiedenartigsten Elemente ein. Die
Körperfarbe wird durch Beleuchtung und Luftperspektive und durch Simultankontrast sehr wesentlich geändert. Alle diese oft widerstreitenden Elemente, alle diese verschiedenen Färbungen muß nun
der Maler zu einer einheitlichen Gesamtwirkung zusammenfassen. Hier lassen sich allgemeine Regeln
nur schwer aufstellen. Die Farbenzusammenstellung
muß vielmehr nach rein künstlerischen Gesichtspunkten geschehen. Trotzdem greift Goethe einige
charakteristische Arten des Kolorits heraus. Mächtig wirken nach seiner Ansicht Bilder, auf denen
die aktiven Farben gelb, orange, purpur überwiegen,
dagegen wenig violett und blau und fast gar kein
grün enthalten ist. Sanft wirken Gemälde, in denen
die passiven Farben blau, violett und purpur vorherrschen, dagegen wenig grün und kein gelb vorhanden ist. Einen glänzenden Eindruck machen
dagegen solche Kunstwerke, welche die Gesamtheit
des Farbenkreises In sich enthalten. Die höchste
Aufgabe des Künstlers liegt darin, auf seinen Bildern die Gesamtheit der Farben in harmonischer Weise zueinander in Einklang zu bringen, d. h. in einer Weise, wie sie durch die physiologischen
Eigenschaften des Auges gefordert wird.
Verwerflich aber ist es, die Farben dadurch zusammen zu stimmen, daß das ganze Bild mit einem
gleichmäßigen Ton überzogen wird. Besonders
energisch spricht sich Goethe über die Mode der
Maler aus, ihre Bilder mit dem gelbbraunen Ton
zu überziehen, wie ihn die nachgedunkelten Werke
der alten Meister zeigen; gerade wie viele moderne
Maler macht auch Goethe energisch gegen die
„braune Sauce" Front. Eine derartige Malweise stört ihm die Totalität.
Das ist in Kürze der Inhalt von Goethes Farbenästhetik. Ihr Wert liegt darin, daß sie auf die physiologischen Eigenschaften unseres Auges gegründet
wird. So hat sich Goethe durch wissenschaftliche Studien einen Einblick in das Zustandekommen malerischer Wirkungen errungen. Der Unbefangene sieht, daß sein künstlerischer Geschmack
und sein Urteil in vielen Fällen sich mit den Bestrebungen der modernen Malerei decken. Goethe
stand auch über diese Dinge in brieflichem Gedankenaustausch mit einem Maler, dem die neuere
Kunstgeschichte einen der ersten Vorkämpferposten
für die Begründung der neueren Malerei angewiesen
hat, mit Philipp Otto Runge. Dieser Künstler, dessen
Bilder heute durch die Schwere des Kolorits einen so merkwürdigen Eindruck machen, war ein großer
Farbentheoretiker. Auch er hatte ein Farbensystem
ausgebaut, das er auf eine Kugel auftrug, und Regeln
über harmonische und unharmonische Farbenzusammenstellungen entwickelt Ein Brief Runges findet
sich am Schluß der Farbenlehre abgedruckt, und
umgekehrt nimmt der Maler in seinem 1810 erschienenen Werk „Farbenkugel oder Konstruktion
des Verhältnisses aller Mischungen der Farben zueinander, und ihrer vollständigen Affinität, mit angehängtem Versuch einer Ableitung der Harmonie
in den Zusammenstellungen der Farben" auf Goethes
Anschauungen dauernd Bezug.
So sehen wir die Fäden von Goethes optischen
Studien sich hinüberschlingen zu den Anfängen der neuen farbenfreudigen Malerei des 19. Jahrhunderts.
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