Zehnte Vorlesung.
Goethe als Naturforscher
Meine Herren! Wir haben in den vorhergehenden Vorlesungen den Inhalt und die Bedeutung von
Goethes wissenschaftlichen Studien auf den verschiedensten Gebieten kennen gelernt, und es erübrigt
noch zum Schluß zusammenfassend zu erörtern,
welches seine naturwissenschaftliche Arbeitsweise
im allgemeinen gewesen ist, wie er über die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis gedacht
hat, welche Bedeutung seine Forschungen für die
Beurteilung seiner Persönlichkeit besitzen und wie
Dichter und Naturforscher sich bei ihm ständig
durchdringen. Die Lösung dieser Aufgabe wird dadurch erleichtert, daß wir außerordentlich zahlreiche
Zeugnisse in Goethes Werken besitzen, aus denen
hervorgeht, wie er selbst über diese Fragen gedacht
hat Wir sind ja kaum über das Leben und Denken
eines andern Menschen so eingehend unterrichtet,
weil wohl niemand alles, was er dachte und was
ihn beschäftigte, so klar formuliert und aufgezeichnet
hat wie er.
Nach Besprechung von Goethes botanischen und
zoologischen Werken haben wir schon kurz über
seine Forschungsmethode in diesen Wissenszweigen
gesprochen, und Sie werden sich erinnern, daß er
stets in der Weise vorging, daß er aus den Einzelerscheinungen, wie die Natur sie ihm darbot, sich
eine kontinuierliche Reihe herstellte, welche vom
einfachsten zum kompliziertesten fortschritt. Die Anwendung dieses Verfahrens beruht auf dem Prinzip
der Stetigkeit, das Goethe auf allen Gebieten der
Naturwissenschaft anwendbar findet. Die Natur macht
keine Sprünge, überall finden sich Übergänge, und so
ist eine Ordnung der Naturphänomene möglich. Ist die kontinuierliche Reihe gebildet, dann kann man
ihre einzelnen Glieder miteinander vergleichen und
auf diese Weise das allen Formen Gemeinsame, das
Gesetzliche feststellen. So gelangte Goethe in der
Botanik zur Urpflanze, in der vergleichenden Anatomie zum Typus.
Das prinzipiell gleiche Verfahren verwendet er bei dem Studium der anorganischen Naturerscheinungen; aber hier wird die Beobachtung der Phäno- mene unterstützt und ergänzt durch willkürlich vom
Forscher angestellte Versuche. Wieder und wieder
betont nun Goethe, daß ein Phänomen allein, ein
Versuch für sich nichts beweisen kann. „Es ist das
Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzeln vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien
alle so, schwerlich würde sich jemand auf den
Handel einlassen." Auch hier also muß aus den Beobachtungen die kontinuierliche Reihe gebildet werden. „Ein Versuch erhält doch nur seinen Wert
durch Vereinigung und Verbindung mit andern." Bei
dieser Ordnung der Versuche kommt aber natürlich
ein willkürliches Element in die Wissenschaft hinein.
Die Verknüpfung der Phänomene in der richtigen
Weise vorzunehmen, ist eine schwierige Aufgabe
des Naturforschers. Besonders ist aber davor zu warnen, eine zu kleine Anzahl von Beobachtungen
den wissenschaftlichen Schlüssen zugrunde zu legen.
Es entstehen dann Theorien, die zu eng begrenzt
sind und nach einiger Zeit ein ernstes Hindernis für den Fortschritt werden. Man muß also stets bei der
Untersuchung eines Phänomens alle Nachbarerscheinungen mit erforschen und jeden Versuch ins Endlose vermannigfaltigen, wie das Goethe selbst in der Farbenlehre getan hat. Die so gewonnene Erfahrung ist dann höherer Art und die Sätze, die
sich daraus ergeben, lassen sich zu höherer Erkenntnis verknüpfen. Goethe geht also stets von
möglichst vermannigfaltigten Versuchen zur Erfahrung über. Dagegen ist seiner Meinung nach nichts
gefährlicher, als den umgekehrten Weg einzuschlagen
und irgend einen vorher aufgestellten Wissenschaftlichen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu
wollen. Dadurch, daß ein Versuch mit einer vorgefaßten Hypothese stimmt, wird keineswegs bewiesen, daß dieselbe auch richtig sei.
Man muß also zuerst die Konsequenz und Konstanz der Phänomene in möglichst vielen Fällen
beobachten, dann kann man diese Ergebnisse vorläufig zu einem empirischen Gesetz zusammenfassen.
Dieses muß dann aber in der Erfahrung an einer
ganzen Reihe von andern Versuchen geprüft, eventuell berichtigt und erweitert werden. Nur so ist die größtmögliche Annäherung des menschlichen
Geistes an die Gegenstände zu erreichen. „Kein
Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur
viele zusammen überschaut, methodisch geordnet,
geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte."
Die schwierigste Frage aber ist die, welches
Phänomen an den Anfang der kontinuierlichen Reihe
gestellt werden soll. Goethe bezeichnet diejenigen
einfachsten Fälle, welche eine Erscheinung in möglichst klarer Weise zeigen und von denen sich alle übrigen Phänomene ableiten lassen, als Urphänomen. „Wer nicht gewahr werden kann, daß ein
Fall oft Tausende wert ist, und sie alle in sich
schließt, wer das nicht zu fassen und zu ehren
imstande ist, was wir Urphänomen genannt haben,
der wird weder sich noch andern jemals etwas zur Freude und zum Nutzen fördern können." Für die Farbenlehre war ihm ein solches Urphänomen die
Farbenerscheinung der trüben Mittel, und der physikalische Teil seiner Optik stellt den konsequenten
Versuch dar, alle Farben von diesem einen Urphänomen abzuleiten. Nichts in der Erscheinung
liegt über den Urphänomenen, „sie dagegen sind
völlig geeignet, daß man stufenweise von ihnen
herab bis zum gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann". Für Goethe ist die
Aufgabe der Naturforschung mit der Auffindung der
Urphänomene im wesentlichen erschöpft. Er macht
nicht den Versuch, diese selbst wieder erklären zu
wollen. Den Grund hierfür gibt er selber an. Man
soll nicht „hinter ihnen und über ihnen noch etwas
Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze
des Schauens eingestehen sollten". Es sind also
die Urphänomene das letzte unmittelbar Anschauliche, zu dem wir gelangen können, und die Naturforschung soll sich streng in den Grenzen des Anschaulichen halten. Wir sehen hier wieder, wie sehr
Goethe ein Mann des Auges gewesen ist und wie
für ihn Anschaulichkeit die erste Voraussetzung jeder
Naturkenntnis war. Er sucht die Phänomene „bis zu ihren Quellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts
weiter an ihnen erklären läßt". „Man suche nur nichts
hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre."
Goethe sieht also die Aufgabe der Naturforschung nur darin, eine möglichst vollständige und einfache
Beschreibung der Naturvorgänge zu geben, und
berührt sich in dieser Forderung aufs engste mit
einem der hervorragendsten theoretischen Physiker
des verflossenen Jahrhunderts, mit Alfred Kirchhoff.
Dieser stellte als Aufgabe der Mechanik hin, die
Naturvorgänge vollständig und auf die einfachste
Weise zu beschreiben. Der Unterschied liegt nur
darin, daß der theoretische Physiker zur Beschreibung das Unanschaulichste, die mathematische Formel, benutzt, während für Goethe die unmittelbare
Anschaulichkeit notwendige Voraussetzung jeder
Naturerkenntnis gewesen ist. Er fragt also bei seinen
Forschungen nicht nach den Ursachen der Phänomene, sondern er will nur ihre Bedingungen untersuchen, nur feststellen, welche Vorgänge in der
Natur notwendigerweise zum Zustandekommen einer
bestimmten Erscheinung erforderlich sind. Sehr gut
läßt sich Goethes Ansicht aus einer Stelle der Farbenlehre erkennen, die sich gegen Newton richtet. „Die
Phänomene lassen sich sehr genau beobachten, die
Versuche lassen sich reinlich anstellen, man kann
Erfahrungen und Versuche in einer gewissen Ordnung aufführen, man kann eine Erscheinung aus der
andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis
des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen
zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das,
dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hingegen zieht jeder für sich daraus, beweisen läßt sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und
Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind,
gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu
sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht,
sondern von dem Willen abhängt, daß niemand
etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was
er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im
Handeln entscheidet das Vorurteil alles es ist ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach
dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem, was wir mit uns im Einklang fühlen." Hier wird
scharf zwischen der eigentlichen Beobachtung, die uns Sicherheit gibt, und allen daraus gezogenen
theoretischen Folgerungen, welche immer nur subjektive Bedeutung besitzen, unterschieden, denn:
„beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil gerät der Forscher in die größte Gefahr des Irrtums." Aus diesem Grunde ist die naturwissenschaftliche
Weltanschauung jedes einzelnen Forschers etwas,
worüber sich gar nicht streiten läßt, da sie von
dessen Persönlichkeit abhängt „Was bleibt dem
Naturforschenden, ja einem jeden Betrachtenden
endlich übrig, als die Erscheinungen der Außenwelt
mit sich in Harmonie zu setzen. Und werden wir
nicht alle jeden Tag überzeugt, daß dasjenige, was dem einen Menschen gemäß und angenehm ist, dem
andern widerwärtig und unlustig erscheine." Dieses subjektive Moment muß aber jeder einzelne nach
Möglichkeit auszuschalten suchen, indem er bei der
Naturforschung völlig im Rahmen des Anschaulichen bleibt.
Goethe steht also der Natur durchaus als ein
Fragender gegenüber. Seine „Anfragen an die Natur"
sind die Versuche. Der Versuch wird als Vermittler
zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Naturforscher
und Außenwelt betrachtet. „Diese Vorstellungsart",
schreibt er in den Annalen, „wurde nun auf die
ganze Physik angewendet; das Subjekt in genauer Erwägung seiner auffassenden und
erkennenden Organe, das Objekt als ein allenfalls erkennbares gegenüber, die Erscheinung durch
Versuche wiederholt und vermannigfaltigt in der
Mitte, wodurch eine ganz eigene Art von Forschung
bereitet wurde."
Wenn Goethe so alles Theoretisieren verwirft, so ist die Beantwortung der Frage, woran wir denn
eigentlich ein Urphänomen als solches erkennen
sollen, eine schwierige. Für ihn ist es die Aufgabe
des Genies, welches auf den ersten Blick wahrnimmt, daß hier die Wurzel der Erscheinungen vorliegt „Alles kommt in der Wissenschaft auf das
an, was man ein Apercu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen
zum Grunde liegt, und ein solches Gewahrwerden
ist ins Unendliche fruchtbar." Wer nicht an der richtigen Stelle zu erstaunen imstande ist, dem fehlt das Zeug zum Naturforscher. „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die
bedeutende Ausübung, Betätigung eines originellen
Wahrheitsgefühles, das, im Stillen längst ausgebildet,
unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern
am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die
den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt."
Ist das Urphänomen gefunden, so lassen sich alle andern Phänomene von ihm aus zur kontinuierlichen
Reihe ordnen. Man soll sich aber hüten, die Erscheinungen nach Kausalitätsgesetzen verknüpfen zu
wollen, denn das ist schon willkürliches Theoretisieren.
Immer und immer wieder wird vor dem voreiligen
Aufstellen von Theorien gewarnt. „Theorien sind
gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der an die Stelle des Phänomens Bilder,
Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt." „Das bloße
Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes
Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten
in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses
aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes zu bedienen,
mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche
Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich
werden soll."
Goethe ist sich natürlich vollständig darüber im
Klaren, daß man, um überhaupt Versuche anstellen zu können, Hypothesen braucht. Er will sie aber
nur als Arbeitshypothesen gelten lassen, als bequeme
Bilder, um sich die Vorstellung des Ganzen zu erleichtern. Die Aufstellung der Hypothesen bildet gar
nicht den naturwissenschaftlichen Teil der Forschung,
sondern den philosophischen. Die Physik hört beim
Urphänomen auf, der Philosoph fängt bei ihm an. Haben die Hypothesen aber ihre Aufgabe erfüllt, zu Versuchen von großer Anschaulichkeit und Klarheit
geführt zu haben, so soll man sie verlassen. „Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude
aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude
fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich, nur muß er das Gerüst nicht für das Gebäude ansehen."
So wird es verständlich, wenn Goethe in der Farbenlehre alle Hypothesen über die Natur des Lichtes
vermeidet, in der Geologie aber hypothetische Annahmen für unvermeidlich hält.
Goethe hat einmal die verschiedenen Arten der
Naturbetrachtung in übersichtlicher Weise eingeteilt.
Die tiefste Stufe sind die Nutzenden, die Nutzen-Suchenden, die das, was die Natur bietet, für ihre
praktischen Zwecke verwenden; die zweite Stufe
bilden die Wißbegierigen, die nur das wissenschaftlich verarbeiten, was sie vorfinden; zu der
dritten Stufe, den Anschauenden, rechnet sich
Goethe selbst: sie suchen die Imagination nach
Möglichkeit zu vermeiden und führen alles auf Anschaulichkeit zurück; die vierte Gruppe, die Umfassenden, schlagen den umgekehrten Weg ein, sie gehen von Ideen aus und suchen deren Verwirklichung in der Natur. Hier geht der Verstand,
nach Kants Darlegung, „von der Anschauung eines
Ganzen als eines solchen, zum Besonderen, das
ist, von dem Ganzen zu den Teilen." Auch diesen
letzteren Weg sucht Goethe vielfach zu beschreiten,
wenn er vom Typischen (z. B. in Botanik und vergleichender Anatomie) zum Einzelfälle vordringt und
sich so „durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig macht."
Bei der umfassenden Betrachtung aller Gebiete
der Naturwissenschaft, wie sie Goethe während
seines langen arbeitsreichen Lebens vorgenommen
hat, war es natürlich, daß er schließlich zu einigen
wenigen ganz durchgreifenden Verallgemeinerungen
gelangen mußte, auf die sich alle Naturvorgänge
zurückführen lassen. Wohl alle großen Naturforscher
stellen derartige allgemeinste Prinzipien auf. Für
Goethe waren die zwei großen Triebräder der Natur
der Begriff von Polarität und von Steigerung.
Wenn wir uns kurz klar machen wollen, was er darunter verstanden hat, so gehen wir von dem
zweiten Begriff, dem Prinzip der Steigerung, aus. Goethe ordnete, wie wir wissen, alle Naturphänomene, die ihm bei seiner Forschung entgegentraten,
in eine kontinuierliche Reihe, die vom einfachsten
bis zum kompliziertesten aufstieg und deren einzelne
Glieder durch fließende Übergänge verbunden waren. So verfuhr er in der Botanik und vergleichenden
Anatomie, so auch in der Farbenlehre. Auf diese
Weise ergab sich für ihn ein Bild des Naturganzen,
das sich in aufsteigender Linie entwickelte, wobei
wir uns erinnern müssen, daß diese Entwicklung
nicht im Darwinschen Sinne zu nehmen ist, sondern
vielmehr so verstanden werden muß, daß sich die
Natur als eine solche kontinuierlich aufsteigende
Reihe darstellen läßt. Diese Reihe ist für Goethe
der Ausdruck der Steigerung. Aus den einfachsten
Phänomenen werden durch Steigerung die komplizierteren und zusammengesetzten abgeleitet. Sie
knüpft an die Urphänomene an und führt so schließlich zu den verwickelten Erscheinungen der täglichen Erfahrung.
Das Prinzip der Steigerung hat Goethe schon
relativ früh bei seinen botanischen und vergleichend
anatomischen Studien im Ausgang der achziger Jahre
gewonnen. Später erst hat sich dazu der Begriff
der Polarität gesellt, den er durch die Beschäftigung mit der Physik gewann und im Anschluß an diese
Studien in allgemeinster Weise angewendet hat.
Der Begriff der Polarität knüpft sich an die
Lehre vom Magnetismus an. In ein und demselben
Eisenstück finden sich vereinigt und doch getrennt
die beiden Pole als Gegensatz, die sich anzuziehen
streben. Dieses Phänomen dient nun Goethe zur Veranschaulichung eines allgemeinen Naturprinzips:
„Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben: dadurch
wird es denn auch ein Symbol für alles übrige,
wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen
brauchen." Zunächst findet sich das gleiche in der Elektrizitätslehre. Die positive und negative
Elektrizität, ihr Anziehen und Abstoßen „zusammen
deutet auf eine Scheidung, auf ein Entzweien, das
wie beim Magnet sein Entgegengesetztes, seine
Totalität, sein Ganzes wieder sucht" In der Chemie
findet Goethe die polaren Gegensätze in der Oxydation und Desoxydation, in der Optik ist es der
Gegensatz von Licht und Finsternis, deren Vereinigung die Farben erzeugt. Bei letzteren findet er die Polarität in dem Gegensatz von Gelb und
Blau, dem trüben Medium vor hellem und vor dunklem Grund; aus beiden leitet er wie wir wissen
durch Steigerung Rot und Violett ab, und durch
Verknüpfung entstehen Grün und Purpur. So ergibt sich durch Vereinigung der polaren Gegensätze schließlich die Totalität des ganzen Farbenkreises.
Ähnliche Betrachtungen werden nun für alle Naturgebiete angestellt. „Treue Beobachter der Natur,
wenn sie auch sonst noch so verschieden denken,
werden doch darin übereinkommen, daß alles, was
erscheinen, was uns als Phänomen begegnen solle,
müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die
einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche
Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten und sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen
ist das Leben der Natur; dies ist die ewige
Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und
Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt,
in der wir leben, weben und sind." Wir besitzen von
seiner Hand eine kurze Aufzeichnung, wie weit er den Begriff der Polarität auf Körperliches und besonders auf Geistiges ausdehnen wollte. Er verzeichnet hier die Antithesen: „Wir und die Gegenstände, Licht und Finsternis, Leib und Seele, zwei
Seelen, Geist und Materie, Gott und die Welt, Gedanke und Ausdehnung, Ideales und Reales, Sinnlichkeit und Vernunft, Phantasie und Verstand, Sein
und Sehnsucht, — zwei Körperhälften, Rechts und
Links, Atemholen, Physische Erfahrung: Magnet"
So leitet sich von dem einfachen Phänomen des
Magneten für Goethe jeder Zwiespalt ab, den er
in der Natur findet:
„Magnets Geheimnis, erkläre mir das!
Kein größres Geheimnis als Liebe und Haß".
Das sind die beiden letzten Verallgemeinerungen,
zu denen Goethe bei seiner Naturbetrachtung gelangt ist, einfachste Sätze, die er auf allen Naturgebieten bestätigt fand. Aber auch hier handelt es
sich bei ihm nicht um Abstraktes. Dadurch, daß
er den Begriff der Polarität vom Magnet als einem
Urphänomen ableitet, gewinnt er auch für diese allgemeinen Gesichtspunkte eine Anschaulichkeit .
Das durchgehende Streben Goethes, alle Naturforschung ganz rein auf Anschaulichkeit zu gründen, bestimmt auch sein Verhältnis zu zwei Nachbargebieten der Naturwissenschaft, zur Mathematik
und zur Philosophie. Die mathematische Betrachtungsweise besonders der Physik, welche die Naturvorgänge mit Hilfe einfacher Formeln darstellen will,
um zu rechnerischen Ergebnissen zu gelangen, sucht
sich nach Möglichkeit von jeder Anschaulichkeit zu
entfernen. Sie schlägt also gerade den umgekehrten
Weg ein wie Goethe. Daher dessen oft scharfe
Stellungnahme gegen die mathematische Behandlung der Physik. Er sieht in der Mathematik nur
ein Verfahren, um mit komplizierten Mitteln einfache Zwecke zu erreichen. Dabei verführt sie nach
seiner Meinung zur Unredlichkeit, weil sie eine
scheinbare Sicherheit der Ergebnisse vortäuscht.
In den mathematischen Resultaten steckt nämlich schließlich nicht mehr drin als schon in den ersten Propositionen, von denen die Rechnung ausging.
Das Resultat kann also auch nicht mehr lehren als die ursprünglichen Propositionen. Die Fehlerquelle
liegt in diesen letzteren. Die Naturvorgänge sind
oft so kompliziert, daß sie sich durch eine einfache
mathematische Formel nicht vollständig darstellen
lassen, und besonders Newtons Optik ist für Goethe
ein trauriges Beispiel, wie durch mathematische Behandlung die Naturwissenschaft verwirrt worden ist. Die Entwicklung der Physik im 19. Jahrhundert hat
Goethe unrecht gegeben. Der Anwendung mathematischer Berechnungen verdanken wir die wichtigen Fortschritte der Erkenntnis und der Technik,
die unser ganzes äußeres Leben umgestaltet haben.
Dagegen gilt in vielen Zweigen der Physiologie auch
heute noch Goethes Lehre. Die Lebensvorgänge sind
tatsächlich meist so verwickelt, daß sie sich vielfach
noch nicht in mathematischen Formeln haben darstellen lassen. Hier ist die Unsicherheit bei der Aufstellung der ersten Propositionen noch so groß, daß auch
die Resultate vielfach noch wenig Vertrauen finden.
Es ist Goethe von den zeitgenössischen Physikern oft zum Vorwurf gemacht worden, daß seine
Farbenlehre der mathematischen Behandlung entbehre, und es wurde ihm von Freunden nahegelegt,
sie noch nachträglich durchführen zu lassen. Er
aber ärgerte sich nur, daß die Mathematiker dünkelhaft alles für nichtig und unexakt erklären, was sich
nicht dem Kalkül unterwerfen läßt. Für ihn war
nicht die Rechnung, sondern die Anschaulichkeit
höchstes Ziel der Naturforschung, und deshalb war
es seiner Meinung nach „die große Aufgabe, die
mathematisch -philosophischen Theorien aus den
Teilen der Physik zu verbannen, in welchen sie Erkenntnis, anstatt sie zu fördern, nur verhindern,
und in welchen die mathematische Behandlung durch
die Einseitigkeit der Entwicklung der neueren wissenschaftlichen Bildung eine so verkehrte Anwendung
gefunden hat." „Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die
Natur und das heilige Leben derselben einzudringen
suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von
ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen
unabhängig von allem Äußeren erklären, ihren eigenen
großen Geistesgang gehen und sich selber reiner
ausbilden als es geschehen kann, wenn sie, wie
bisher, sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem
etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet." Vor
der reinen Mathematik hatte Goethe stets die höchste
Achtung und war daher auch ein warmer Verehrer
eines der größten Mathematikers seiner Zeit, Lagranges. Nur gegen die Anwendung der Mathematik auf physikalische Probleme glaubte er ankämpfen zu müssen. „Die Farbenlehre besonders hat
sehr viel gelitten und ihre Fortschritte sind äußerst
gehindert worden." „Die Mathematiker sind Franzosen: redet man zu ihnen, so übersetzen sie es
in ihre Sprache und dann ist es alsbald etwas ganz
anderes." Poetischen Ausdruck hat Goethe diesem
Standpunkt in dem launigen Gedichte: „Katzenpastete" verliehen, von dem hier nur die beiden
ersten Strophen Platz finden mögen:
„Bewährt den Forscher der Natur
„Ein frei und ruhig Schauen,
„So folge Meßkunst seiner Spur,
„Mit Vorsicht und Vertrauen.
„Zwar mag bei einem Menschenkind
„Sich beides auch vereinen,
„Doch daß es zwei Gewerbe sind,
„Das läßt sich nicht verneinen."
Auch Goethes Stellung zur Philosophie läßt sich
daraus am leichtesten verstehen, daß für ihn stets die Anschaulichkeit das letzte und höchste Ziel gewesen ist. „Für Philosophie im eigentlichsten Sinne
hatte ich kein Organ." Als junger Mensch hatte er wesentlich die philosophischen Lehren Giordano
Brunos und Spinozas in sich aufgenommen, welche
die Alleinheit der Natur lehren und einen Pantheismus, eine Allbeseelung der Natur predigen. Diese
Auffassung war Goethes Wesen am gemäßesten;
daher hat er das Selbst und die Außenwelt auch
bei der Naturbetrachtung nie scharf gesondert und mit Naivität geglaubt, er „sehe seine Meinungen
vor Augen." Er war so von der Realität seiner
Wahrnehmungen überzeugt, daß ihn erst Schiller
in dem ersten Gespräch über die Pflanzenmetamorphose aus seinem unkritischen Schlummer erwecken mußte. Er hatte Kants „Kritik der reinen
Vernunft" und „Kritik der Urteilskraft" schon 1788
und 1790 studiert, wurde aber erst durch Schiller
nachdrücklicher auf sie hingewiesen. Er machte
sich nun sorgfältige Auszüge, beschäftigte sich in seinen Gedanken vielfach mit diesen Fragen und
es gingen ihm dabei die neuen Probleme, wie überhaupt unsere Erfahrung und Erkenntnis von der
Außenwelt zustande kommt, allerdings auf. Er stand
aber, als er mit Kants Lehre bekannt wurde, schon
in den vierziger Jahren. Die Grundlinien seiner
Denkweise waren also bereits unverrücklich festgelegt. So hat er wohl die Fragen der Erkenntniskritik in seinem Geiste aufgeworfen und diskutiert, sie aber nicht mehr zur Grundlage seines Denkens
gemacht. Die Farbenlehre ist ein Zeugnis dafür,
daß er auch nach dem Studium Kants zwischen
seinen Sinnesempfindungen und den diese Empfindung auslosenden Reizen nicht scharf unterschied,
sondern fließende Übergänge zwischen beiden aufstellen wollte. Erst durch Schopenhauer ist, wie
wir wissen, die Kantische Lehre für die Farbenlehre nutzbar gemacht worden. Wir finden vielfache Erörterungen zur Erkenntnistheorie bei Goethe.
„Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im
Kleinen habe ich unausgesetzt die Frage gestellt:
Ist es der Gegenstand oder bist Du es, der sich
hier ausspricht?' „Die Erscheinung ist vom
Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt."
„Wir können eine organische Natur nicht lange als Einheit betrachten, wir können uns selbst nicht
lange als Einheit denken, so finden wir uns zu zwei Ansichten genötigt, und wir betrachten uns
einmal als ein Wesen, das in die Sinne fällt, ein
andermal als ein anderes, das nur durch den inneren Sinn erkannt oder durch seine Wirkung bemerkt werden kann. — Die Zoonomie zerfällt daher
in zwei nicht leicht voneinander zu trennende Teile,
nämlich in die körperliche und in die geistige.
Beide können zwar nicht voneinander getrennt werden, aber der Bearbeiter dieses Faches kann von
der einen oder der andern Seite ausgehen und so
einer oder der andern das Übergewicht verschaffen."
Diese Kantischen Probleme sind aber für ihn stets nur Probleme geblieben. Bei seinem Streben nach
unmittelbarster Anschaulichkeit setzte er doch immer
wieder seine Sinnesempfindung als unmittelbare
Wirklichkeit voraus.
Ebensowenig hat ihn bis in sein spätestes Alter
sein pantheistischer Glaube verlassen. „Wir können
bei Betrachtung des Weltgebäudes in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit, uns
der Vorstellung nicht erwehren, daß dem Ganzen
eine Idee zum Grunde liege, wonach Gott in der
Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit
schaffen und wirken möge." Dieser Allbeseelung
der gesamten Natur entnahm Goethe die Aufforderung, in der Natur nach den Ideen zu suchen, die
all dem Naturgeschehen zugrunde liegen, nach denen
die Natur bei Ausbildung anorganischen und organischen Wesens zu Werke geht. Die Wirksamkeit
dieser Ideen setzt der Naturforscher Goethe voraus;
die Harmonie des Naturganzen ist ihr Ausdruck.
„Was war ein Gott, der nur von außen stieße,
„Im Kreis das All am Finger laufen ließe.
„Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen,
„Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,
„So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,
„Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt."
Auf diese Weise glaubt Goethe durch die Naturforschung in das Innerste der Natur einzudringen.
Für ihn ist der Spruch Albrecht von Hallers ein
Greuel, des Physiologen, der an der Kompliziertheit der Lebenserscheinungen verzweifelnd ausgerufen hatte:
„Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist,
»Glückselig, wem sie nur die äußere Schale weist.``
Diese Resignation wird von Goethe aufs schärfste
zurückgewiesen.
„Ins Innere der Natur —
du Philister! —
„Dringt kein erschaffner Geist."
Mich und Geschwister
Mögt ihr an solches Wort
Nur nicht erinnern:
Wir denken: Ort für Ort
Sind wir im Innern.
„Glückselig! wem sie nur
Die äußre Schale weist."
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen,
Ich fluche drauf, aber verstohlen;
Sage mir tausend tausendmale:
Alles giebt sie reichlich und gern;
Natur hat weder Kern
Noch Schale,
Alles ist sie mit einemmale;
Dich prüfe du nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist."
Da Goethe auf der einen Seite sich die Natur
forschend anschaulich zu machen strebte, auf der
andern aber in der Natur wirkende (göttliche) Ideen
annahm, so mußte sich ihm die Frage erheben, mit
der sich jeder Naturforscher einmal auseinandersetzen muß, ob denn die Natur überhaupt begreiflich sei, ob wir annehmen dürfen, durch Naturforschung in das Wesen der Außenwelt vollständig
eindringen zu können. Schon Kant hatte diese
Frage aufgeworfen und dahin beantwortet, daß die
Wissenschaft, deren Aufgabe es sei, die Natur zu
begreifen, die Begreiflichkeit der Natur voraussetzen
müsse. Ebenso lehrt auch Goethe, „der Mensch
muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen." Trotzdem hat er ein Unbegreifliches in der Natur zugegeben. Die Ideen, nach denen Gott-Natur alle Dinge gestaltet, sind für die Naturforschungzu erkennen unmöglich. Wenn man
aber auch ein solches Unbegreifliches voraussetzt, so soll doch der Mensch seinem Forschen keine
Schranken setzen und so weit in der Erkenntnis zu gelangen streben, als ihm möglich ist. In seinem
Aufsatz „über Noses mineralogische Arbeiten" erörtert er diese wichtigste Frage: „in wiefern wir ein
Unerforschtes für unerforschlich erklären dürfen, und
wieweit es dem Menschen vorwärts zu gehen erlaubt sei, ehe er Ursache habe, vor dem Unbegreiflichen zurückzutreten oder davor stille zu stehen.
Unsere Meinung ist: daß es dem Menschen gar
wohl gezieme, ein Unerforschliches anzunehmen,
daß er dagegen aber seinem Forschen keine Grenzen zu setzen habe; denn wenn auch die Natur
gegen den Menschen im Vorteil steht und ihm
manches zu verheimlichen scheint, so steht er wieder gegen sie im Vorteil, daß er, wenn auch nicht
durch sie durch, doch Ober sie hinaus denken kann.
Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen,
welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht anschaun und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend und aber tausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit
unverändert offenbart." — Hier wird Goethes Standpunkt aufs klarste ausgesprochen. Die Naturforschung kann nur so weit dringen, als die Möglichkeit
der Anschauung reicht, d. h. bis zu den Urphänomenen. Über diese hinaus geht Goethes Naturforschung niemals. Das zu tun ist vielmehr die Aufgabe
der Philosophie. Wie weit diese zur Erklärung der
Urphänomene und zur Erkenntnis der der Natur
zugrunde liegenden Ideen beitragen könne, bleibt
ungewiß. Der menschliche Geist muß aber in das
dunkle Land, soweit es ihm möglich ist, vorzudringen
suchen „und wenn es gleich scheint, daß die menschliche Natur weder die unendliche Mannigfaltigkeit der
Organisation fassen, noch das Gesetz, wonach sie wirkt, deutlich begreifen kann, so ist's doch schön, alle Kräfte aufzubieten, um von beiden Seiten sowohl durch
Erfahrung als durch Nachdenken dieses Bild zu erweitern." Es liegt also in Goethes Auffassung vom
Begreiflichen und Unbegreiflichen ein Stück Resignation, aber zur Beruhigung dient ihm die Erkenntnis,
daß nur das Erforschliche praktischen Wert hat. Deshalb kann er das Unerforschliche ruhig verehren.
Die Stellung eines Jüngers, der die große Mutter
Natur verehrt, hat Goethe sein ganzes Leben lang
beibehalten. Für ihn war die Beschäftigung mit der Natur eine Art Gottesdienst Der Verkehr mit
ihr ist deshalb so glückbringend, weil sie keine
menschlichen Schwächen besitzt: „Warum ich zuletzt am Liebsten mit der Natur verkehre, ist, weil sie immer recht hat und der Irrtum bloß auf meiner
Seite sein kann. Verhandle ich hingegen mit Menschen, so irren sie, dann ich, auch sie wieder, und so
fort, da kommt nichts aufs Reine; weiß ich mich aber
in die Natur zu schicken, so ist alles gethan. —
„Die Natur bekümmert sich nicht um irgend einen
Irrtum; sie selbst kann nicht anders als ewig recht
handeln, unbekümmert was daraus erfolgen möge."
Haben wir bisher Goethes Verhältnis zur Natur
erörtert, so bleibt uns nur noch als letzte Aufgabe, uns klar zu machen, welch Aufschlüsse
Ober Goethes Persönlichkeit wir aus der Kenntnis seines Naturforschens erhalten. Man kann die
Menschen im allgemeinen in zwei große Gruppen
sondern, in solche, die auf Grund von optischen
Vorstellungen zu denken gewohnt sind, und solche,
welche mit Hilfe akustischer Eindrücke und Erinnerungsbilder ihre geistige Tätigkeit ausüben. Zur
ersteren Gruppe gehören viele der Naturforscher
und Techniker, zur letzteren die Geisteswissenschaftler, Philosophen und Philologen. Bei vielen
Menschen ist eine oder die andere Denkweise an- geboren. Sie kann aber auch durch Erziehung abgeändert werden, wie denn tatsächlich viele Knaben
das humanistische Gymnasium als anschauend betreten und als anhörend verlassen. Diese Auseinandersetzung ist deshalb hier von Wichtigkeit, weil
Goethe vielleicht das typische Beispiel für diejenige
Menschenklasse ist, die auf Grund von Gesichtsvorstellungen denkt. Goethe ist ein reines optisches Genie, daher hat er auch die Farbenlehre
vollendet und die Tonlehre im ersten Entwurf liegen
lassen. „Gegen das Auge betrachtet ist das Ohr
ein stummer Sinn." Goethe war wirklich „zum Sehen
geboren, zum Schauen bestellt" und konnte, als er
als Greis den Schlußakt des Faust dichtete, wohl
mit Fug und Recht sagen:
„Ihr glücklichen Augen,
Was je ihr gesehn,
Es sei, wie es wolle,
Es war doch so schön!"
Er selbst ist über diese seine Geistesart besonders durch die treffende Bemerkung des Arztes
Heinroth aufgeklärt worden, der ihm gegenständliches Denkvermögen zuschrieb, und hat im
Anschluß daran in seinem Aufsatz: „Bedeutendes
Fordernis durch ein geistreiches Wort" Anlaß genommen, sich über seine Denkweise auszusprechen.
Er weist hierbei darauf hin, daß sein Dichten
und sein Naturforschen beide auf dieser selben
Grundlage ruhen, daß er so zu dichten pflege,
daß er die Stoffe oft jahrelang mit sich herumtrage und von Zeit zu Zeit in plastischer Form vor seinem
geistigen Auge reproduziere. Diese fortwährende
Erneuerung durch die Einbildungskraft führt dann
schließlich zur endgültigen Gestaltung, und so schreibt
er oft Dichtungen, die Jahrzehnte in ihm gereift sind,
schließlich in wenigen Tagen nieder. Auch die
Neigung zu Gelegenheitsgedichten hängt mit diesem
gegenständlichen Denken zusammen. Wie sehr Goethe
bei seiner Naturforschung sein gegenständliches
Denken betätigte, braucht hier nur angedeutet zu werden. Alles Vorhergehende ist die beste Illustration dafür. In Farbenlehre und Physik strebte er ebenso nach Anschaulichkeit, wie er bei Betrachtung
des Schöpsenschädels am Lido mit einem Blick
den Aufbau des Schädels aus Wirbelkörpern erkannte,
und wie er seine Idee des Pflanzenbaues so tatsächlich vor Augen zu sehen glaubte, daß ihm Schillers
Einwurf, sie sei nur eine Idee, als eine Beleidigung
erschien. So sehen wir, daß das Auge tatsächlich
Goethes Hauptsinn ist, daß die optischen Eindrücke
dauernd sein Denken bestimmen und in seinen Vorstellungskreis eingehen. Wenn man so auf Grund
seiner Sinneseindrücke Dichter, Künstler und Naturforscher ist, so ist allerdings diese Fähigkeit zur
Sinnlichkeit notwendige Voraussetzung. „Dichter
und Künstler müssen geboren sein." Goethe selbst
schildert uns an mehreren Steilen seiner Werke, wie
es ihm ein Leichtes gewesen ist, Bilder, Menschen und Handlungen sich jederzeit so vorzustellen, daß
er sie mit Augen zu sehen glaubte.
Mit der Fähigkeit des gegenständlichen Denkens verknüpft sich bei Goethe naturgemäß ein zweites, die schöpferische Phantasie. Wir brauchen hier nicht näher auszuführen, daß Goethe diese Grundlage jeder dichterischen Tätigkeit in höchstem Maße besessen hat. Wir wollen nur das in der Einleitung Gesagte uns in das Gedächtnis zurückrufen, daß auch jeder Naturforscher, der zu umfassenden Vorstellungen gelangen will, nach Helmholtz Zeugnis etwas von der Phantasie des Dichters nötig habe. Diese schöpferische Einbildungskraft äußert sich in allen Zweigen von Goethes Naturforschung, in der Pflanzenmetamorphose, in der Konstruktion des tierischen Typus ebensowohl wie in der Farbenlehre und den geologischen Theorien. Kein Geringerer als Johannes Müller hat noch zu Goethes Lebzeiten auf diese gemeinsame psychologische Grundlage von Goethes Dichtung und Naturforschung hingewiesen. Er schreibt in seinem Aufsatz „über die phantastischen Gesichtserscheinungen": „Hier zeigt sich denn, wo das Phantasieleben des Künstlers und des vergleichenden Naturforschers in gemeinsamem Gebiet sich berühren und auch auseinandergehen. In beiden bewegt sich das plastische Phantasieleben nur innerhalb der Sphäre des Begriffs. Der Naturforscher spricht das Gesetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er sieht es nur in dem Wirklichen und Natürlichen verwirklicht. Die Phantasie des Künstlers ist auch nur in diesem Gesetze tätig, aber sie verläßt seine Verwirklichung im Wirklichen und Natürlichen, und erhebt sich, in denselben Gesetzen sich bewegend und fortschreitend, ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirkliche zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht mehr ein Ausdruck innerer Funktionen und als solcher immerhin durch diese beschränkt ist. Wundern wir uns darum nicht, wenn einer und derselbe das Größte in beiden Richtungen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee des lebendigen Wechsels wirkende plastische Imagination entdeckte Goethe die Metamorphose der Pflanzen, eben darauf beruhen seine Fortschritte in der vergleichenden Anatomie und seine höchst geistige, ja künstlerische Auffassung dieser Wissenschaft"
Wir haben in der sinnesphysiologischen Einleitung zur Farbenlehre auseinandergesetzt, daß von der Art und Funktion der Sinnesorgane das abhängt, was wir als Milieu eines Lebewesens bezeichnen. Wenn Sie nun versuchen, sich einmal zu vergegenwärtigen, in welch umfassender Weise Goethe seine Sinnesorgane und vor allem sein Auge zum Studium seiner Außenwelt benutzt hat, so wird Ihnen ohne weiteres klar werden, wie unendlich reichhaltig das Milieu dieses Mannes gewesen sein muß. Alle Zweige des großen Baumes der Natur hat er selbst in eigener Arbeit kennen gelernt; die Tier- und Pflanzenwelt, die Oberfläche unserer Erde und die Atmosphäre, der gestirnte Himmel, die physikalischen Vorgänge in unserer Umgebung, das Wirken des Lichts und der Farbe waren ihm vertraut und so bekannt, daß er sie jeden Augenblick vor seinem geistigen Auge reproduzieren konnte. Daher auch die Fülle anschaulicher Bilder aus der Natur, die dem Dichter zur Verfügung stehen: „Ich habe niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle." Es ist nicht meine Aufgabe, in eine Analyse von Goethes Dichtungen einzutreten, und alle die zahlreichen naturwissenschaftlichen Dinge, die hier anklingen, herauszuschälen. Aber ich bin überzeugt, daß jeder von Ihnen, wenn er jetzt eines jener Meisterwerke wieder in die Hand nimmt, mit um so größerer Freude auch auf diese Grundlage von Goethes Dichten achten und mit um so größerem Genüsse die vielen aus der Natur genommenen Gleichnisse, Bilder und Schilderungen auf sich wirken lassen wird, die dem Dichter in so überwältigender Fülle zur Verfügung standen.
„Über allen Gipfeln Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde." . . .
Hier wird nur geschildert und dieses einfachste Naturgemälde gilt als unmittelbares Symbol der geheimsten Stimmung des Dichterherzens. So ist es in hunderten und aber hunderten von Goethes Schöpfungen.
„Die naturwissenschaftlichen Arbeiten haben mich genötigt, meinen Geist zu prüfen und zu üben. Wenn auch für die Wissenschaft gar kein Vorteil daraus entspränge, so würde der Vorteil, den ich daraus ziehe, mir immer unschätzbar sein." Den Einfluß der Naturwissenschaft auf Goethes Geist haben wir kurz angedeutet Daß aber auch für die Wissenschaft bedeutender Vorteil durch Goethes Forschung erwachsen ist, das hoffe ich Ihnen in diesen Vorlesungen zur Genüge gezeigt zu haben. Goethe war ein Geist, der aus jedem Felsen, an den er anschlug, lebendiges Wasser hervorsprudeln lassen konnte.
Meine Herren! Wir sind am Schluß. Indem ich diese Vorträge beende, lassen Sie mich noch auf
einen Grundzug Goetheschen Wesens hinweisen, das ist die völlige Reinheit seines naturwissenschaftlichen Strebens, das nur von dem Drange nach Erkenntnis geleitet wurde. Es ist eine alte, aber immer wieder vergessene Erfahrung, daß die wichtigsten auch praktisch brauchbarsten Ergebnisse durch rein theoretische zunächst nicht auf praktische Ziele gerichtete Forschung erreicht werden. „Man wird sich durch die Erfahrung überzeugen, wie es bisher der Fortschritt der Wissenschaft bewiesen hat, daß der reellste und ausgebreitetste Nutzen für die Menschen nur das Resultat großer und uneigennütziger Bemühungen sei, welche weder taglöhnermäßig ihren Lohn am Ende der Woche fordern dürfen, aber auch dagegen ein nützliches Resultat für die Menschheit weder am Ende eines Jahres noch Jahrzehnts noch Jahrhunderts vorzulegen brauchen." Für Goethe war das höchste Glück, bei seiner Naturforschung sich mit der Natur eins zu wissen, in der Natur aufzugehen und erst aus dem großen Naturganzen seine Persönlichkeit wieder heraus zugewinnen.
„Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde."
Lassen Sie uns zum Schluß noch jene gewaltigen Verse, in denen der Dichter das Aufgehen in der Natur predigt, in denen er zugleich das umfassendste Bild eines vorwärtsstrebenden, in stetem Wechsel befindlichen Naturganzen entwirft, anhören.
Eins und Alles. Im Gränzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.
Weltseele komm uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne.
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden,
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln.
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen!
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
Goethe auf meiner Seite
Ende
Inhalt
Mit der Fähigkeit des gegenständlichen Denkens verknüpft sich bei Goethe naturgemäß ein zweites, die schöpferische Phantasie. Wir brauchen hier nicht näher auszuführen, daß Goethe diese Grundlage jeder dichterischen Tätigkeit in höchstem Maße besessen hat. Wir wollen nur das in der Einleitung Gesagte uns in das Gedächtnis zurückrufen, daß auch jeder Naturforscher, der zu umfassenden Vorstellungen gelangen will, nach Helmholtz Zeugnis etwas von der Phantasie des Dichters nötig habe. Diese schöpferische Einbildungskraft äußert sich in allen Zweigen von Goethes Naturforschung, in der Pflanzenmetamorphose, in der Konstruktion des tierischen Typus ebensowohl wie in der Farbenlehre und den geologischen Theorien. Kein Geringerer als Johannes Müller hat noch zu Goethes Lebzeiten auf diese gemeinsame psychologische Grundlage von Goethes Dichtung und Naturforschung hingewiesen. Er schreibt in seinem Aufsatz „über die phantastischen Gesichtserscheinungen": „Hier zeigt sich denn, wo das Phantasieleben des Künstlers und des vergleichenden Naturforschers in gemeinsamem Gebiet sich berühren und auch auseinandergehen. In beiden bewegt sich das plastische Phantasieleben nur innerhalb der Sphäre des Begriffs. Der Naturforscher spricht das Gesetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er sieht es nur in dem Wirklichen und Natürlichen verwirklicht. Die Phantasie des Künstlers ist auch nur in diesem Gesetze tätig, aber sie verläßt seine Verwirklichung im Wirklichen und Natürlichen, und erhebt sich, in denselben Gesetzen sich bewegend und fortschreitend, ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirkliche zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht mehr ein Ausdruck innerer Funktionen und als solcher immerhin durch diese beschränkt ist. Wundern wir uns darum nicht, wenn einer und derselbe das Größte in beiden Richtungen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee des lebendigen Wechsels wirkende plastische Imagination entdeckte Goethe die Metamorphose der Pflanzen, eben darauf beruhen seine Fortschritte in der vergleichenden Anatomie und seine höchst geistige, ja künstlerische Auffassung dieser Wissenschaft"
Wir haben in der sinnesphysiologischen Einleitung zur Farbenlehre auseinandergesetzt, daß von der Art und Funktion der Sinnesorgane das abhängt, was wir als Milieu eines Lebewesens bezeichnen. Wenn Sie nun versuchen, sich einmal zu vergegenwärtigen, in welch umfassender Weise Goethe seine Sinnesorgane und vor allem sein Auge zum Studium seiner Außenwelt benutzt hat, so wird Ihnen ohne weiteres klar werden, wie unendlich reichhaltig das Milieu dieses Mannes gewesen sein muß. Alle Zweige des großen Baumes der Natur hat er selbst in eigener Arbeit kennen gelernt; die Tier- und Pflanzenwelt, die Oberfläche unserer Erde und die Atmosphäre, der gestirnte Himmel, die physikalischen Vorgänge in unserer Umgebung, das Wirken des Lichts und der Farbe waren ihm vertraut und so bekannt, daß er sie jeden Augenblick vor seinem geistigen Auge reproduzieren konnte. Daher auch die Fülle anschaulicher Bilder aus der Natur, die dem Dichter zur Verfügung stehen: „Ich habe niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle." Es ist nicht meine Aufgabe, in eine Analyse von Goethes Dichtungen einzutreten, und alle die zahlreichen naturwissenschaftlichen Dinge, die hier anklingen, herauszuschälen. Aber ich bin überzeugt, daß jeder von Ihnen, wenn er jetzt eines jener Meisterwerke wieder in die Hand nimmt, mit um so größerer Freude auch auf diese Grundlage von Goethes Dichten achten und mit um so größerem Genüsse die vielen aus der Natur genommenen Gleichnisse, Bilder und Schilderungen auf sich wirken lassen wird, die dem Dichter in so überwältigender Fülle zur Verfügung standen.
„Über allen Gipfeln Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde." . . .
Hier wird nur geschildert und dieses einfachste Naturgemälde gilt als unmittelbares Symbol der geheimsten Stimmung des Dichterherzens. So ist es in hunderten und aber hunderten von Goethes Schöpfungen.
„Die naturwissenschaftlichen Arbeiten haben mich genötigt, meinen Geist zu prüfen und zu üben. Wenn auch für die Wissenschaft gar kein Vorteil daraus entspränge, so würde der Vorteil, den ich daraus ziehe, mir immer unschätzbar sein." Den Einfluß der Naturwissenschaft auf Goethes Geist haben wir kurz angedeutet Daß aber auch für die Wissenschaft bedeutender Vorteil durch Goethes Forschung erwachsen ist, das hoffe ich Ihnen in diesen Vorlesungen zur Genüge gezeigt zu haben. Goethe war ein Geist, der aus jedem Felsen, an den er anschlug, lebendiges Wasser hervorsprudeln lassen konnte.
Meine Herren! Wir sind am Schluß. Indem ich diese Vorträge beende, lassen Sie mich noch auf
einen Grundzug Goetheschen Wesens hinweisen, das ist die völlige Reinheit seines naturwissenschaftlichen Strebens, das nur von dem Drange nach Erkenntnis geleitet wurde. Es ist eine alte, aber immer wieder vergessene Erfahrung, daß die wichtigsten auch praktisch brauchbarsten Ergebnisse durch rein theoretische zunächst nicht auf praktische Ziele gerichtete Forschung erreicht werden. „Man wird sich durch die Erfahrung überzeugen, wie es bisher der Fortschritt der Wissenschaft bewiesen hat, daß der reellste und ausgebreitetste Nutzen für die Menschen nur das Resultat großer und uneigennütziger Bemühungen sei, welche weder taglöhnermäßig ihren Lohn am Ende der Woche fordern dürfen, aber auch dagegen ein nützliches Resultat für die Menschheit weder am Ende eines Jahres noch Jahrzehnts noch Jahrhunderts vorzulegen brauchen." Für Goethe war das höchste Glück, bei seiner Naturforschung sich mit der Natur eins zu wissen, in der Natur aufzugehen und erst aus dem großen Naturganzen seine Persönlichkeit wieder heraus zugewinnen.
„Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde."
Lassen Sie uns zum Schluß noch jene gewaltigen Verse, in denen der Dichter das Aufgehen in der Natur predigt, in denen er zugleich das umfassendste Bild eines vorwärtsstrebenden, in stetem Wechsel befindlichen Naturganzen entwirft, anhören.
Eins und Alles. Im Gränzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.
Weltseele komm uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.
Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne.
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden,
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.
Es soll sich regen, schaffend handeln.
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen!
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.
Goethe auf meiner Seite
Ende
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