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2019-12-09

Rudolf Magnus-Goethe als Naturforscher - Zehnte Vorlesung. Goethe als Naturforscher (12)

Rudolf Magnus Goethe als Naturforscher


Zehnte Vorlesung. Goethe als Naturforscher


Meine Herren! Wir haben in den vorhergehenden Vorlesungen den Inhalt und die Bedeutung von Goethes wissenschaftlichen Studien auf den verschiedensten Gebieten kennen gelernt, und es erübrigt noch zum Schluß zusammenfassend zu erörtern, welches seine naturwissenschaftliche Arbeitsweise im allgemeinen gewesen ist, wie er über die Möglichkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnis gedacht hat, welche Bedeutung seine Forschungen für die Beurteilung seiner Persönlichkeit besitzen und wie Dichter und Naturforscher sich bei ihm ständig durchdringen. Die Lösung dieser Aufgabe wird dadurch erleichtert, daß wir außerordentlich zahlreiche Zeugnisse in Goethes Werken besitzen, aus denen hervorgeht, wie er selbst über diese Fragen gedacht hat Wir sind ja kaum über das Leben und Denken eines andern Menschen so eingehend unterrichtet, weil wohl niemand alles, was er dachte und was ihn beschäftigte, so klar formuliert und aufgezeichnet hat wie er.

Nach Besprechung von Goethes botanischen und zoologischen Werken haben wir schon kurz über seine Forschungsmethode in diesen Wissenszweigen gesprochen, und Sie werden sich erinnern, daß er stets in der Weise vorging, daß er aus den Einzelerscheinungen, wie die Natur sie ihm darbot, sich eine kontinuierliche Reihe herstellte, welche vom einfachsten zum kompliziertesten fortschritt. Die Anwendung dieses Verfahrens beruht auf dem Prinzip der Stetigkeit, das Goethe auf allen Gebieten der Naturwissenschaft anwendbar findet. Die Natur macht keine Sprünge, überall finden sich Übergänge, und so ist eine Ordnung der Naturphänomene möglich. Ist die kontinuierliche Reihe gebildet, dann kann man ihre einzelnen Glieder miteinander vergleichen und auf diese Weise das allen Formen Gemeinsame, das Gesetzliche feststellen. So gelangte Goethe in der Botanik zur Urpflanze, in der vergleichenden Anatomie zum Typus. 

Das prinzipiell gleiche Verfahren verwendet er bei dem Studium der anorganischen Naturerscheinungen; aber hier wird die Beobachtung der Phäno- mene unterstützt und ergänzt durch willkürlich vom Forscher angestellte Versuche. Wieder und wieder betont nun Goethe, daß ein Phänomen allein, ein Versuch für sich nichts beweisen kann. „Es ist das Glied einer großen Kette, das erst im Zusammenhange gilt. Wer eine Perlenschnur verdecken und nur die schönste einzeln vorzeigen wollte, verlangend, wir sollten ihm glauben, die übrigen seien alle so, schwerlich würde sich jemand auf den Handel einlassen." Auch hier also muß aus den Beobachtungen die kontinuierliche Reihe gebildet werden. „Ein Versuch erhält doch nur seinen Wert durch Vereinigung und Verbindung mit andern." Bei dieser Ordnung der Versuche kommt aber natürlich ein willkürliches Element in die Wissenschaft hinein. Die Verknüpfung der Phänomene in der richtigen Weise vorzunehmen, ist eine schwierige Aufgabe des Naturforschers. Besonders ist aber davor zu warnen, eine zu kleine Anzahl von Beobachtungen den wissenschaftlichen Schlüssen zugrunde zu legen. Es entstehen dann Theorien, die zu eng begrenzt sind und nach einiger Zeit ein ernstes Hindernis für den Fortschritt werden. Man muß also stets bei der Untersuchung eines Phänomens alle Nachbarerscheinungen mit erforschen und jeden Versuch ins Endlose vermannigfaltigen, wie das Goethe selbst in der Farbenlehre getan hat. Die so gewonnene Erfahrung ist dann höherer Art und die Sätze, die sich daraus ergeben, lassen sich zu höherer Erkenntnis verknüpfen. Goethe geht also stets von möglichst vermannigfaltigten Versuchen zur Erfahrung über. Dagegen ist seiner Meinung nach nichts gefährlicher, als den umgekehrten Weg einzuschlagen und irgend einen vorher aufgestellten Wissenschaftlichen Satz unmittelbar durch Versuche beweisen zu wollen. Dadurch, daß ein Versuch mit einer vorgefaßten Hypothese stimmt, wird keineswegs bewiesen, daß dieselbe auch richtig sei. 

Man muß also zuerst die Konsequenz und Konstanz der Phänomene in möglichst vielen Fällen beobachten, dann kann man diese Ergebnisse vorläufig zu einem empirischen Gesetz zusammenfassen. Dieses muß dann aber in der Erfahrung an einer ganzen Reihe von andern Versuchen geprüft, eventuell berichtigt und erweitert werden. Nur so ist die größtmögliche Annäherung des menschlichen Geistes an die Gegenstände zu erreichen. „Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte." 

Die schwierigste Frage aber ist die, welches Phänomen an den Anfang der kontinuierlichen Reihe gestellt werden soll. Goethe bezeichnet diejenigen einfachsten Fälle, welche eine Erscheinung in möglichst klarer Weise zeigen und von denen sich alle übrigen Phänomene ableiten lassen, als Urphänomen. „Wer nicht gewahr werden kann, daß ein Fall oft Tausende wert ist, und sie alle in sich schließt, wer das nicht zu fassen und zu ehren imstande ist, was wir Urphänomen genannt haben, der wird weder sich noch andern jemals etwas zur Freude und zum Nutzen fördern können." Für die Farbenlehre war ihm ein solches Urphänomen die Farbenerscheinung der trüben Mittel, und der physikalische Teil seiner Optik stellt den konsequenten Versuch dar, alle Farben von diesem einen Urphänomen abzuleiten. Nichts in der Erscheinung liegt über den Urphänomenen, „sie dagegen sind völlig geeignet, daß man stufenweise von ihnen herab bis zum gemeinsten Falle der täglichen Erfahrung niedersteigen kann". Für Goethe ist die Aufgabe der Naturforschung mit der Auffindung der Urphänomene im wesentlichen erschöpft. Er macht nicht den Versuch, diese selbst wieder erklären zu wollen. Den Grund hierfür gibt er selber an. Man soll nicht „hinter ihnen und über ihnen noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Grenze des Schauens eingestehen sollten". Es sind also die Urphänomene das letzte unmittelbar Anschauliche, zu dem wir gelangen können, und die Naturforschung soll sich streng in den Grenzen des Anschaulichen halten. Wir sehen hier wieder, wie sehr Goethe ein Mann des Auges gewesen ist und wie für ihn Anschaulichkeit die erste Voraussetzung jeder Naturkenntnis war. Er sucht die Phänomene „bis zu ihren Quellen zu verfolgen, bis dorthin, wo sie bloß erscheinen und sind, und wo sich nichts weiter an ihnen erklären läßt". „Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre." Goethe sieht also die Aufgabe der Naturforschung nur darin, eine möglichst vollständige und einfache Beschreibung der Naturvorgänge zu geben, und berührt sich in dieser Forderung aufs engste mit einem der hervorragendsten theoretischen Physiker des verflossenen Jahrhunderts, mit Alfred Kirchhoff. Dieser stellte als Aufgabe der Mechanik hin, die Naturvorgänge vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben. Der Unterschied liegt nur darin, daß der theoretische Physiker zur Beschreibung das Unanschaulichste, die mathematische Formel, benutzt, während für Goethe die unmittelbare Anschaulichkeit notwendige Voraussetzung jeder Naturerkenntnis gewesen ist. Er fragt also bei seinen Forschungen nicht nach den Ursachen der Phänomene, sondern er will nur ihre Bedingungen untersuchen, nur feststellen, welche Vorgänge in der Natur notwendigerweise zum Zustandekommen einer bestimmten Erscheinung erforderlich sind. Sehr gut läßt sich Goethes Ansicht aus einer Stelle der Farbenlehre erkennen, die sich gegen Newton richtet. „Die Phänomene lassen sich sehr genau beobachten, die Versuche lassen sich reinlich anstellen, man kann Erfahrungen und Versuche in einer gewissen Ordnung aufführen, man kann eine Erscheinung aus der andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das, dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hingegen zieht jeder für sich daraus, beweisen läßt sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt, daß niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln entscheidet das Vorurteil alles es ist ein freudiger Trieb unseres lebendigen Wesens nach dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem, was wir mit uns im Einklang fühlen." Hier wird scharf zwischen der eigentlichen Beobachtung, die uns Sicherheit gibt, und allen daraus gezogenen theoretischen Folgerungen, welche immer nur subjektive Bedeutung besitzen, unterschieden, denn: „beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil gerät der Forscher in die größte Gefahr des Irrtums." Aus diesem Grunde ist die naturwissenschaftliche Weltanschauung jedes einzelnen Forschers etwas, worüber sich gar nicht streiten läßt, da sie von dessen Persönlichkeit abhängt „Was bleibt dem Naturforschenden, ja einem jeden Betrachtenden endlich übrig, als die Erscheinungen der Außenwelt mit sich in Harmonie zu setzen. Und werden wir nicht alle jeden Tag überzeugt, daß dasjenige, was dem einen Menschen gemäß und angenehm ist, dem andern widerwärtig und unlustig erscheine." Dieses subjektive Moment muß aber jeder einzelne nach Möglichkeit auszuschalten suchen, indem er bei der Naturforschung völlig im Rahmen des Anschaulichen bleibt. 

Goethe steht also der Natur durchaus als ein Fragender gegenüber. Seine „Anfragen an die Natur" sind die Versuche. Der Versuch wird als Vermittler zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Naturforscher und Außenwelt betrachtet. „Diese Vorstellungsart", schreibt er in den Annalen, „wurde nun auf die ganze Physik angewendet; das Subjekt in genauer Erwägung seiner auffassenden und erkennenden Organe, das Objekt als ein allenfalls erkennbares gegenüber, die Erscheinung durch Versuche wiederholt und vermannigfaltigt in der Mitte, wodurch eine ganz eigene Art von Forschung bereitet wurde." 

Wenn Goethe so alles Theoretisieren verwirft, so ist die Beantwortung der Frage, woran wir denn eigentlich ein Urphänomen als solches erkennen sollen, eine schwierige. Für ihn ist es die Aufgabe des Genies, welches auf den ersten Blick wahrnimmt, daß hier die Wurzel der Erscheinungen vorliegt „Alles kommt in der Wissenschaft auf das an, was man ein Apercu nennt, auf ein Gewahrwerden dessen, was eigentlich den Erscheinungen zum Grunde liegt, und ein solches Gewahrwerden ist ins Unendliche fruchtbar." Wer nicht an der richtigen Stelle zu erstaunen imstande ist, dem fehlt das Zeug zum Naturforscher. „Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originellen Wahrheitsgefühles, das, im Stillen längst ausgebildet, unversehens mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen läßt." 

Ist das Urphänomen gefunden, so lassen sich alle andern Phänomene von ihm aus zur kontinuierlichen Reihe ordnen. Man soll sich aber hüten, die Erscheinungen nach Kausalitätsgesetzen verknüpfen zu wollen, denn das ist schon willkürliches Theoretisieren. Immer und immer wieder wird vor dem voreiligen Aufstellen von Theorien gewarnt. „Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der an die Stelle des Phänomens Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt." „Das bloße Anblicken einer Sache kann uns nicht fördern. Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren. Dieses aber mit Bewußtsein, mit Selbstkenntnis, mit Freiheit und, um uns eines gewagten Wortes zu bedienen, mit Ironie zu tun und vorzunehmen, eine solche Gewandtheit ist nötig, wenn die Abstraktion, vor der wir uns fürchten, unschädlich und das Erfahrungsresultat, das wir hoffen, recht lebendig und nützlich werden soll." 

Goethe ist sich natürlich vollständig darüber im Klaren, daß man, um überhaupt Versuche anstellen zu können, Hypothesen braucht. Er will sie aber nur als Arbeitshypothesen gelten lassen, als bequeme Bilder, um sich die Vorstellung des Ganzen zu erleichtern. Die Aufstellung der Hypothesen bildet gar nicht den naturwissenschaftlichen Teil der Forschung, sondern den philosophischen. Die Physik hört beim Urphänomen auf, der Philosoph fängt bei ihm an. Haben die Hypothesen aber ihre Aufgabe erfüllt, zu Versuchen von großer Anschaulichkeit und Klarheit geführt zu haben, so soll man sie verlassen. „Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist. Sie sind dem Arbeiter unentbehrlich, nur muß er das Gerüst nicht für das Gebäude ansehen." So wird es verständlich, wenn Goethe in der Farbenlehre alle Hypothesen über die Natur des Lichtes vermeidet, in der Geologie aber hypothetische Annahmen für unvermeidlich hält.

Goethe hat einmal die verschiedenen Arten der Naturbetrachtung in übersichtlicher Weise eingeteilt. Die tiefste Stufe sind die Nutzenden, die Nutzen-Suchenden, die das, was die Natur bietet, für ihre praktischen Zwecke verwenden; die zweite Stufe

bilden die Wißbegierigen, die nur das wissenschaftlich verarbeiten, was sie vorfinden; zu der dritten Stufe, den Anschauenden, rechnet sich Goethe selbst: sie suchen die Imagination nach Möglichkeit zu vermeiden und führen alles auf Anschaulichkeit zurück; die vierte Gruppe, die Umfassenden, schlagen den umgekehrten Weg ein, sie gehen von Ideen aus und suchen deren Verwirklichung in der Natur. Hier geht der Verstand, nach Kants Darlegung, „von der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besonderen, das ist, von dem Ganzen zu den Teilen." Auch diesen letzteren Weg sucht Goethe vielfach zu beschreiten, wenn er vom Typischen (z. B. in Botanik und vergleichender Anatomie) zum Einzelfälle vordringt und sich so „durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig macht." 

Bei der umfassenden Betrachtung aller Gebiete der Naturwissenschaft, wie sie Goethe während seines langen arbeitsreichen Lebens vorgenommen hat, war es natürlich, daß er schließlich zu einigen wenigen ganz durchgreifenden Verallgemeinerungen gelangen mußte, auf die sich alle Naturvorgänge zurückführen lassen. Wohl alle großen Naturforscher stellen derartige allgemeinste Prinzipien auf. Für Goethe waren die zwei großen Triebräder der Natur der Begriff von Polarität und von Steigerung.

Wenn wir uns kurz klar machen wollen, was er darunter verstanden hat, so gehen wir von dem zweiten Begriff, dem Prinzip der Steigerung, aus. Goethe ordnete, wie wir wissen, alle Naturphänomene, die ihm bei seiner Forschung entgegentraten, in eine kontinuierliche Reihe, die vom einfachsten bis zum kompliziertesten aufstieg und deren einzelne Glieder durch fließende Übergänge verbunden waren. So verfuhr er in der Botanik und vergleichenden Anatomie, so auch in der Farbenlehre. Auf diese Weise ergab sich für ihn ein Bild des Naturganzen, das sich in aufsteigender Linie entwickelte, wobei wir uns erinnern müssen, daß diese Entwicklung nicht im Darwinschen Sinne zu nehmen ist, sondern vielmehr so verstanden werden muß, daß sich die Natur als eine solche kontinuierlich aufsteigende Reihe darstellen läßt. Diese Reihe ist für Goethe der Ausdruck der Steigerung. Aus den einfachsten Phänomenen werden durch Steigerung die komplizierteren und zusammengesetzten abgeleitet. Sie knüpft an die Urphänomene an und führt so schließlich zu den verwickelten Erscheinungen der täglichen Erfahrung. 

Das Prinzip der Steigerung hat Goethe schon relativ früh bei seinen botanischen und vergleichend anatomischen Studien im Ausgang der achziger Jahre gewonnen. Später erst hat sich dazu der Begriff der Polarität gesellt, den er durch die Beschäftigung mit der Physik gewann und im Anschluß an diese Studien in allgemeinster Weise angewendet hat. 

Der Begriff der Polarität knüpft sich an die Lehre vom Magnetismus an. In ein und demselben Eisenstück finden sich vereinigt und doch getrennt die beiden Pole als Gegensatz, die sich anzuziehen streben. Dieses Phänomen dient nun Goethe zur Veranschaulichung eines allgemeinen Naturprinzips: „Der Magnet ist ein Urphänomen, das man nur aussprechen darf, um es erklärt zu haben: dadurch wird es denn auch ein Symbol für alles übrige, wofür wir keine Worte noch Namen zu suchen brauchen." Zunächst findet sich das gleiche in der Elektrizitätslehre. Die positive und negative Elektrizität, ihr Anziehen und Abstoßen „zusammen deutet auf eine Scheidung, auf ein Entzweien, das wie beim Magnet sein Entgegengesetztes, seine Totalität, sein Ganzes wieder sucht" In der Chemie findet Goethe die polaren Gegensätze in der Oxydation und Desoxydation, in der Optik ist es der Gegensatz von Licht und Finsternis, deren Vereinigung die Farben erzeugt. Bei letzteren findet er die Polarität in dem Gegensatz von Gelb und Blau, dem trüben Medium vor hellem und vor dunklem Grund; aus beiden leitet er wie wir wissen durch Steigerung Rot und Violett ab, und durch Verknüpfung entstehen Grün und Purpur. So ergibt sich durch Vereinigung der polaren Gegensätze schließlich die Totalität des ganzen Farbenkreises. Ähnliche Betrachtungen werden nun für alle Naturgebiete angestellt. „Treue Beobachter der Natur, wenn sie auch sonst noch so verschieden denken, werden doch darin übereinkommen, daß alles, was erscheinen, was uns als Phänomen begegnen solle, müsse entweder eine ursprüngliche Entzweiung, die einer Vereinigung fähig ist, oder eine ursprüngliche Einheit, die zur Entzweiung gelangen könne, andeuten und sich auf eine solche Weise darstellen. Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind." Wir besitzen von seiner Hand eine kurze Aufzeichnung, wie weit er den Begriff der Polarität auf Körperliches und besonders auf Geistiges ausdehnen wollte. Er verzeichnet hier die Antithesen: „Wir und die Gegenstände, Licht und Finsternis, Leib und Seele, zwei Seelen, Geist und Materie, Gott und die Welt, Gedanke und Ausdehnung, Ideales und Reales, Sinnlichkeit und Vernunft, Phantasie und Verstand, Sein und Sehnsucht, — zwei Körperhälften, Rechts und Links, Atemholen, Physische Erfahrung: Magnet" So leitet sich von dem einfachen Phänomen des Magneten für Goethe jeder Zwiespalt ab, den er in der Natur findet:

„Magnets Geheimnis, erkläre mir das! 
Kein größres Geheimnis als Liebe und Haß". 

Das sind die beiden letzten Verallgemeinerungen, zu denen Goethe bei seiner Naturbetrachtung gelangt ist, einfachste Sätze, die er auf allen Naturgebieten bestätigt fand. Aber auch hier handelt es sich bei ihm nicht um Abstraktes. Dadurch, daß er den Begriff der Polarität vom Magnet als einem Urphänomen ableitet, gewinnt er auch für diese allgemeinen Gesichtspunkte eine Anschaulichkeit .

Das durchgehende Streben Goethes, alle Naturforschung ganz rein auf Anschaulichkeit zu gründen, bestimmt auch sein Verhältnis zu zwei Nachbargebieten der Naturwissenschaft, zur Mathematik und zur Philosophie. Die mathematische Betrachtungsweise besonders der Physik, welche die Naturvorgänge mit Hilfe einfacher Formeln darstellen will, um zu rechnerischen Ergebnissen zu gelangen, sucht sich nach Möglichkeit von jeder Anschaulichkeit zu entfernen. Sie schlägt also gerade den umgekehrten Weg ein wie Goethe. Daher dessen oft scharfe Stellungnahme gegen die mathematische Behandlung der Physik. Er sieht in der Mathematik nur ein Verfahren, um mit komplizierten Mitteln einfache Zwecke zu erreichen. Dabei verführt sie nach seiner Meinung zur Unredlichkeit, weil sie eine scheinbare Sicherheit der Ergebnisse vortäuscht. In den mathematischen Resultaten steckt nämlich schließlich nicht mehr drin als schon in den ersten Propositionen, von denen die Rechnung ausging. Das Resultat kann also auch nicht mehr lehren als die ursprünglichen Propositionen. Die Fehlerquelle liegt in diesen letzteren. Die Naturvorgänge sind oft so kompliziert, daß sie sich durch eine einfache mathematische Formel nicht vollständig darstellen lassen, und besonders Newtons Optik ist für Goethe ein trauriges Beispiel, wie durch mathematische Behandlung die Naturwissenschaft verwirrt worden ist. Die Entwicklung der Physik im 19. Jahrhundert hat Goethe unrecht gegeben. Der Anwendung mathematischer Berechnungen verdanken wir die wichtigen Fortschritte der Erkenntnis und der Technik, die unser ganzes äußeres Leben umgestaltet haben. Dagegen gilt in vielen Zweigen der Physiologie auch heute noch Goethes Lehre. Die Lebensvorgänge sind tatsächlich meist so verwickelt, daß sie sich vielfach noch nicht in mathematischen Formeln haben darstellen lassen. Hier ist die Unsicherheit bei der Aufstellung der ersten Propositionen noch so groß, daß auch die Resultate vielfach noch wenig Vertrauen finden. Es ist Goethe von den zeitgenössischen Physikern oft zum Vorwurf gemacht worden, daß seine Farbenlehre der mathematischen Behandlung entbehre, und es wurde ihm von Freunden nahegelegt, sie noch nachträglich durchführen zu lassen. Er aber ärgerte sich nur, daß die Mathematiker dünkelhaft alles für nichtig und unexakt erklären, was sich nicht dem Kalkül unterwerfen läßt. Für ihn war nicht die Rechnung, sondern die Anschaulichkeit höchstes Ziel der Naturforschung, und deshalb war es seiner Meinung nach „die große Aufgabe, die mathematisch -philosophischen Theorien aus den Teilen der Physik zu verbannen, in welchen sie Erkenntnis, anstatt sie zu fördern, nur verhindern, und in welchen die mathematische Behandlung durch die Einseitigkeit der Entwicklung der neueren wissenschaftlichen Bildung eine so verkehrte Anwendung gefunden hat." „Als getrennt muß sich darstellen: Physik von Mathematik. Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, verehrenden, frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben derselben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite leistet und tut. Diese muß sich dagegen unabhängig von allem Äußeren erklären, ihren eigenen großen Geistesgang gehen und sich selber reiner ausbilden als es geschehen kann, wenn sie, wie bisher, sich mit dem Vorhandenen abgibt und diesem etwas abzugewinnen oder anzupassen trachtet." Vor der reinen Mathematik hatte Goethe stets die höchste Achtung und war daher auch ein warmer Verehrer eines der größten Mathematikers seiner Zeit, Lagranges. Nur gegen die Anwendung der Mathematik auf physikalische Probleme glaubte er ankämpfen zu müssen. „Die Farbenlehre besonders hat sehr viel gelitten und ihre Fortschritte sind äußerst gehindert worden." „Die Mathematiker sind Franzosen: redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache und dann ist es alsbald etwas ganz anderes." Poetischen Ausdruck hat Goethe diesem Standpunkt in dem launigen Gedichte: „Katzenpastete" verliehen, von dem hier nur die beiden ersten Strophen Platz finden mögen: 

„Bewährt den Forscher der Natur 
„Ein frei und ruhig Schauen, 
„So folge Meßkunst seiner Spur, 
„Mit Vorsicht und Vertrauen. 

„Zwar mag bei einem Menschenkind 
„Sich beides auch vereinen, 
„Doch daß es zwei Gewerbe sind, 
„Das läßt sich nicht verneinen." 

Auch Goethes Stellung zur Philosophie läßt sich daraus am leichtesten verstehen, daß für ihn stets die Anschaulichkeit das letzte und höchste Ziel gewesen ist. „Für Philosophie im eigentlichsten Sinne hatte ich kein Organ." Als junger Mensch hatte er wesentlich die philosophischen Lehren Giordano Brunos und Spinozas in sich aufgenommen, welche die Alleinheit der Natur lehren und einen Pantheismus, eine Allbeseelung der Natur predigen. Diese Auffassung war Goethes Wesen am gemäßesten; daher hat er das Selbst und die Außenwelt auch bei der Naturbetrachtung nie scharf gesondert und mit Naivität geglaubt, er „sehe seine Meinungen vor Augen." Er war so von der Realität seiner Wahrnehmungen überzeugt, daß ihn erst Schiller in dem ersten Gespräch über die Pflanzenmetamorphose aus seinem unkritischen Schlummer erwecken mußte. Er hatte Kants „Kritik der reinen Vernunft" und „Kritik der Urteilskraft" schon 1788 und 1790 studiert, wurde aber erst durch Schiller nachdrücklicher auf sie hingewiesen. Er machte sich nun sorgfältige Auszüge, beschäftigte sich in seinen Gedanken vielfach mit diesen Fragen und es gingen ihm dabei die neuen Probleme, wie überhaupt unsere Erfahrung und Erkenntnis von der Außenwelt zustande kommt, allerdings auf. Er stand aber, als er mit Kants Lehre bekannt wurde, schon in den vierziger Jahren. Die Grundlinien seiner Denkweise waren also bereits unverrücklich festgelegt. So hat er wohl die Fragen der Erkenntniskritik in seinem Geiste aufgeworfen und diskutiert, sie aber nicht mehr zur Grundlage seines Denkens gemacht. Die Farbenlehre ist ein Zeugnis dafür, daß er auch nach dem Studium Kants zwischen seinen Sinnesempfindungen und den diese Empfindung auslosenden Reizen nicht scharf unterschied, sondern fließende Übergänge zwischen beiden aufstellen wollte. Erst durch Schopenhauer ist, wie wir wissen, die Kantische Lehre für die Farbenlehre nutzbar gemacht worden. Wir finden vielfache Erörterungen zur Erkenntnistheorie bei Goethe. „Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen habe ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist Du es, der sich hier ausspricht?' „Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, vielmehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt." „Wir können eine organische Natur nicht lange als Einheit betrachten, wir können uns selbst nicht lange als Einheit denken, so finden wir uns zu zwei Ansichten genötigt, und wir betrachten uns einmal als ein Wesen, das in die Sinne fällt, ein andermal als ein anderes, das nur durch den inneren Sinn erkannt oder durch seine Wirkung bemerkt werden kann. — Die Zoonomie zerfällt daher in zwei nicht leicht voneinander zu trennende Teile, nämlich in die körperliche und in die geistige. Beide können zwar nicht voneinander getrennt werden, aber der Bearbeiter dieses Faches kann von der einen oder der andern Seite ausgehen und so einer oder der andern das Übergewicht verschaffen." Diese Kantischen Probleme sind aber für ihn stets nur Probleme geblieben. Bei seinem Streben nach unmittelbarster Anschaulichkeit setzte er doch immer wieder seine Sinnesempfindung als unmittelbare Wirklichkeit voraus. 

Ebensowenig hat ihn bis in sein spätestes Alter sein pantheistischer Glaube verlassen. „Wir können

bei Betrachtung des Weltgebäudes in seiner weitesten Ausdehnung, in seiner letzten Teilbarkeit, uns der Vorstellung nicht erwehren, daß dem Ganzen eine Idee zum Grunde liege, wonach Gott in der Natur, die Natur in Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit schaffen und wirken möge." Dieser Allbeseelung der gesamten Natur entnahm Goethe die Aufforderung, in der Natur nach den Ideen zu suchen, die all dem Naturgeschehen zugrunde liegen, nach denen die Natur bei Ausbildung anorganischen und organischen Wesens zu Werke geht. Die Wirksamkeit dieser Ideen setzt der Naturforscher Goethe voraus; die Harmonie des Naturganzen ist ihr Ausdruck. 

„Was war ein Gott, der nur von außen stieße, 
„Im Kreis das All am Finger laufen ließe. 
„Ihm ziemt's, die Welt im Innern zu bewegen, 
„Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen, 
„So daß, was in Ihm lebt und webt und ist, 
„Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt." 

Auf diese Weise glaubt Goethe durch die Naturforschung in das Innerste der Natur einzudringen. Für ihn ist der Spruch Albrecht von Hallers ein Greuel, des Physiologen, der an der Kompliziertheit der Lebenserscheinungen verzweifelnd ausgerufen hatte: 

„Ins Innere der Natur dringt kein erschaffener Geist, 
»Glückselig, wem sie nur die äußere Schale weist.``

Diese Resignation wird von Goethe aufs schärfste zurückgewiesen.

„Ins Innere der Natur — du Philister! — 
„Dringt kein erschaffner Geist." 
Mich und Geschwister 
Mögt ihr an solches Wort 
Nur nicht erinnern: 
Wir denken: Ort für Ort 
Sind wir im Innern. 
„Glückselig! wem sie nur 
Die äußre Schale weist." 
Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen, 
Ich fluche drauf, aber verstohlen; 
Sage mir tausend tausendmale: 
Alles giebt sie reichlich und gern; 
Natur hat weder Kern 
Noch Schale, 
Alles ist sie mit einemmale; 
Dich prüfe du nur allermeist, 
Ob du Kern oder Schale seist." 

Da Goethe auf der einen Seite sich die Natur forschend anschaulich zu machen strebte, auf der andern aber in der Natur wirkende (göttliche) Ideen annahm, so mußte sich ihm die Frage erheben, mit der sich jeder Naturforscher einmal auseinandersetzen muß, ob denn die Natur überhaupt begreiflich sei, ob wir annehmen dürfen, durch Naturforschung in das Wesen der Außenwelt vollständig eindringen zu können. Schon Kant hatte diese Frage aufgeworfen und dahin beantwortet, daß die Wissenschaft, deren Aufgabe es sei, die Natur zu begreifen, die Begreiflichkeit der Natur voraussetzen müsse. Ebenso lehrt auch Goethe, „der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen." Trotzdem hat er ein Unbegreifliches in der Natur zugegeben. Die Ideen, nach denen Gott-Natur alle Dinge gestaltet, sind für die Naturforschungzu erkennen unmöglich. Wenn man aber auch ein solches Unbegreifliches voraussetzt, so soll doch der Mensch seinem Forschen keine Schranken setzen und so weit in der Erkenntnis zu gelangen streben, als ihm möglich ist. In seinem Aufsatz „über Noses mineralogische Arbeiten" erörtert er diese wichtigste Frage: „in wiefern wir ein Unerforschtes für unerforschlich erklären dürfen, und wieweit es dem Menschen vorwärts zu gehen erlaubt sei, ehe er Ursache habe, vor dem Unbegreiflichen zurückzutreten oder davor stille zu stehen. Unsere Meinung ist: daß es dem Menschen gar wohl gezieme, ein Unerforschliches anzunehmen, daß er dagegen aber seinem Forschen keine Grenzen zu setzen habe; denn wenn auch die Natur gegen den Menschen im Vorteil steht und ihm manches zu verheimlichen scheint, so steht er wieder gegen sie im Vorteil, daß er, wenn auch nicht durch sie durch, doch Ober sie hinaus denken kann. Wir sind aber schon weit genug gegen sie vorgedrungen, wenn wir zu den Urphänomenen gelangen, welche wir in ihrer unerforschlichen Herrlichkeit von Angesicht zu Angesicht anschaun und uns sodann wieder rückwärts in die Welt der Erscheinungen wenden, wo das in seiner Einfalt Unbegreifliche sich in tausend und aber tausend mannigfaltigen Erscheinungen bei aller Veränderlichkeit unverändert offenbart." — Hier wird Goethes Standpunkt aufs klarste ausgesprochen. Die Naturforschung kann nur so weit dringen, als die Möglichkeit der Anschauung reicht, d. h. bis zu den Urphänomenen. Über diese hinaus geht Goethes Naturforschung niemals. Das zu tun ist vielmehr die Aufgabe der Philosophie. Wie weit diese zur Erklärung der Urphänomene und zur Erkenntnis der der Natur zugrunde liegenden Ideen beitragen könne, bleibt ungewiß. Der menschliche Geist muß aber in das dunkle Land, soweit es ihm möglich ist, vorzudringen suchen „und wenn es gleich scheint, daß die menschliche Natur weder die unendliche Mannigfaltigkeit der Organisation fassen, noch das Gesetz, wonach sie wirkt, deutlich begreifen kann, so ist's doch schön, alle Kräfte aufzubieten, um von beiden Seiten sowohl durch Erfahrung als durch Nachdenken dieses Bild zu erweitern." Es liegt also in Goethes Auffassung vom Begreiflichen und Unbegreiflichen ein Stück Resignation, aber zur Beruhigung dient ihm die Erkenntnis, daß nur das Erforschliche praktischen Wert hat. Deshalb kann er das Unerforschliche ruhig verehren. 

Die Stellung eines Jüngers, der die große Mutter Natur verehrt, hat Goethe sein ganzes Leben lang beibehalten. Für ihn war die Beschäftigung mit der Natur eine Art Gottesdienst Der Verkehr mit ihr ist deshalb so glückbringend, weil sie keine menschlichen Schwächen besitzt: „Warum ich zuletzt am Liebsten mit der Natur verkehre, ist, weil sie immer recht hat und der Irrtum bloß auf meiner Seite sein kann. Verhandle ich hingegen mit Menschen, so irren sie, dann ich, auch sie wieder, und so fort, da kommt nichts aufs Reine; weiß ich mich aber in die Natur zu schicken, so ist alles gethan. — „Die Natur bekümmert sich nicht um irgend einen Irrtum; sie selbst kann nicht anders als ewig recht handeln, unbekümmert was daraus erfolgen möge." 

Haben wir bisher Goethes Verhältnis zur Natur erörtert, so bleibt uns nur noch als letzte Aufgabe, uns klar zu machen, welch Aufschlüsse Ober Goethes Persönlichkeit wir aus der Kenntnis seines Naturforschens erhalten. Man kann die Menschen im allgemeinen in zwei große Gruppen sondern, in solche, die auf Grund von optischen Vorstellungen zu denken gewohnt sind, und solche, welche mit Hilfe akustischer Eindrücke und Erinnerungsbilder ihre geistige Tätigkeit ausüben. Zur ersteren Gruppe gehören viele der Naturforscher und Techniker, zur letzteren die Geisteswissenschaftler, Philosophen und Philologen. Bei vielen Menschen ist eine oder die andere Denkweise an- geboren. Sie kann aber auch durch Erziehung abgeändert werden, wie denn tatsächlich viele Knaben das humanistische Gymnasium als anschauend betreten und als anhörend verlassen. Diese Auseinandersetzung ist deshalb hier von Wichtigkeit, weil Goethe vielleicht das typische Beispiel für diejenige Menschenklasse ist, die auf Grund von Gesichtsvorstellungen denkt. Goethe ist ein reines optisches Genie, daher hat er auch die Farbenlehre vollendet und die Tonlehre im ersten Entwurf liegen lassen. „Gegen das Auge betrachtet ist das Ohr ein stummer Sinn." Goethe war wirklich „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt" und konnte, als er als Greis den Schlußakt des Faust dichtete, wohl mit Fug und Recht sagen: 

„Ihr glücklichen Augen, 
Was je ihr gesehn, 
Es sei, wie es wolle, 
Es war doch so schön!" 

Er selbst ist über diese seine Geistesart besonders durch die treffende Bemerkung des Arztes Heinroth aufgeklärt worden, der ihm gegenständliches Denkvermögen zuschrieb, und hat im Anschluß daran in seinem Aufsatz: „Bedeutendes Fordernis durch ein geistreiches Wort" Anlaß genommen, sich über seine Denkweise auszusprechen. Er weist hierbei darauf hin, daß sein Dichten und sein Naturforschen beide auf dieser selben Grundlage ruhen, daß er so zu dichten pflege, daß er die Stoffe oft jahrelang mit sich herumtrage und von Zeit zu Zeit in plastischer Form vor seinem geistigen Auge reproduziere. Diese fortwährende Erneuerung durch die Einbildungskraft führt dann schließlich zur endgültigen Gestaltung, und so schreibt er oft Dichtungen, die Jahrzehnte in ihm gereift sind, schließlich in wenigen Tagen nieder. Auch die Neigung zu Gelegenheitsgedichten hängt mit diesem gegenständlichen Denken zusammen. Wie sehr Goethe bei seiner Naturforschung sein gegenständliches Denken betätigte, braucht hier nur angedeutet zu werden. Alles Vorhergehende ist die beste Illustration dafür. In Farbenlehre und Physik strebte er ebenso nach Anschaulichkeit, wie er bei Betrachtung des Schöpsenschädels am Lido mit einem Blick den Aufbau des Schädels aus Wirbelkörpern erkannte, und wie er seine Idee des Pflanzenbaues so tatsächlich vor Augen zu sehen glaubte, daß ihm Schillers Einwurf, sie sei nur eine Idee, als eine Beleidigung erschien. So sehen wir, daß das Auge tatsächlich Goethes Hauptsinn ist, daß die optischen Eindrücke dauernd sein Denken bestimmen und in seinen Vorstellungskreis eingehen. Wenn man so auf Grund seiner Sinneseindrücke Dichter, Künstler und Naturforscher ist, so ist allerdings diese Fähigkeit zur Sinnlichkeit notwendige Voraussetzung. „Dichter und Künstler müssen geboren sein." Goethe selbst schildert uns an mehreren Steilen seiner Werke, wie es ihm ein Leichtes gewesen ist, Bilder, Menschen und Handlungen sich jederzeit so vorzustellen, daß er sie mit Augen zu sehen glaubte.

Mit der Fähigkeit des gegenständlichen Denkens verknüpft sich bei Goethe naturgemäß ein zweites, die schöpferische Phantasie. Wir brauchen hier nicht näher auszuführen, daß Goethe diese Grundlage jeder dichterischen Tätigkeit in höchstem Maße besessen hat. Wir wollen nur das in der Einleitung Gesagte uns in das Gedächtnis zurückrufen, daß auch jeder Naturforscher, der zu umfassenden Vorstellungen gelangen will, nach Helmholtz  Zeugnis etwas von der Phantasie des Dichters nötig habe. Diese schöpferische Einbildungskraft äußert sich in allen Zweigen von Goethes Naturforschung, in der Pflanzenmetamorphose, in der Konstruktion des tierischen Typus ebensowohl wie in der Farbenlehre und den geologischen Theorien. Kein Geringerer als Johannes Müller hat noch zu Goethes Lebzeiten auf diese gemeinsame psychologische Grundlage von Goethes Dichtung und Naturforschung hingewiesen. Er schreibt in seinem Aufsatz „über die phantastischen Gesichtserscheinungen": „Hier zeigt sich denn, wo das Phantasieleben des Künstlers und des vergleichenden Naturforschers in gemeinsamem Gebiet sich berühren und auch auseinandergehen. In beiden bewegt sich das plastische Phantasieleben nur innerhalb der Sphäre des Begriffs. Der Naturforscher spricht das Gesetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er sieht es nur in dem Wirklichen und Natürlichen verwirklicht. Die Phantasie des Künstlers ist auch nur in diesem Gesetze tätig, aber sie verläßt seine Verwirklichung im Wirklichen und Natürlichen, und erhebt sich, in denselben Gesetzen sich bewegend und fortschreitend, ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirkliche zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht mehr ein Ausdruck innerer Funktionen und als solcher immerhin durch diese beschränkt ist. Wundern wir uns darum nicht, wenn einer und derselbe das Größte in beiden Richtungen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee des lebendigen Wechsels wirkende plastische Imagination entdeckte Goethe die Metamorphose der Pflanzen, eben darauf beruhen seine Fortschritte in der vergleichenden Anatomie und seine höchst geistige, ja künstlerische Auffassung dieser Wissenschaft"

Wir haben in der sinnesphysiologischen Einleitung zur Farbenlehre auseinandergesetzt, daß von der Art und Funktion der Sinnesorgane das abhängt, was wir als Milieu eines Lebewesens bezeichnen. Wenn Sie nun versuchen, sich einmal zu vergegenwärtigen, in welch umfassender Weise Goethe seine Sinnesorgane und vor allem sein Auge zum Studium seiner Außenwelt benutzt hat, so wird Ihnen ohne weiteres klar werden, wie unendlich reichhaltig das Milieu dieses Mannes gewesen sein muß. Alle Zweige des großen Baumes der Natur hat er selbst in eigener Arbeit kennen gelernt; die Tier- und Pflanzenwelt, die Oberfläche unserer Erde und die Atmosphäre, der gestirnte Himmel, die physikalischen Vorgänge in unserer Umgebung, das Wirken des Lichts und der Farbe waren ihm vertraut und so bekannt, daß er sie jeden Augenblick vor seinem geistigen Auge reproduzieren konnte. Daher auch die Fülle anschaulicher Bilder aus der Natur, die dem Dichter zur Verfügung stehen: „Ich habe niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle." Es ist nicht meine Aufgabe, in eine Analyse von Goethes Dichtungen einzutreten, und alle die zahlreichen naturwissenschaftlichen Dinge, die hier anklingen, herauszuschälen. Aber ich bin überzeugt, daß jeder von Ihnen, wenn er jetzt eines jener Meisterwerke wieder in die Hand nimmt, mit um so größerer Freude auch auf diese Grundlage von Goethes Dichten achten und mit um so größerem Genüsse die vielen aus der Natur genommenen Gleichnisse, Bilder und Schilderungen auf sich wirken lassen wird, die dem Dichter in so überwältigender Fülle zur Verfügung standen.

 „Über allen Gipfeln Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde." . . .

Hier wird nur geschildert und dieses einfachste Naturgemälde gilt als unmittelbares Symbol der geheimsten Stimmung des Dichterherzens. So ist es in hunderten und aber hunderten von Goethes Schöpfungen.

„Die naturwissenschaftlichen Arbeiten haben mich genötigt, meinen Geist zu prüfen und zu üben. Wenn auch für die Wissenschaft gar kein Vorteil daraus entspränge, so würde der Vorteil, den ich daraus ziehe, mir immer unschätzbar sein." Den Einfluß der Naturwissenschaft auf Goethes Geist haben wir kurz angedeutet Daß aber auch für die Wissenschaft bedeutender Vorteil durch Goethes Forschung erwachsen ist, das hoffe ich Ihnen in diesen Vorlesungen zur Genüge gezeigt zu haben. Goethe war ein Geist, der aus jedem Felsen, an den er anschlug, lebendiges Wasser hervorsprudeln lassen konnte.

Meine Herren! Wir sind am Schluß. Indem ich diese Vorträge beende, lassen Sie mich noch auf

einen Grundzug Goetheschen Wesens hinweisen, das ist die völlige Reinheit seines naturwissenschaftlichen Strebens, das nur von dem Drange nach Erkenntnis geleitet wurde. Es ist eine alte, aber immer wieder vergessene Erfahrung, daß die wichtigsten auch praktisch brauchbarsten Ergebnisse durch rein theoretische zunächst nicht auf praktische Ziele gerichtete Forschung erreicht werden. „Man wird sich durch die Erfahrung überzeugen, wie es bisher der Fortschritt der Wissenschaft bewiesen hat, daß der reellste und ausgebreitetste Nutzen für die Menschen nur das Resultat großer und uneigennütziger Bemühungen sei, welche weder taglöhnermäßig ihren Lohn am Ende der Woche fordern dürfen, aber auch dagegen ein nützliches Resultat für die Menschheit weder am Ende eines Jahres noch Jahrzehnts noch Jahrhunderts vorzulegen brauchen." Für Goethe war das höchste Glück, bei seiner Naturforschung sich mit der Natur eins zu wissen, in der Natur aufzugehen und erst aus dem großen Naturganzen seine Persönlichkeit wieder heraus zugewinnen.

„Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde."

 Lassen Sie uns zum Schluß noch jene gewaltigen Verse, in denen der Dichter das Aufgehen in der Natur predigt, in denen er zugleich das umfassendste Bild eines vorwärtsstrebenden, in stetem Wechsel befindlichen Naturganzen entwirft, anhören.

Eins und Alles. Im Gränzenlosen sich zu finden
Wird gern der Einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt läst'gem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele komm uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend, höchste Meister,
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne.
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden,
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden,
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln.
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen!
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

Goethe auf meiner Seite

Ende

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