> Gedichte und Zitate für alle: Rudolf Magnus-Goethe als Naturforscher -Zweite Vorlesung: Goethes Leben (4)

2019-12-07

Rudolf Magnus-Goethe als Naturforscher -Zweite Vorlesung: Goethes Leben (4)



Zweite Vorlesung-Goethes Leben  


Meine Herren! Wir wollen jetzt beginnen, den Rahmen zu entwerfen, in den wir später Goethes naturwissenschaftliche Leistungen in Einzeldarstellungen einfügen wollen. Wir wollen seinen natur- wissenschaftlichen Entwicklungsgang kennen lernen und sehen, wie sich die verschiedenartigen Studien und Beschäftigungen in seinen Lebenslauf verflochten haben. Es soll das zunächst nur eine ganz oberflächliche Skizze werden, die näheren Details werden wir später nachzutragen ausreichend Gelegenheit haben. 

Aus Goethes Kindheit erfahren wir nur wenig über Berührung mit naturwissenschaftlichen Dingen und er selber hat bei der Schilderung seines Entwicklungsganges auf diese kindlichen Anfänge nur geringen Wert gelegt. In eigentliche Berührung kommt er mit der Naturwissenschaft erst auf der Universität 1765—68 finden wir ihn als Studiosus der Rechte in Leipzig. Aber schon hier beschränkt er sich keineswegs auf das Fachstudium. Außer den vielen andern Interessen, die er in der Leipziger Zeit pflegt, studiert er auch Physik und hört besonders Elektrizitätslehre bei Winkler. In näherem Verkehr steht er mit mehreren Medizinern, unter denen Erhardt Kapp, der später berühmte Arzt, der auch Goethe zu seinen Patienten zählte, genannt sein möge. Auch bei dem Mittagstisch des Mediziners und Botanikers Ludwig, an dem er teilnahm, mögen zahlreiche Anregungen auf ihn eingewirkt haben. Dann erkrankt er an jenem rätselhaften Leiden, dessen Natur bis heute noch nicht aufgeklärt ist. Er kehrt nach Frankfurt zurück und macht ein längeres Krankenlager in seinem Elternhaus durch. Hier wird er durch den Einfluß der schönen Seele, des Frl. v. Klettenberg, und seines Arztes auf alchimistische Studien gebracht. Er studiert und experimentiert mit Retorten und Kolben und liest auch in jener Zeit neben den Werken des Paracelsus das chemische Kompendium und die Aphorismen Boerhaves, des berühmten Klinikers, dessen Anschauungen und Lehren damals die gesamte medizinische Wissenschaft beherrschten. Auf jene Studien haben wir wohl die alchimistischen Reminiszenzen in Fausts Osterspaziergang zurückzuführen, in denen die Darstellung der Arzenei in der phantastischsymbolischen Sprache jener Wissenschaft aus dem „roten Leu" und der „Lilie" geschildert werden. 

1770 und 71 studiert Goethe in Straßburg und er gerät daselbst in den Kreis anregender Männer, teilweise wieder Mediziner, die er uns in Wahrheit und Dichtung so anschaulich geschildert hat. Er erwähnt dabei, daß nach seinen Erfahrungen die Mediziner die einzige Klasse von Studierenden seien, welche sich für ihr Fach so interessieren, daß sie auch außerhalb des Kollegs davon zu sprechen pflegen. In dieser „fachsimpelnden" Gesellschaft hat nun Goethe nach seiner eigenen Angabe eine Menge medizinischer und naturwissenschaftlicher Anregungen erfahren. Aber er begnügte sich damit nicht, sondern hörte auch eifrig Vorlesungen, so Chemie bei Spielmann, der zugleich Professor der Botanik und Lehrer am botanischen Garten war, Anatomie beim berühmten Anatomen Lobstein, ja, er besuchte die Klinik des älteren Ehrmann und hörte, was heutzutage einem Juristen wohl schwerlich erlaubt sein dürfte, sogar Geburtshilfe beim jüngeren Ehrmann. 

Die Straßburger Zeit geht vorüber; er kehrt nach Frankfurt zurück; die Wetzlarer Periode folgt. Wir stehen in der Zeit von Goethes Sturm und Drang. Werther und Götz werden geschaffen und begründen den Ruhm des Dichters. In diesen Jahren hören wir von naturwissenschaftlichen Bestrebungen Goethes nur wenig. Sie treten hinter den übrigen mächtigen Interessen des jungen Genies zurück. Das einzige Erwähnenswerte aus jener Zeit ist die Bekanntschaft mit Lavater (1774), der damals die physiognomischen Fragmente herausgab, für die sich Goethe alsbald aufs lebhafteste interessierte. Er hat dann an dem Werk mitgearbeitet, einzelne kurze Beschreibungen zu Köpfen berühmter Männer und auch zu Tierköpfen gegeben und wurde von Lavater nachdrücklichst auf die knöcherne Grundlage des Gesichtes, den Schädel hingewiesen. So knüpfen die Anfänge von Goethes osteologischen Studien an die Lehre vom Gesichtsausdruck an, an die Frage, wie man Art und Charakter eines Menschen aus den Gesichtszügen ablesen könne und durch welche anatomischen und psychischen Faktoren die Physiognomie bestimmt werde. Daran schloß sich eine eifrige Korrespondenz über osteologische Fragen mit seinem Freund Merck in Darmstadt. 

Im November 1775 tritt der Umschwung in Goethes Leben ein. Er folgt der Einladung des Herzogs von Weimar, und binnen kurzem finden wir ihn als Freund Carl Augusts, dann als leitenden Minister in dem kleinen mitteldeutschen Herzogtum. In die ersten Weimarer Jahre fallen nun die entscheidenden Anfänge intensiver Beschäftigung Goethes mit den Naturwissenschaften, und zwar gingen die Anregungen hierzu zu einem gewissen Teil aus von den dienstlichen Beziehungen mit den verschiedenen Ressorts seines Ministeriums. Durch die Beschäftigung mit Land- und Forstwissenschaft wurde er auf Botanik, durch die Notwendigkeit, den Ilmenauer Bergbau wieder zu beleben, auf Mineralogie und Geologie hingewiesen, und schon 1777 finden wir ihn auf der Harzreise, 1780 auf der Schweizerreise mit eifrigen geologischen Studien beschäftigt. Schon damals mußte er sich auch mit den naturwissenschaftlichen Instituten der Universität Jena befassen, denen er sein ganzes Leben hindurch von da ab sein lebhaftes Interesse und seine Arbeitskraft gewidmet hat. Anfangs stand Goethe mit diesen naturwissenschaftlichen Bestrebungen in Weimar allein. Nur der Hofapotheker Buchholz hatte ähnliche Neigungen. Von diesem erfuhr Goethe die neueren Fortschritte der Physik und Chemie, und da Buchholz nach der damaligen Sitte in dem Garten seines Hauses sich die offiziellen Pflanzen für seine Apotheke selber zog und auch andre Pflanzen kultivierte, so lernte Goethe auf diesem Wege auch vieles über Botanik und Pflanzenzucht. Erst 1780 gelang es ihm, den Herzog für die Naturwissenschaften zu interessieren. Er wird ihn vermutlich bei ihrer gemeinschaftlichen Schweizerreise immer wieder auf die interessanten Phänome der großartigen Schweizernatur hingewiesen haben. Vier Jahre später aber hat er bereits die ganze Weimarer Gesellschaft und den Hof in den Bannkreis seiner naturwissenschaftlichen Bestrebungen hineingezogen. Wie weit das damals ging, ersehen wir aus einem an Körner gerichteten Brief Schillers, welcher im Jahre 1787, während Goethe in Italien weilte, nach Weimar gekommen war und dort Goethes Einfluß fortwirkend vorfand. Hören wir Schiller selbst: „Goethes Geist hat alle Menschen, die zu seinem Zirkel zählen, gemodelt. Eine stolze philosophische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung mit einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die Natur, eine Resignation in seine fünf Sinne, kurz eine gewisse kindliche Einfalt der Vernunft bezeichnet ihn und seine ganze hiesige Sekte. Da sucht man lieber Kräuter und treibt Mineralogie, als daß man sich in leere Demonstrationen verfinge. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann auch viel übertreiben." 

1781 beginnt nun Goethe wieder anatomische Studien, und zwar läßt er sich von Loder in Jena acht Tage lang an zwei Leichen Knochen- und Muskellehre demonstrieren. Die hierdurch wieder aufgefrischte Kenntnis der menschlichen Anatomie macht er dann sofort praktisch nutzbar und hält in Weimar für die Schüler der Zeichenschule anatomische Vorlesungen, um sie in das Verständnis der menschlichen Form einzuführen. Diese anatomischen Studien werden nun zunächst nicht wieder abgebrochen und schon drei Jahre später hat Goethe seine erste wissenschaftliche Abhandlung vollendet, den Aufsatz über den Zwischenkiefer, dessen Bedeutung weit darüber hinausgeht, daß er das Vorhandensein dieses Knochens auch beim Menschen nachwies, der vielmehr als die erste wissenschaftliche vergleichend anatomische Abhandlung anzusehen ist Trotzdem wurde sie, wie später näher zu schildern sein wird, von den Fachgelehrten abgelehnt und erst allmählich brachen sich die in ihr niedergelegten Erkenntnisse Bahn. Goethe wurde aber durch diesen Mißerfolg so verstimmt, daß er weitere anatomische Publikationen zunächst unterließ. In jener Zeit setzte er außerdem die geologischen Studien fort. 1784 auf der dritten Harzreise, 1785 in Karlsbad gewinnt er wichtige neue Erfahrungen. 

Im folgenden Jahre schüttelt Goethe die drückende Last der Weimarischen Enge mit all ihren beruflichen und gesellschaftlichen Verpflichtungen von sich. Er flieht nach Italien und erlebt in diesem Lande eine menschliche und künstlerische Wiedergeburt. Auf diesem zweiten Höhepunkt seines dichterischen Schaffens, als er Egmont vollendet, Iphigenie umarbeitet, die bedeutendsten Teile des Tasso dichtet, hat er nun interessanterweise auch gleichzeitig einen der wichtigsten naturwissenschaftlichen Fortschritte gemacht Es wird gelegentlich behauptet, daß Goethe seine naturwissenschaftlichen Studien hauptsächlich in den Jahren mangelnder poetischer Produktivität getrieben habe; für die botanischen Entdeckungen der italienischen Reise gilt dies zweifellos nicht. Er studiert hier auf italienischem Boden die ihm neuen südlichen Pflanzenformen, gewinnt neue Erfahrungen über die Abhängigkeit des Wachstums von den äußeren Bedingungen, wie Licht, Luft und Boden, und gelangt schließlich bei der Suche nach einer Urpflanze zu jener höchsten Verallgemeinerung über den Aufbau der Pflanzenform, die er in seiner Pflanzenmetamorphose niedergelegt hat. Damit sind aber seine naturwissenschaftlichen Interessen in Italien nicht erschöpft. Er wendet sich hier wieder der Anatomie zu, studiert den menschlichen Körper, besonders die Muskeln, und versucht auf diesem Wege in das Verständnis zunächst der Skulpturen Michelangelos, dann der Antike einzudringen. Indem er die antiken Statuen auf ihre anatomische Naturtreue hin prüft, gelangt er zu dem Verständnis, wie die alten Künstler auf Grund genauester Kenntnisse der menschlichen Form doch zu typischen und allgemeingültigen Einzeldarstellungen gekommen sind. Dabei stellt er interessante Parallelen an zwischen der Art, wie die Natur und wie der Künstler bei der Hervorbringung körperlicher Gestalten schöpferisch vorgeht. 

Von Italien kehrt er wieder nach Weimar zurück, und von nun an bis zu seinem Tode brechen die naturwissenschaftlichen Studien nicht wieder ab. Er entfaltet eine rastlose Tätigkeit, um alle Gebiete in gleicher Weise zu bearbeiten. Als Beispiel für die Vielseitigkeit seiner Tätigkeit möge kurz aufgezählt werden, was er schon im Jahre 1790 alles getrieben hat. Da wurde die Schrift über die Pflanzenmetamorphose vollendet, da brachte er bei der Betrachtung eines gesprengten Schafschädels am Lido die Wirbeltheorie des Schädels, über die er schon früher nachgedacht hatte, zum Abschluß, da schrieb er, während er sich mit den Truppen des Herzogs im schlesischen Lager befand, inmitten des militärischen Trubels den Versuch über die Gestalt der Tiere, und in demselben Jahre begann er, ausgehend von einer Untersuchung des malerischen Kolorits, seine optischen Studien, und glaubte nach kurzer Zeit gefunden zu haben, Newtons Hypothese von der Zusammensetzung des weißen Lichtes aus farbigem sei falsch. Diese optischen Arbeiten nehmen von da an immer mehr sein Interesse gefangen, und 20 Jahre lang forscht und experimentiert er, bis im Jahre 1810 ein vorläufiger Abschluß erzielt ist und seine Farbenlehre der Öffentlichkeit übergeben werden kann. In demselben Jahre, 1790, ist er wieder in größerem Maßstabe für die Universität Jena tätig, deren Museen vervollständigt und erweitert werden. Jetzt und in späteren Jahren ist es seine Hauptsorge, diese Sammlungen durch Geschenke zu vergrößern und dafür zu sorgen, daß auch von andrer Seite reichlich Zuwendungen gemacht werden. Auch die Anlage des botanischen Gartens in Jena fällt in diese Zeit. Zwei Jahre später finden wir Goethe im Feld. Er begleitet die Truppen des Herzogs auf ihren Märschen mit der preußischen Armee unter dem Befehl des Herzogs von Braunschweig nach Frankreich hinein und erlebt das hoffnungsfreudige Vordringen, die unrühmliche Kanonade von Valmy und den schwierigen und gefährlichen Rückzug des Heeres, den er uns in seiner Campagne in Frankreich so anschaulich geschildert hat. Als Reiselektüre in die Strapazen des Feldzuges begleitet ihn charakteristischerweise Gehlers physikalisches Lexikon. Unausgesetzt beobachtet er während des Marsches die Naturphänomene, studiert Lichtbrechungserscheinungen in klaren Gewässern, und des Abends beim Wachtfeuer, mit dem Prinzen Reuß auf und ab gehend, doziert er diesem zu dessen höchstem Erstaunen nicht etwa künstlerische oder politische Anschauungen, sondern seine neuesten Ergebnisse über die Farbenlehre. Diese optischen Studien werden auch später bei der Belagerung von Mainz fortgesetzt. Nach der Rückkehr aus Frankreich geht Goethe den Rhein hinunter und besucht bei Düsseldorf seine Freunde Jacobi in Pempelfort. Bei der Schilderung dieses Besuchs tritt uns so recht anschaulich entgegen, was er sein ganzes Leben hindurch immer wieder erfahren mußte, die völlige Verständnislosigkeit und das mangelnde Anerkennen von Goethes Freunden seinen naturwissenschaftlichen Studien gegenüber. Man wollte immer nur den Dichter Goethe gelten lassen, betrachtete die naturwissenschaftlichen Forschungen als ein Abtrünnigwerden von seinem eigentlichen Beruf und konnte durchaus nicht begreifen, daß für ihn die Naturphänomene zeitweise von größerer Anziehungskraft und Bedeutung waren als alle dichterischen Vorwürfe. Dieselbe Bitterkeit, die hier den Freunden gegenüber laut wird, hat Goethe auch gegen die Zunft der Fachgelehrten gefühlt und ausgesprochen, welche gewöhnlich seinen wissenschaftlichen Werken bei ihrem Erscheinen ablehnend, ja feindlich gegenüberstanden. Zahlreiche harte Worte sind darüber aus seinem Munde gefallen, und er hat zweifellos unter der mangelnden Anerkennung seiner naturwissenschaftlichen Bestrebungen mehr gelitten als unter der Verständnislosigkeit, auf die seine Dichtwerke zeitweise stießen. Noch im Jahre 1831 schrieb er darüber: „Seit länger als einem halben Jahrhundert kennt man mich im Vaterland und auch wohl auswärts als Dichter und läßt mich allenfalls für einen solchen gelten; daß ich aber mit großer Aufmerksamkeit mich um die Natur in ihren allgemeinen physischen und organischen Phänomenen emsig bemüht und ernstlich angestellte Betrachtungen stetig und leidenschaftlich im Stillen verfolgt, dieses ist nicht so allgemein bekannt, noch weniger mit Aufmerksamkeit bedacht worden." Für jeden, der Goethes abgeklärte und oft bewußt ruhige Sprechweise kennt, zittert in diesen Worten das Gefühl jahrelangen Verkanntseins durch. 

Wir kommen jetzt in die Jahre, in denen Wilhelm Meister entstand. 1794 und 1795 verweilte Goethe besonders viel in Jena und verkehrte dort unter andern nahe mit den Brüdern Humboldt. Er hörte damals mit Alexander von Humboldt und seinem Hausgenossen Heinrich Meyer Loders Vorlesung über Bänderlehre. Im Anschluß an diese Demonstrationen entwickelte Goethe den Freunden näher seine Ideen über vergleichende Anatomie. Diese wurden mit höchstem Interesse aufgenommen, und Alexander von Humboldt war von ihrer Bedeutung so durchdrungen, daß er nicht nachließ zu drängen, bis Goethe sie dem jungen Jacobi diktierte. So entstand die allgemeine Einleitung in die ver- gleichende Anatomie. In dieselbe Zeit fällt ein Ereignis, daß für Goethes ganze geistige Weiterentwicklung von allerhöchster Bedeutung werden sollte. Im Anschluß an eine naturwissenschaftliche Sitzung kommen Goethe und Schiller ins Gespräch, und eine Diskussion über Goethes Pflanzenmetamorphose bildet den Ausgangspunkt für den Freundschaftsbund, dem die deutsche Literatur so viel verdankt. Das Gespräch selbst, das uns Goethe aufbewahrt hat, ist für die Eigenart der beiden Männer so charakteristisch, daß wir es Später noch eingehender zu erörtern haben werden. Wie die erste Anknüpfung zwischen ihnen auf naturwissenschaftlichem Boden stattfand, so wurde dieser letztere auch in der Folgezeit nicht verlassen, und es erging Schiller selbst so, wie er es weniger als ein Jahrzehnt vorher halb ironischerweise von der Weimarschen Gesellschaft an Körner berichtet hatte. Er geriet allmählich immer mehr in den Bannkreis von Goethes naturwissenschaftlichen Ideen, und der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, dieses herrliche Denkmal des Gedankenaustausches der beiden Geistesheroen zeigt, wie Schiller allmählich an diesen Forschungen immer mehr Interesse gewann und schließlich sogar selbst Goethe Vorschläge für anzustellende optische Experimente machen konnte. Schiller war in diesem Bund durchaus nicht nur der Nehmende. Von den Dingen, die uns hier interessieren, sei erwähnt, daß Goethe von Schiller mit Nachdruck auf die Kantsche Philosophie hingewiesen wurde. Goethe kam dem Gedankenkreis des Königsberger Philosophen durch das Studium von dessen Werken näher, besonders aber wurde er durch die Lektüre von Schillers Schriften immer wieder auf diese philosophischen Probleme aufmerksam gemacht. Es mag aber gleich hier im Anfang betont werden, daß besonders die Kantsche Erkenntniskritik eine Lehre war, welche Goethes Geist nicht adäquat gewesen ist, und die er daher nur unvollständig sich assimilieren konnte. Trotz eingehendstem Studium der Kantschen Lehre konnte er sich doch von seinem spinozistischen Standpunkte nicht freimachen. Wir werden später bei der Besprechung der Farbenlehre sehen, daß gerade hier in der Nichtanwendung Kantscher Prinzipien der entscheidende Fehler von Goethes wissenschaftlichen Schlußfolgerungen liegt, und daß es erst Goethes Nachfolgern auf optischem Gebiete, besonders Johannes Müller, gelang, die endgültige Klarheit in das damals noch dunkle und verworrene Gebiet zu bringen.

Die Jahre, in denen Hermann und Dorothea gedichtet wurde, sind ebenfalls reich an naturwissenschaftlicher Betätigung. Goethe wendet sich jetzt der Untersuchung der Metamorphose der Insekten zu, beobachtet die Umwandlung der Raupe zur Puppe und zum Schmetterling, studiert die Bedingungen, durch welche sich dieser Prozeß fördern und hemmen läßt und sammelt wichtige physiologische Beobachtungen an diesen Tieren. Nebenher gehen astronomische Studien. Er verfolgt in seinem Gartenhaus mit dem Teleskop einen ganzen Monat lang den Wechsel des Mondes und lernt dabei das Bild der Mondoberfläche so gut kennen, daß er in späteren Jahren Schriften über die Gestalt und Natur des Mondes mit eigener Kritik lesen kann. Auch der Saturn wird von ihm beobachtet. Die Entwicklung der Chemie, welche in jenen Jahren nach' Entdeckung des Sauerstoffes entscheidende Fortschritte machte, verfolgt er, und läßt sich besonders durch Buchholz und Professor Göttling in Jena von den neueren Entdeckungen berichten und sich die entscheidenden Experimente vormachen. Gleichzeitig experimentiert er selbst ununterbrochen über Optik, und hat diese Lehre nun schon so weit gefördert, daß er Vorträge darüber halten kann. Überhaupt fühlt er das Bedürfnis, die Naturwissenschaften zu dozieren und hält in den folgenden Jahren Mittwochs Experimentalvorträge für Damen, zu denen sich kurze Notizen und Entwürfe in der Weimarer Ausgabe finden. Hier trägt er über Magnetismus, Elektrizität, über Raum und Materie, Luft, Optik, ja auch über Teile der Chemie vor und seine Aufzeichnungen beweisen, daß er sich bemühte, die wichtigsten Versuche in einfacher und demonstrabler Form seinem Hörerkreise vorzuzeigen. Apparate, deren er sich vermutlich bei diesen Demonstrationen bedient hat, als: Elektrisiermaschinen, Batterien von Leidner Flaschen, Elektroskope u. v. a. befinden sich noch heute im Goethehaus. Auch die Botanik wird in jenen Jahren nicht vernachlässigt Während er seinen früheren Forschungen hauptsächlich die höheren Pflanzen, die Phanerogamen, zugrunde gelegt hatte, wendet er sich jetzt den Kryptogamen, Moosen, Farnen, Algen usf. zu und experimentiert über den Einfluß des Lichtes, der Dunkelheit und der verschiedenen Farben auf das Pflanzenwachstum. Besonderes Interesse bringt er in jenen Jahren auch den Heilungsvorgängen entgegen, wie sie sich an abnormem Elfenbein beobachten lassen, das während des Lebens seiner Träger auf irgend eine Weise verletzt worden war. Er stellt eine ganze Sammlung solcher Stücke zusammen, die er beschreibt und aus Dankbarkeit seinem Lehrer Loder schenkt, mit dem sie dann später nach Moskau gewandert sind.

1803 gehen wichtige Veränderungen in der Jenaer Universität vor sich. Nach Loders Weggang wird Ackermann Anatom, Schelver bekommt die Leitung des botanischen Gartens. Dann brausen die Stürme der Napoleonischen Kriege über das Land und auch die Universität Jena hat nach der unglücklichen Schlacht von Jena und Auerstädt 1806 schwer zu leiden. Aber schon 3 Jahre später kommt es unter Goethes besonders tätiger Mitwirkung zu einer völligen Reform der Hochschule. Von Wichtigkeit ist, daß von nun an alle Anstalten und Museen unter einer einheitlichen Leitung vereinigt werden und daß Goethe hiermit betraut wird. Bis dahin war es noch Sitte gewesen, daß jeder Professor sich die Sammlungen und Präparate, die er zu seinen Vorlesungen brauchte, selbst anfertigte und zusammenbrachte. Wurde dann ein Hochschullehrer an eine andre Universität berufen, so nahm er diese höchst wertvollen Sammlungen mit sich und der Nachfolger mußte von frischem anfangen. Hier hat Goethe entscheidenden Wandel geschaffen. Er bemühte sich und setzte es durch, daß jede einzelne naturwissenschaftliche Anstalt ihr eigenes Museum bekam. Er hat auf Einrichtung und Ausgestaltung dieser Sammlungen große Mühe und Sorgfalt verwendet, selbst wertvolle Zuwendungen gemacht, dafür gesorgt, daß wichtige Funde der Universität Jena zugewiesen wurden und seine ausgedehnten Beziehungen dazu benutzt, um die Jenenser Sammlungen zu bereichern. 1812 wurde dann in Schillers Gartenhaus in Jena die Universitätssternwarte errichtet. So blieb die Hochschule auch in jener Zeit eine der ersten Pflegestätten deutscher Geisteskultur.

In diesen Jahren beschäftigt sich Goethe viel mit Hirnanatomie. Loder hatte ihm früher den Aufbau des Gehirns demonstriert, indem er dieses der Reihe nach in Schnitte zerlegte und beschrieb, was auf diese Weise zu sehen war. Ganz anders faßte Gall, mit dem Goethe im Jahre 1805 in Berührung kam, den Bau dieses Organs auf. Er lernte ihn bei einem Besuch beim Philologen Wolf in Halle kennen und hörte seine Vorträge. Gall, dessen Name in der Gegenwart hauptsächlich durch seine Schädellehre bekannt Ist durch die er versuchte, die geistigen Eigenschaften eines Menschen aus seiner äußeren Schädelform zu erkennen, besitzt eine weit größere Bedeutung durch seine Forschungen über den Aufbau des Zentralnervensystems. Goethe folgte seinen Ausführungen mit dem größten Interesse, und berichtet, daß Gall die Gehirnanatomie dabei nach vergleichend anatomischen Gesichtspunkten vorgetragen habe, eine Behandlungsweise, welche ihm schon von vornherein sympathisch sein mußte. Auch der Zusammenhang des Gehirns mit dem Rückenmark durch leitende Nervenfaserbahnen wurde schon damals erörtert. So sehen wir also Goethe in den Jahren, in denen er die Wahlverwandtschaften konzipierte und schrieb, fortgesetzt naturwissenschaftliche Bestrebungen verfolgen. Ist doch auch der Titel dieses Romans selbst der Chemie entnommen. Die „Wahlverwandtschaft" der Schwefelsäure zum Kalk muß dazu dienen, die unwiderstehliche Anziehungskraft, welche zwei Menschen triebartig zueinander hinführt, zu symbolisieren. Alljährlich führte ihn sein Weg in die böhmischen Bäder, und hier wurden mineralogische und geologische Studien mit höchstem Eifer betrieben. Er lernte allmählich die ganze Geologie der Umgebung von Karlsbad, Marienbad und Eger kennen, ordnete und katalogisierte selbst die reichhaltige Sammlung des Mineralienhändlers Müller, publizierte den Katalog und verschaffte dadurch den Gelehrten und den Museen Gelegenheit, ihre Sammlungen zu vervollständigen. Mineralogische Interessen verbanden ihn ferner mit dem Polizeirat Grüner in Eger und später mit dem Grafen Kaspar Stemberg, mit dem eine ausgiebige mineralogische und botanische Korrespondenz durch Jahre hindurch geführt wurde.

Im Jahre 1810 wurden die optischen Studien zunächst abgeschlossen und die Farbenlehre veröffentlicht Auch hier wieder wurde Goethe aufs lebhafteste enttäuscht durch die Anfeindungen, die er deswegen von allen Seiten erfuhr. Aber nichtsdestoweniger wandte er sich sofort nachher einem neuen Forschungsgebiet zu. Er ließ den optischen Versuchen solche über eine Tonlehre folgen. Hier ist es zu keiner abgeschlossenen Publikation Goethes gekommen. Er hat die Versuche etwa durch 5 Jahre fortgeführt, und es sind uns Schemata zu einer Tonlehre und Notizen für anzustellende Versuche erhalten. Es sollte die Lehre von der menschlichen Stimme, die Physiologie des Ohres, die Rythmik und der Takt, die Eigenschaften der musikalischen Instrumente, die Zahl- und Maßverhältnisse schwingender Saiten und die Lehre von der musikalischen Harmonie behandelt werden. Diese Tatsachen sind uns deshalb von ganz besonderem Interesse, weil wir etwa 50 Jahre später Helmholtz genau denselben Entwicklungsgang nehmen sehen. Kaum hatte dieser sein grundlegendes Werk über die physiologische Optik abgeschlossen, so wendete auch er sich der Akustik zu, nur daß Helmholtz seine Forschungen zum Abschluß brachte und in seiner Physiologie der Tonempfindungen die Grundlage für die physiologische Akustik legte. Bei Goethe ruhten übrigens die optischen Versuche nur kurze Zeit. Schon 1813 studierte er die Phänomene, die man damals die entoptischen nannte. Nach der heutigen Ausdrucksweise beschäftigte er sich mit dem Auftreten von Farbenerscheinungen im polarisierten Licht; er untersuchte die optischen Eigenschaften des Kalkspats, des Glimmers, des rasch gekühlten und gepressten Glases u. a. m., Versuche, die ihn fast ein Jahrzehnt in Anspruch nahmen, und über die er dann zusammenfassend berichtet hat. Von Anfang an stand er in lebhaftem Gedankenaustausch hierüber mit dem Physiker Seebeck, der zuerst in Jena, dann in Nürnberg lebte und Goethe dauernd über seine Forschungen und Erfolge auf dem gleichen Gebiete auf dem laufenden erhielt. Seebeck siedelte später nach Berlin über, aber es kam dann zu Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden über optische Fragen, die zu einer völligen Entfremdung führten.

Wir nähern uns jetzt wieder einer Periode höchsten dichterischen Schaffens, den Jahren, in welchen der westöstliche Diwan entstand und Goethes Liebe zu Marianne von Willemer so herrliche poetische Werke zeitigte. Goethe stand damals schon in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, aber wir dürfen an diesen Mann nicht den Maßstab des gewöhnlichen Ablaufes des menschlichen Lebens legen. Man braucht nur eines der zahlreichen Bildnisse aus jener Zeit zu betrachten, wie z. B. das herrliche, im Besitz des Freiherrn von Bemus befindliche Brustbild, auf dem Wilhelm von Kügelgen das Aussehen des 60jährigen festgehalten hat, und das auf der deutschen Jahrhundertausstellung zu sehen war: imponierende Züge, frei von jedem Zeichen des Alters, dichtes, dunkles Haar und das gewaltig blitzende Auge zeigen uns an, daß Goethe in jenen Jahren wie ein jugendliches Innere, so auch ein Äußeres, frei von allen Spuren der Jahre besessen hat. So verstehen wir, daß auch die naturwissenschaftlichen Bestrebungen mit unverminderter Kraft fortgeführt wurden, daß Goethe ununterbrochen sich über die Fortschritte auf allen Gebieten auf dem laufenden hielt, und daß er rastlos selbst weiter arbeitete. Wir erfahren, daß zu jener Zeit Döbbereiner ihn in die Stöchiometrie einführen mußte. Diejenigen von Ihnen, welche sich mit Chemie beschäftigt haben, werden wissen, daß die chemischen Körper sich nach ganz bestimmten und gesetzmäßigen Mengenverhältnissen miteinander verbinden. Die damals in ihrem ersten Siegeslauf befindliche Chemie hatte schon diese Gesetze eingehend studiert, und so sehen wir auch Goethe bestrebt, sich diese Fortschritte anzueignen. Eigene chemische Versuche stellte er in jenen Jahren mit Pflanzenextrakten an, deren Färbung er durch Säure oder Lauge veränderte. Die Weimarer Ausgabe enthält sorgfältige Protokolle über diese ausgedehnten und wichtigen Versuche, in denen Goethe das studierte, was man heute als Indikatoren bezeichnet, d. h. chemische Substanzen, welche durch ihren Farbwechsel anzeigen, wann in einer Lösung saure oder alkalische Reaktion auftritt. — Sehr lebhaft finden wir Goethe auch mit der Witterungskunde» beschäftigt. Er hatte schon in früheren Jahren, so z. B. auf der italienischen Reise, Beobachtungen über Wolkenform und Wetter angestellt. Doch erst nach dem Jahre 1815 begann er sich wieder eingehender damit zu befassen, seitdem der Engländer Howard die einfache, noch heute gebrauchte Terminologie der Wolkenformen (Stratus, Cirrus, Cumulus, Nimbus) eingeführt hatte. Er sammelte zahlreiche eigene Beobachtungen, suchte in den schier endlosen Wechsel der Witterungserscheinungen Ordnung zu bringen und bildete sich eigene, sehr merkwürdige theoretische Anschauungen über die Entstehung der Barometerschwankungen. Seiner praktischen Tätigkeit auf diesem Gebiete wird später noch zu gedenken sein. Auch die botanischen Studien ruhten nicht. Er studierte in jenen Jahren eingehend die gleichzeitige wissenschaftliche Literatur und excerpierte sich aufs gewissenhafteste alle Stellen, welche zu seiner Pflanzenmetamorphose in Beziehung standen. Als eine besonders reiche Fundgrube erwies sich Jägers Werk über die Mißbildung der Gewächse. Alle diese außerordentlich vielfältigen Notizen hat er dann geordnet und in kurzen Abschnitten seiner Pflanzenmetamorphose beigefügt, so daß in seinen Beiträgen zur Morphologie ein stattliches Tatsachenmaterial veröffentlicht werden konnte.

In ähnlicher Weise arbeitete er in diesen und den folgenden Jahren bis zu seinem Tode die Entwicklung der vergleichenden Anatomie nach, machte zahlreiche Auszüge, schrieb Rezensionen, welche aber z. T. den Wert von selbständigen wissenschaftlichen Leistungen besaßen, regte Untersuchungen andrer an und blieb so stets auf der Höhe auch dieses Zweiges der Wissenschaft. Besonderes Interesse wandte er auch den fossilen Tierformen zu. Es wurden damals in Süddeutschland und im Herzogtum Weimar Oberreste vom Mammut und von fossilen Stieren gefunden. Er interessierte sich lebhaft für diese Funde, würdigte in kleineren Aufsätzen deren Bedeutung für die vergleichende Anatomie und sorgte für gute Aufstellungen in den Sammlungen.

Die Jahre 1817—1824 sind für Goethes naturwissenschaftliche Tätigkeit besonders ergiebig. Er ließ damals die Bände: „Zur Naturwissenschaft" und ,zur Morphologie" in Einzelheften erscheinen, in denen er seine botanischen, anatomischen, mineralogisch-geologischen und allgemein -naturwissenschaftlichen Aufsätze, sowie einiges Optische, zusammengefaßt veröffentlichte. Dadurch wurde er veranlaßt, seine aus früheren Jahren fertig daliegenden Manuskripte vielfach zu erweitern; er hat aber auch in jenen Jahren eine Fülle von Arbeiten neu geschrieben und auf diese Weise manche jahrzehntelang fortgeführte Untersuchungen und Gedankenreihen zum Abschluß gebracht. Auch einige kürzere Aufsätze von befreundeten Gelehrten: Seebeck, d'Alton, Carus, Nees van Esenbeck u. a. sind in jenen Heften erschienen. Eine eingehende Rezension dieser Veröffentlichungen ist in der Jenaischen allgemeinen Literaturzeitung, Juni 1823, erschienen, die größtenteils von Nees van Esenbeck, in den mineralogischen Abschnitten von Nöggerath, herrührt, und deren sehr » anerkennende Fassung Goethe hoch erfreut hat: „es kam augenblicklich der Friede Gottes über mich, der, mich mit mir selbst und der Welt ins Gleiche zu setzen, sanft und kräftig genug war". Zur Beurteilung, wie Goethes Schriften auf die Zeitgenossen gewirkt haben, ist jene Rezension sehr » wichtig.

Inmitten dieser Tätigkeit überschritt Goethe die Schwelle des siebenten Lebensjahrzehntes, und nun beginnt er auf allen Gebieten die Früchte dessen zu ernten, was er selbst in früheren Jahren gesäet hatte. Seine anatomischen Untersuchungen waren schon längst anerkannt worden. Jetzt wird auch seine erste wissenschaftliche Abhandlung über den Zwischenkiefer in den Akten der kaiserlich leopoldinisch-karolinischen Akademie der Naturforscher mit allen Kupfertafeln abgedruckt. Der Widerstand der Botaniker gegenüber der Pflanzenmetamorphose hatte ebenfalls aufgehört, und die wissenschaftliche Botanik der damaligen Zeit wandelte nunmehr in Fortschritt und Irrtum auf Goetheschen Bahnen. Nun aber kamen auch die so lange schmerzlich vermißten ersten Erfolge seiner Farbenlehre. Freilich die Physiker blieben, bis auf wenige Ausnahmen, feindlich, aber von physiologischer Seite wurde das grundlegende von Goethes Werk erkannt und noch zu Goethes Lebzeiten in glücklicher Weise fortgebildet. Purkinjes „Beiträge zur Kenntnis des Sehens in subjektiver Hinsicht knüpft direkt an seine Farbenlehre an, und 1826 erscheint Johannes Müllers „Vergleichende Physiologie des Gesichtssinns", in welcher in unmittelbarem Anschluß an Goethes Farbenlehre die moderne Sinnesphysiologie begründet und das Gesetz von der spezifischen Sinnesenergie aufgestellt wird. So sah Goethe in diesen Jahren die Erfolge seiner wissenschaftlichen Tätigkeit heranreifen. Wenn auch noch mancher Stachel früherer Verbitterung zurückblieb, so überwiegt doch jetzt in diesen Jahren die Freude über den Erfolg. Schon 1807 hatte ihm A. von Humboldt seine „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen" mit einem von Thorwaldsen gezeichneten Widmungsblatte zugeeignet — der Genius der Poesie, Apoll, lüftet den Schleier der Göttin der Natur — „durch welches angedeutet werden sollte, daß es auch dem Dichter gelingen könne, den Schleier der Natur zu heben". Eine Reproduktion dieses schwer zugänglichen Stiches findet sich am Eingang dieses Buches. Jetzt breitet sich Goethes naturwissenschaftliche Korrespondenz fast über alle zivilisierten Länder aus. Von allen Seiten strömen die Anerkennungen. Gebend und empfangend nimmt er Anteil an der Fortentwicklung aller der zahlreichen Gebiete, auf denen er selbst gearbeitet hat. Erstaunlich sind die vielseitigen Interessen, welche in dieser naturwissenschaftlichen Korrespondenz berührt werden. Ein schönes Denkmal der Empfindungen des alten Goethe den jungen Mit- und Nacharbeitern gegenüber findet sich in einem Brief, in dem er dem Grafen Sternberg über Carus' Werk von den Urteilen des Knochenund Schalengerüstes der Tiere berichtet. Hier schreibt er die oft zitierten Worte: „Ein alter Schiffer, der sein ganzes Leben auf dem Ozean der Natur mit Hin- und Widerfahren von Insel zu Insel zugebracht, die seltsamsten Wundergestalten in allen drei Elementen beobachtet, und ihre geheim -gemeinsamen Bildungsgesetze geahnt hat, aber auf sein notwendigstes Ruder-, Segel- und Steuergeschäft aufmerksam, sich den anlockenden Betrachtungen nicht widmen konnte, der erfährt und schaut nun zuletzt: daß der unermeßliche Abgrund durchforscht, die aus dem Einfachsten ins Unendliche vermannigfaltigten Gestalten in ihren Bezügen ans Tageslicht gehoben und ein so großes und unglaubliches Geschäft wirklich getan sei. Wie sehr findet er Ursache verwundernd sich zu erfreuen, daß seine Sehnsucht verwirklicht und sein Hoffen über allen Wunsch erfüllt worden."

Und noch als Achtzigjähriger setzt er die naturwissenschaftlichen Bestrebungen fort. Den Verhandlungen der Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte, 1827 in München und 1828 in Berlin, widmet er das größte Interesse, um so mehr, als hier botanische Probleme zur Sprache kamen, die an seine Planzenmetamorphose anknüpften. In jenen Jahren hatten der Münchner Botaniker v. Martius und dessen Schüler, der später berühmt gewordene Alexander Braun, Untersuchungen über die Anordnung der Blätter und Sprosse an den Pflanzen angestellt und waren zu einfachen Regeln über die Blattstellung gelangt. Sofort nahm Goethe diesen Fortschritt auf und versuchte in seinem letzen botanischen Aufsatz über die Spiraltendenz der Vegetation die neueren Tatsachen mit seiner Lehre in Einklang zu bringen. Aufs lebhafteste beschäftigte ihn aber ein Ereignis das er direkt als ein Zeichen für das endliche Durchdringen seiner eigenen vor Jahrzehnten ausgesprochenen Ideen ansah. Damals brach im Schöße der Pariser Akademie jener berühmte Streit zwischen Cuvier und Geoffroy St. Hilaire aus, in der die alte und die neue Richtung in der vergleichenden Anatomie aufeinander platzten. Damals siegte noch Cuvier, der mit seiner ganzen Autorität die ältere Lehre vertrat. Der 82jährige Goethe griff aber von neuem zur Feder und wies seine Landsleute auf dieses bedeutende wissenschaftliche Schauspiel hin. Er stellte sich dabei rückhaltslos auf die Seite Geoffroy St. Hilaires. Mit Rührung liest man aus seinen mit höchster Klarheit geschriebenen Sätzen den Stolz heraus, mit dem er sich selbst als den Vater der hier kämpfenden Ideen fühlte. Das war das letzte was Goethe geschrieben hat. Kurze Zeit darauf endete ein Leben, das voll von den höchsten Erfolgen, aber auch voll von Mühe und Arbeit gewesen war.

Fast 60 Jahre hindurch hat Goethe ohne Unterbrechung aufs emsigste auf allen Gebieten der Natur geforscht. Keines der Resultate ist ihm mühelos zugefallen. Wenn man die Gesamtheit dessen überblickt, was er geleistet hat, so sieht man, daß Goethe der letzte naturwissenschaftliche Polyhistor gewesen ist, der noch die Gesamtheit der Natur in seinem Geiste umfaßte. Wenige Jahrzehnte später war es schon fast unmöglich, daß ein einzelner Mensch Teilgebiete, wie etwa Virchow die Medizin, umfassen konnte. Wie Goethe seinen ganzen Lebensgang als mit der Naturwissenschaft verwachsen ansah, dafür mögen zum Schluß noch seine eigenen Worte angeführt werden: „So ruhen meine Naturstudien auf der reinen Basis des Erlebten; wer kann mir nehmen, daß ich 1749 geboren bin, daß ich (um vieles zu überspringen) mich aus Erxlebens Naturlehre 1. Ausgabe treulich unterrichtet, daß ich den Zuwachs der übrigen Editionen, die sich durch Lichtenbergs Aufmerksamkeit gränzenlos anhäuften, nicht etwa im Druck zuerst gesehen, sondern jede neue Entdeckung im Fortschreiten sogleich vernommen und erfahren; daß ich Schritt für Schritt folgend, die großen Entdeckungen der 2. Hälfte des 18. JahrHunderts bis auf den heutigen Tag wie einen Wunderstern nach dem andern vor mir aufgehen sehe. Wer kann mir die heimliche Freude nehmen, wenn ich mir bewußt bin, durch fortwährendes aufmerksames Bestreben mancher großen weltüberraschenden Entdeckung selbst so nahe gekommen zu sein 1 , daß ihre Erscheinung gleichsam aus meinem eigenen Innern hervorbrach und ich nun die wenigen Schritte klar vor mir liegen sah, welche zu wagen ich in düsterer Forschung versäumt hatte." Wir wissen jetzt, daß Goethe nicht nur einzelnen Entdeckungen, wie er schreibt, sehr nahe gekommen ist, sondern daß er eine Reihe von grundlegenden Naturerkenntnissen selbst zutage gefördert hat.

1. So z. B. 1783 der Entdeckung des Luftballons. Vgl. Naturwissenschaftlicher Entwicklungsgang: „Die Luftballone werden entdeckt. Wie nah ich dieser Entdeckung gewesen. Einiger Verdruß, es nicht selbst entdeckt zu haben. Baldige Tröstung.

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