> Gedichte und Zitate für alle: Veit Valentin: ....... Ausgangspunkt der Untersuchung das Vorspiel auf dem Theater. (2)

2019-12-10

Veit Valentin: ....... Ausgangspunkt der Untersuchung das Vorspiel auf dem Theater. (2)




I. Ausgangspunkt der Untersuchung das Vorspiel auf dem Theater. v. 33—242.

Goethes Faustdichtung ist, zumal seit dem Erscheinen des sogenannten zweiten Teiles , den mannigfaltigsten Betrachtungsweisen unterworfen worden. Von bleibender Bedeutung für das Verständnis des Werkes möchten indessen doch nur zwei sein. Die eine, die historisch-kritische oder die entwickelungsgeschichtliche, verfolgt die allmähliche Entstehung des Werkes und sucht die Teile klar zu legen, aus denen es allmählich zusammengewachsen ist. Bleibt sie bei der Betrachtung dieser Teile stehen, um sie einander gegenüberzustellen , so ist es begreiflich , dafs sie zur Auffindung von Widersprüchen gelangt und daraus die Folgerung zieht, dafs diese einander widersprechenden Teile nicht imstande sind, die Glieder eines planmäfsig entworfenen und durchgeführten Ganzen zu bilden,, dafs also diesem Ganzen das erste und wichtigste Merkmal des Kunstwerkes, die Einheitlichkeit, fehle. Die andere Betrachtungsweise geht umgekehrt von der Voraussetzung aus, dafs kein Teil für sich allein , sondern stets mit Rücksicht auf das Ganze betrachtet werden müsse und erst durch diese Betrachtung seine richtige Bedeutung gewinnen könne sie geht also von der Voraussetzung der Einheitlichkeit des Ganzen aus und sucht von hier aus jedes Glied in seinem Werte für das Ganze zu erfassen, um so zu einem richtigen Verständnis auch jedes einzelnen Teiles zu gelangen. Diese Betrachtungsweise ist die ästhetische sie soll in der folgenden Untersuchung die wegweisende sein.

Die ästhetische Untersuchung der Faustdichtung könnte indessen als eine nicht berechtigte erscheinen, so lange der Nachweis der Einheitlichkeit der Dichtung nicht geliefert ist: sie dagegen setzt diese Einheitlichkeit voraus, und wird daher die Berechtigung ihres Verfahrens nachzuweisen haben. Den besten Nachweis wird das Ergebnis der Untersuchung liefern ist dieses befriedigend, so darf auch die Voraussetzung als berechtigt gelten. Allein diese nachträgliche Rechtfertigung hat, selbst wenn sie erreicht wird, wohl eine rückwirkende Kraft, kann aber hier zu Anfang der Untersuchung noch nicht ermutigen, diesem Wege zu folgen. Wohl aber dürfte dies der Fall sein , wenn sie für sich anführen kann , dafs kein Geringerer als Goethe selbst diese Betrachtungsweise verlangt. Gerade für seine Faustdichtung fordert er ausdrücklich , dafs jeder Teil mit Rücksicht auf das Ganze betrachtet werde : dies ist aber nur dann möglich , wenn das Ganze das charakteristische Merkmal des Kunstwerkes besitzt und wirklich eine einheitliche Schöpfung darstellt. Dafs Goethe von dieser Überzeugung durchdrungen war, spricht er gleichfalls selbst aus, und zwar mit ausschliefslicher und unbestreitbarer Beziehung auf die Faustdichtung: er hat seinen Standpunkt klar und deutlich in dem »Vorspiel auf dem Theater« dargelegt. Das Vorspiel ist aber gerade in der Zeit entstanden, in der Goethe die genial hingeworfenen Szenen des »Urfaust«, die noch keinen über die tiefergreifende unmittelbar packende poetische Wirkung der Einzelschicksale hinausgehenden weltumspannenden Plan erkennen lassen, zu Gliedern eines solchen Planes machte die »schwankenden Gestalten«, die aus dem »Dunst und Nebel« früher Jugendtage wieder aufsteigen, gewinnen jetzt Festigkeit und Klarheit als Glieder eines weitausgreifenden Planes, in dem sie zu erhöhter Bedeutung gelangen müssen. Es kann die Frage sein, ob dem Dichter diese umgestaltende Einfügung überall gelungen ist: es kann aber keine Frage sein, dafs er diesen Umwandlungsvorgang nicht nur mit vollem Bewufstsein vorgenommen hat, sondern dafs er ihm nach seiner Überzeugung auch gelungen ist. Was vorher nur eine Reihe von Einzelheiten war, fügt sich jetzt zu einem höheren Zweck einem Ganzen ein was früher nur für sich allein gewirkt hat, vermag jetzt in geordnetem Zusammenwirken mit anderem einen künstlerisch wirkenden Zusammenklang hervorzubringen. Gerade die Notwendigkeit, der früheren Schöpfung gegenüber den höheren künstlerischen Charakter zu wahren , mit ihm aber auch die Forderung an sich selbst und nicht weniger die Forderung des nur genufssuchenden Publikums zu einer ästhetischen Genufs erwartenden zu steigern, hat den Dichter veranlafst, seine besondere Stellung zu dem veränderten und in seiner Durchführung im höchsten Grade mannigfaltigen Werke dahin zu wahren , dafs er es nicht nur als Kunstwerk geschaffen habe, sondern es auch als Kunstwerk betrachtet wissen wolle. Eben darum nimmt er für seine Dichtung den Charakter der Einheitlichkeit in entschiedenster Weise in Anspruch.

In dem Vorspiel auf dem Theater läfst Goethe die verschiedenen Stimmungen , die einem Kunstwerk, und besonders einem dramatischen, entgegentreten, kräftig zum Ausdruck gelangen. Der in erster Linie praktische Direktor geht auf äufseren Erfolg aus und wünscht daher sehr, der Menge zu behagen. Er kennt die grofse Masse des schaulustigen, aufregungssüchtigen, aber durchaus nicht denkeifrigen Publikums aus Erfahrung sehr gut und verlangt daher vom Dichter, er solle vor allem genug geschehen lassen und sich nicht erst die doch vergebliche Mühe machen, die Einzelheiten zu einem Ganzen kunstvoll zusammenzufügen. Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken! . .

Was hilft's , wenn Ihr ein Ganzes dargebracht ? Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.« Mit tiefster Entrüstung weist der Dichter ein solches Handwerk zurück, das mit seiner Pfuscherei dem echten Künstler nicht geziemt. Er weifs besser, was wirklich alle Herzen bewegt, was tiefer geht als der flüchtig aufregende Genufs einer Fülle von Einzeleindrücken, die sich ablösen, sich aber nicht zusammenschliefsen: »Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt Und in sein Herz die Welt zurückeschlingt?« Und er weifs auch, wessen Amt es ist, diesen herzbewegenden Einklang zu schaffen: Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe , Wo es in herrlichen Akkorden schlägt ? . . . Des Menschen Kraft, im Dichter offenbart!«

Diese Grundstimmung wird nicht etwa als unberechtigt zurückgewiesen. Die lustige Person, der kluge, jedoch zugleich gemütvolle Narr, tritt als Vermittler zwischen dem ausschliefslich sein praktisches Ziel verfolgenden Direktor und dem gleichfalls einseitigen Dichter auf. Er erkennt den Standpunkt des Dichters durchaus an, verweist aber sehr bedeutsam auf die Wirklichkeit, an die der Dichter anknüpfen müsse, um das Material zu gewinnen, aus dem ein solcher Einklang sich bilden könne: nur wo realistische Wahrheit der dichterischen Schöpfung, die ihrem Wesen nach ideal ist, zu Grunde liegt, nur da kann eine tiefe Wirkung erzielt werden. Wird dieser Weg eingeschlagen, so findet ebenso sehr des Direktors Drängen auf realistisches Geschehen , wie des Dichters ideales Streben nach Schöpfung eines alles Einzelne zu einheitlichem Eindruck zusammenfügenden Ganzen seine Erfüllung.

Ist schon Goethes sonstige Art des Schaffens von diesem Charakter durchdrungen, so ist mit diesem Grundsatze gerade die Dichtung scharf gekennzeichnet, die durch das Vorspiel auf dem Theater eingeleitet wird. Bei einem ganz aufsergewöhnlichen Reichtum von Einzelheiten, die der realen Welt entnommen sind, kann jedoch die Befürchtung eintreten, es möchte das höchste Ziel aller künstlerischen Schöpfung, die Einheitlichkeit, in der das ideale Moment des Kunstwerkes unter allen Umständen erscheint, vielleicht doch nicht erreicht werden. Um so notwendiger war es, dafs
Goethe hier den Unterschied des natürlichen und des künstlerischen Schaffens klar hervorhob , um über seinen Standpunkt keinerlei Zweifel zu lassen. Den Einklang, den das Kunstwerk hervorruft, kann die Natur, soweit wir sie kennen und zu erfassen vermögen , nicht erwecken sie zwingt des Fadens ewige Länge gleichgiltig drehend auf die Spindel , ohne zu gestatten , dafs eine Reihe der die nie abreifsende Kette von Ursachen und Folgen bildenden Einzelheiten durch einen deutlich fühlbar werdenden Anfang und Abschlufs zu einer Gruppe sich aussondere hiermit würde die erste Voraussetzung zu einem einheitlichen , in sich abgeschlossenen Ganzen geboten. Die Natur läfst vielmehr die unharmonische Menge aller Wesen verdriefslich durcheinanderklingen. Ganz anders die Kunst sie allein teilt die fliefsend immer gleiche Reihe so ab, dafs sie den dadurch gewonnenen Gruppen als besonderen neuen Ganzen ein selbständiges Leben verleiht. Dieses Leben offenbart sich darin, dafs ein solcher zum Ganzen gewordener Teil sich rhythmisch regt  erst wenn der rohe Stoff, wie ihn die Natur geboten , und wie ihn die Kunst als Teil herausgelöst und zu einem Ganzen gebildet hat, durch die künstlerische Gestaltung sich gliedert und durch diese Gliederung Leben gewinnt , erst dann können diese Glieder innerhalb der durch das Ganze gegebenen Grenze zusammenwirken, so dafs jedes Glied, jedes Einzelne, durch seine Stellung innerhalb des Ganzen und durch sein Wirken gerade an dieser Stelle zur allgemeinen Weihe gerufen wird, wo es in herrlichen Akkorden schlägt.

Wenn nun Goethe in dem Vorspiele zu seiner Faustdichtung einen solchen ästhetischen Grundsatz von entscheidender Bedeutung gerade dem Dichter in den Mund legt, der zur Leistung aufgefordert wird, und als dessen Leistung die folgende dramatische Dichtung betrachtet werden soll, wenn dieser Grundsatz unwidersprochen bleibt und sein ästhetischer Inhalt nach Meinung der beiden anderen Persönlichkeiten sich sehr wohl mit den praktischen Anforderungen der Bühne vereinigen läfst, so ist es klar, dafs Goethe die Überzeugung hatte, dafs seine Faustdichtung , die praktische Ausführung dieser Anforderungen, mit diesem Grundsatz durchaus übereinstimme, dafs in ihr alle Forderungen seines ästhetischen Inhaltes vollständig erfüllt seien. Goethe könnte mit dieser Überzeugung Unrecht haben  wollten wir dies aber von vornherein annehmen, so hiefse das dem Dichter jede Fähigkeit von Selbstbeurteilung absprechen. Scheuen wir uns aber, dies zu thun — und der überall bewiesenen künstlerischen Natur Goethes gegenüber möchte diese Scheu sehr wohl angebracht sein — , so ergiebt sich hieraus die Pflicht, zunächst die Berechtigung dieser Überzeugung im ganzen zuzugeben. Ist dem aber so, so kann die ästhetische Betrachtungsweise gar nicht anders als von der Voraussetzung ausgehen, dafs in der Faustdichtung die erste ästhetische Forderung an ein Kunstwerk erfüllt sei, dafs sie den Charakter der künstlerischen Einheitlichkeit thatsächlich besitzt. Diese Einheitlichkeit mufs sich zunächst in der künstlerischen Gestaltung des Stoffes, sodann aber in der besonderen Form , die der Dichter für das Kunstwerk gewählt hat, also hier in der Anwendung der dramatischen Form zeigen.
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