A. Die vorbereitende Handlung i. im Himmel. v. 243—353.
Die Einzeldurchführung der dramatischen Gestaltung eines Kunstwerks legt dem Dichter eine Reihe von Verpflichtungen auf. So wie die Wahl
der dramatischen Form an und für sich nur dann als berechtigt erscheint, wenn in der künstlerischen Gestaltung
des Stoffes kräftige Gegensätze entwickelt worden sind, so mufs die dramatische Form nun darauf ausgehen,
diese Gegensätze von vornherein lebendig werden und
dem Hörer deutlich ins Bewufstsein treten zu lassen. Soll die Teilnahme für diese Gegensätze erweckt werden,
ohne die eine tiefergehende Wirkung auf den Hörer
und Zuschauer, also den Miterleber der Handlung, ausgeschlossen ist, soll also der Zuhörer und Zuschauer
bewogen werden , ein Stück seines eignen thätigen
Lebens hinzugeben , um aufnehmend und erleidend
als Miterleber dem Verlauf einer fremden Handlung beizuwohnen, so müssen die Träger der Handlung uns
als so bedeutend, ihre Erlebnisse als so ergreifend entgegentreten , dafs die Teilnahme an ihnen selbstverständlich erscheint und ihr Verlauf mit Spannung verfolgt wird. Diese Teilnahme wird am sichersten dann
erweckt, wenn infolge der durch die künstlerische Gestaltung des Stoffes gebotenen Gegensätze eine Reihe von Fäden angesponnen wird , von denen jeder nach
einem besonderen, klar bestimmten Ziele hinstrebt: da
jedes dieser Ziele nur so erreicht werden kann, dafs der Weg des einen Fadens die der anderen Fäden
durchkreuzt, so fangen sie an sich zu verschlingen, und
indem jeder dennoch sein Ziel zu verfolgen strebt, entsteht
ein Kampf, dessen Ausgang mit gespannter Teilnahme
erwartet wird und der deshalb in seinem Verlaufe die Teilnahme des Miterlebers beständig wach erhält. Dieser
Verlauf der Handlung mufs aber weiterhin so sein, dafs das sachliche Geschehen mit Notwendigkeit von dem
Ausdruck der dabei sich ergebenden Empfindungen und
Überlegungen begleitet wird, dafs aber auch andrerseits keine Empfindungen und Überlegungen zum Ausdruck
gelangen, als solche, die dem sachlichen Geschehen mit
Notwendigkeit entspringen müssen und eben deshalb ihm
mit Wahrscheinlichkeit entspringen. Dafs dieser Ausdruck weiterhin den Charakter der künstlerischen Form
tragen, somit aufser treffendem Inhalt auch die Form
zeigen mufs, die die jedesmaligen besondern Umstände
kennzeichnet, ergiebt sich aus der Thatsache, dafs er in einem Kunstwerk zu Tage tritt, mit Notwendigkeit und
von selbst. Für den Nachweis der dramatischen Gestaltung
des künstlerischen Aufbaues kommt es jedoch zunächst nur auf die Darlegung der zuerst erwähnten Punkte an.
Der Gegensatz, auf dem in der Goethischen Faustdichtung die künstlerische Gestaltung des Stoffes aufgebaut ist, tritt in Gott und dem Teufel hervor: die Belebung dieses Gegensatzes zu einer Handlung wird
durch das Dazwischentreten des Menschen herbeigeführt,
dessen Seele Gegenstand eines zwischen Gott und
Teufel entspringenden Kampfes ist. Das Ziel der
Handlung ist klar: jeder der beiden will die Seele für sein Reich gewinnen. Dieser durch alle Zeiten, so lange es Menschen giebt, sich hinziehende Kampf erweckt besondere Teilnahme erst durch die besondere
Beschaffenheit eines bestimmten Menschen als Gegenstandes eines einzelnen Kampfganges zwischen Gott und
Teufel : der Eintritt dieses einzelnen Kampfes und die Darstellung seiner Veranlassung ist der Hauptfaden,
der zuerst angeknüpft werden mufs. Es geschieht in der Begegnung des Teufels mit Gott bei Gelegenheit
einer besonderen Erscheinung Gottes auf der Erde, das
die Huldigung des ganzen »Gesindes veranlafst. Da
erscheint auch der Teufel in der besondern Gestaltung,
in der er auch sonst von Gott schon immer gerne gesehen wurde. Gott hafst nichts und niemanden : die mannigfaltigen Verkörperungen des Bösen sind ihm
nur zu Laßt. Am wenigsten ist es ihm das Böse, wenn
es in der Verkörperung des Schalkes erscheint. Es hört
damit nicht auf das Böse zu sein, dessen innerstes Wesen Vernichtung des Daseins ist : aber in der Gestaltung des Schalkes gewinnt es die Form, unter der
es vor Gott frei erscheinen, ja vor ihm seine Klagen
vorbringen kann. Damit bildet es einen Gegensatz zu den Engeln, die von Gott und der Welt nur Gutes zu sagen wissen.
An einen andern Gegensatz knüpft sich der zweite
Faden, der gleich zu dem besonderen Gegenstande und
damit zu der Veranlassung dieses sich hier entspinnenden Einzelkampfes führt. Das Wesen Gottes und sein Walten in der Welt ist so wunderbar, dafs sogar die Gott am nächsten stehenden Geister, die Engel, es nicht ergründen können. Dieser Thatsache gegenüber bleibt,
falls kein Gefühl der Unbefriedigung entstehen soll, nur
ein freudiges Glauben an die Herrlichkeit Gottes übrig,
wie es durch das Anschauen Gottes und seiner Werke
gewonnen wird, sobald man sich seiner Allmacht in Demut beugen kann. Dieses gläubige Vertrauen erniedrigt nicht : es giebt im Gegenteil eine Kraft, die sonst nicht gewonnen werden kann. So giebt dieser Anblick den Engeln Stärke, wenn auch keiner sie ergründen mag : in Demut ergeben sie sich in die Thatsache und bekennen freudig: »Die unbegreiflich hohen
Werke Sind herrlich wie am ersten Tag.« In grellen
Gegensatz dazu tritt der mit Vernunft ausgestattete
Mensch : diese den Menschen so hoch über das Tier
erhebende und ihn den Engeln annähernde Befähigung
kann sehr verschieden angewendet werden. Entweder
demütigt sich die Vernunft vor Gott : das Ergebnis ist dann der beseligende Glaube, der auch für das Jenseits
die thatsächliche Folge der Seligwerdung hat ; oder die Vernunft lehnt sich gegen Gott auf: von dieser Auflehnung weifs Mephistopheles zu erzählen — sie erregt
durch die Karikatur, die sie zu Wege bringt, nur seinen
Spott. Der Mensch braucht die Vernunft nur, um
tierischer als jedes Tier zu sein: er wäre viel glücklicher,
wäre ihm der Schein des Himmelslichtes nicht gegeben,
als jetzt, da er seine Nase in jeden Quark begräbt.
Von einer andern Art der Auflehnung der Vernunft
weifs er dagegen nichts : sie kann zum ernstesten Wissensdrang führen, der von der heiligsten Sehnsucht
nach Beseligung erfüllt ist, diese jedoch nie erreichen
kann. Bleibt schon den Engeln nichts übrig, als sich demütig zu bescheiden und Gottes Herrlichkeit, auch wenn sie nicht begriffen werden kann, anzubeten, so vermag der tiefer stehende Mensch, dem die Anschauung
Gottes fehlt, erst recht nicht mit Hilfe der Vernunft
zur Erkenntnis Gottes und der Welt zu gelangen.
Mephistopheles versteht diese Auflehnung der Vernunft
gegen Gott nicht, weil sie aus den edelsten Motiven
entspringt. Eben deswegen kann auch der Mensch, der von diesen Motiven geleitet seine Vernunft gebraucht
und durch Erkenntnis der Unmöglichkeit, mit ihrer Hilfe das ersehnte Ziel erreichen zu können, zur Verzweiflung,
ja selbst zum Abfall von Gott kommt, trotzdem selig
werden : es kommt nur darauf an, ihn auf den rechten
Weg zu bringen. Dieser ist aber nur ein solcher, auf
dem die eigene Thätigkeit, die Anlage des Menschen zum Handeln, erweckt wird. Mephistopheles aber vermeint in diesem von ihm mifsverstandenen Gebrauch
der Vernunft die unbedingt sichere Handhabe gefunden
zu haben, um auch einen hoch strebenden Menschen
von Gott abwendig zu machen. So tritt neben den
Gegensatz von Gott und Teufel der Gegensatz von
Glaube und Vernunft, und innerhalb der Vernunft der
Gegensatz einer ihrem innersten Wesen nach auf das
Höchste gerichteten Vernunft und einer banalen, das
Beste ihres Wesens, den von ihrer Bethätigung untrennbaren Forschungstrieb, zu geringfügigen oder gar zu
verwerflichen Zwecken anwendenden Vernunft. Durch diesen zweiten Gegensatz gewinnt der erste zwischen
Gott und Teufel eine besondere Wendung: von der
aus edlen Motiven aufs höchste Ziel gerichteten Vernunft versteht Mephistopheles nichts. Sein infolge dieses Mifsverständnisses gewagtes Auftreten gegen Gott ist gerade durch diesen Umstand ein von seinem sonstigen
Auftreten gegen Gott abweichendes und gewinnt hierdurch ein besonderes Interesse : an Stelle des sonst von
Seiten des Teufels versteckt gegen Gott geführten
Kampfes tritt jetzt infolge einer Abmachung ein von
Gott zugelassener offner Kampf des Teufels gegen ihn. Im höchsten Grade jedoch steigert sich das Interesse durch eine besondere Bestimmung in der Abmachung
:
die Entscheidung, und das ermöglicht nun den dramatischen Fortgang, liegt nicht bei Gott, der Faust den
Angriffen des Teufels ruhig überläfst: sie liegt einzig bei Faust selbst und in der Art, wie er den Angriffen
des Teufels begegnen wird. So wird der Gegensatz
zu Gunsten des dramatischen Fortgangs verschoben
:
Gott, den wir uns nicht als selbstthätigen Kämpfer dem
Teufel gegenüber vorstellen können, da sein Eingreifen
den Kampf sofort auch beenden mufs, tritt als Kämpfer
zurück, und als Gegner stehen sich Faust und Mephistopheles gegenüber.
Dieser Kampf erhält den für die dramatische Gestaltung in höchstem Grade wichtigen Grundzug, dafs zwar Mephistopheles mit vollem Bewufstsein des Zieles
in den Kampf geht und daher diesen Kampf in vollster Klarheit führt, dafs Faust dagegen weder von der Veranlassung noch von dem Ziele des Kampfes etwas weifs,
ja nicht einmal ahnt, dafs er überhaupt Gegenstand
eines Kampfes ist: Gott überläfst ihn seiner guten Natur, die in vollster Naivetät wirken soll. Eben dadurch
gewinnt aber der Dichter für Faust unsere tiefste Teilnahme : eine edle Natur ist den Angriffen des Teufels
mit Zustimmung Gottes ausgesetzt, und unsere höchste
Spannung wird rege gehalten, ob es dem Teufel nicht
doch gelingt, sein Ziel zu erreichen und Fausts Geist von seinem Urquell abzuziehen. Freilich werden wir
durch das Vertrauen auf Gottes Allwissenheit und
Allmacht wohl im grofsen und ganzen beruhigt : wäre
dies nicht der Fall, so wäre die Besorgnis so grofs, dafs die ruhig betrachtende Freude, wie sie aus der
Entwicklung und dem Fortgang der Handlung, soweit
sie Faust selbst betrifft, der Miterleber nach des
Künstlers Willen empfinden soll, schwer beeinträchtigt
würde. So stehen Spannung auf den Einzelverlauf und
Beruhigung über den endlichen Ausgang in wohlthuendem Verhältnis nebeneinander, ohne sich zu beeinträchtigen: dafs Faust sein höchstes Ziel erreicht, ist eben
doch nur eine Hoffnung und hebt daher nicht die Spannung auf, wie das im Widerstreit mit den Verlockungen des Teufels möglich sein wird.
In der dramatischen Gestaltung hat der Dichter
zunächst die schwere Aufgabe, die Unendlichkeit des
Waltens Gottes in Verbindung mit dem Einzelereignis zu setzen, das uns hier mit Teilnahme erfüllen soll. Er löst die Aufgabe, indem er den ersten Erzengel
die unbestrittene, im Zusammenklang des Tönens der
Sonnenbahn mit dem Erklingen der übrigen Weltkörper,
im Sphärengesang, erscheinende Weltharmonie, die Herrlichkeit des Weltganzen schildern läfst. Der zweite
Erzengel führt auf die Erde : er betrachtet sie jedoch
als Weltkörper, der in dem Weltganzen seine vorgeschriebene , dem Gesamtplan entsprechende Stellung
einnimmt : zu ihr gehört der auf der Erde sich kundgebende Wechsel von Paradieseshelle und tiefer schauervoller Nacht, vom schäumenden Meere und starren Fels : dieser Wechsel aber verschwindet vor der Weltstellung der Erde. Der dritte Erzengel jedoch schildert
die Erde in ihrem Sonderleben: da tobt der Kampf
und die Zerstörung. Aber was auf der Erde kurzsichtig nur von dieser Seite her gefafst wird, erscheint dem
auf das Ganze gerichteten Blick doch nur als Glied
der grofsen Weltharmonie, in deren Preis die drei Engel
darum zusammenstimmen und zwar so, dafs der für die Gesamthandlung grundlegende Gedanke sich wiederholt:
Gott kann aus seinen Werken und in seinem Wesen
nicht ergründet werden: an die Stelle der vergeblich
erhofften Befriedigung durch Erkenntnis tritt die Befriedigung durch Anschauen Gottes. Sobald durch den
vermittelnden Gesang der Engel die Erde mit ihren
Kämpfen und Stürmen erreicht ist, da ist es auch Zeit, dafs der Mensch erscheint. Er wird von Mephistopheles
hereingezogen, dessen Augenmerk sich nur auf das
nächste Ziel richtet: der Heuchler hat mit dem Armen,
dem des Himmelslichtes Schein, die Vernunft, so schlecht bekommt, Mitleid : er will ihn sogar nicht mehr plagen.
Diese Heuchelei wird von Gott mit dem einen Wort
zu nichte gemacht: »Kennst du den Faust?« und sofort beginnt der Widerstreit der Handlung : Gott nennt Faust,
um Mephistopheles auf ihn zu lenken. Gerade er ist der rechte, der Faust aus der Grübelei zum Handeln
bringen kann: hierin aber liegt die Möglichkeit seiner Rettung. So mufs dem Zwecke Gottes der Teufel
dienen : der Teufel thut es, in der Hoffnung, für sich selbst zu handeln —, eine Situation, die des komischen
Beigeschmacks nicht entbehrt, zumal der Allwahre
ganz klar und mit vollster Deutlichkeit das wirkliche
Verhältnis klarlegt. Mephistopheles, von der Herrlichkeit der Beute geblendet, hört aber nichts anderes als die Möglichkeit, den Versuch machen zu dürfen, und
wiegt sich schon in seiner Siegeshoffnung : wenn er
trotz der Warnung und Aufklärung schliefslich doch
verliert, so hat er es sich selbst, seiner Gier und der
durch sie bewirkten Verblendung zuzuschreiben.
So ist eine Handlung angeknüpft, deren Verlauf
die höchste Spannung erregt. Welch ein Mensch mufs
Faust sein, dafs Gott, der ihn bald zur Klarheit führen
will, ihn unbesorgt dem Teufel überlassen kann, in einem Augenblick, in dem alle Nähe und alle Ferne
Fausts tiefbewegte Brust nicht befriedigt! Und einen
solchen Geist hofft Mephistopheles sich zu eigen zu machen, indem er ihm irdische, trügerische Freuden
verschaffen will : »Staub soll er fressen und mit Lust!«
So mufs uns Fausts Schicksal, sein gegenwärtiges und
sein künftiges, aufs tiefste bewegen. Aber mit einer
Gewifsheit gehen wir der Handlung, die sich nun vollziehen soll , entgegen : Gott mufs durch alle Fährlichkeiten hindurch Faust körperlich und seelisch so erhalten, dafs er trotz aller Lagen, in die Mephistopheles
ihn bringen wird, dennoch imstande ist, den rechten
Weg, dessen er sich in seinem dunklen Drange wohl
bewufst ist, auch wirklich zu finden und ihn soweit zu
gehen, dafs er von Gott wirklich zur Klarheit geführt
werden kann. Erscheint daher auch Gott nicht mehr
persönlich, so wirkt er doch in seinen Geistern fort, die zu rechter Zeit werden einzugreifen haben. Wir aber werden das wundersame Schauspiel miterleben,
wie ein Mensch den Weg zum höchsten Ziele sucht
und dabei von zwei Geisterwelten begleitet wird, deren
eine das in irdischem Sinne Schlimmste nur gerade von
ihm abhält, deren andere ihn zu ewiger Verderbnis
verlocken will. So hat sich in diesem »Prolog im
Himmel« eine Handlung begeben, die gänzlich ohne
Fausts Zuthun sich vollzieht und dennoch für sein Schicksal mafsgebend ist: ihre Fortführung fällt in Fausts eigne Hand, jedoch so, dafs Faust von der
Anfangshandlung keine Ahnung hat. Dabei soll Fausts
Handeln durchkreuzt werden von Mephistopheles, der
sein eignes Ziel verfolgt, der den unmittelbaren Anlafs
zu seinem Auftreten Faust verschweigt und der sein Handeln auf ein Mifsverstehen von Fausts wahrer Natur
gründet. So hat der Dichter für die Handlung eine Grundlage geschaffen, die zu reicher Mannichfaltigkeit, zu ergreifenden Wendungen führen mufs.
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Goethe auf meiner Seite
Testamente, Reden, Persönlichkeiten
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