> Gedichte und Zitate für alle: Veit Valentin: Die künstlerische Gestaltung des Aufbaues. (4)

2019-12-10

Veit Valentin: Die künstlerische Gestaltung des Aufbaues. (4)

Veit Valentin: Goethes Faustdichtung in ihrer künstlerischen Einheit



III. Die künstlerische Gestaltung des Aufbaues.


Als der jugendliche Dichter sich der künstlerischen Gestaltung des Gegenstandes zuwendete, da  waren es die Augenblicke tiefergreifender , das Herz mächtig bewegender seelischer Erregung, die ihn zuerst erfafsten , und die er auch zuerst gestaltete. Naturgemäfs griff er dabei zu der dramatischen Form. In dieser durch die praktische Aufführung auf der Bühne entstandenen Form ist nicht toter Stoff, sondern der lebendige Mensch selbst der Träger der bildlich dargestellten Personen und der an ihnen sich vollziehenden Handlungen. Damit hat diese Form vor allen anderen Kunstformen den Vorteil lebendiger, unmittelbarer und daher aufs tiefste ergreifender Wirkung voraus. Der Hörer und Beschauer wird durch sie Miterleber der in ihr dargestellten Erlebnisse, die mit der vollen, ungebrochenen Kraft der zugleich in Raum und Zeit sich abspielenden Gegenwart den gegenwärtigen Miterleber in ihren Zauberbann hineinziehen und mit sich fortreifsen. Eine solche Form mufste für einen selbst aufs tiefste ergriffenen Dichter, der auch andre mit gleichem Reichtum und gleicher Wonne der Empfindung erfüllen will , die selbstverständliche Form sein , zumal in einer Zeit , in der die trennenden Grenzen von dramatischer und epischer Form zu verschwinden im Begriffe schienen und somit ein Bedenken über die Wahl der Form kaum auf- kommen konnte. So hatte der junge Dichter schon die Lebensgeschichte seines Gottfried in dramatischer Form geschaffen ; so griff er auch jetzt wieder ohne Zögern und Bedenken zu dieser dankbaren und wirkungsvollen Form , deren Vorzüge leicht zu erkennen sind. 

Allein die dramatische Form bietet auch Nachteile, die dem Dichter für diese wirkungskräftige Form Schranken auferlegen. Bei der berichtenden Form der Darstellung von Erlebnissen äufserer und innerer Art kann der Dichter durch Schilderung und Erläuterung nachhelfen und dadurch manche Feinheit in der Entwicklung zur Darstellung bringen, die vor der fortreifsenden Kraft der flüchtigen , kein Verweilen vergönnenden Gegenwart verschwinden mufs. Die in voller gegenwärtiger Erscheinung vor uns hintretenden Personen müssen ferner ihre Handlungen und die Empfindungen, die aus den Handlungen sich ergeben, mit Worten begleiten. Das geschieht nicht bei gleichgiltigen Erlebnissen : es können also nur Erlebnisse von kräftiger Wirkung zur Verwendung kommen, bei denen die Aussprache in Worten uns selbstverständlich erscheint. Beide Umstände haben zur Folge, dafs sich der Dichter auf bedeutend wirkende Augenblicke beschränken mufs, die Sammelpunkte kraftvoller Thätigkeit oder tiefgehender Empfindung sind , so dafs in ihnen für den Fortgang des Ereignisses eine entscheidungfördernde Kraft hervortritt. Nimmt man noch die die Ausdehnung beschränkende Gegenwart des Miterlebers hinzu, so ergiebt sich aus allen diesen Verhältnissen die Folgerung , dafs die dramatische Form dem Dichter eine Beschränkung auf eine verhältnismäfsig geringe Reihe von Erlebnissen auferlegt, die zugleich solche von hervorragender Kraft zur Erweckung von teilnehmender Mitempfindung sein müssen. 

Eine solche Beschränkung kann aber nicht jeder Stoff erleiden : er kann es nur, wenn seine künstlerische Gestaltung von vornherein einen Gegensatz geschaffen hat, aus dem mit Notwendigkeit streitende Kräfte sich entwickeln , die ihre auseinandergehenden Ziele mit Aufbietung vollster Leidenschaft zu erreichen suchen und die daher naturgemäfs in jeden Augenblick ihres Hervortretens die ganze Wucht ihrer Persönlichkeit zu legen entschlossen sind : so wird jedes Auftreten nach irgend einer Seite hin entscheidungsvoll wirken und mit der Energie erfüllt sein, die die nachempfindende Seele des die Handlung als unsichtbarer Zeuge Miterlebenden in. mächtige Spannung zu versetzen vermag. 

Schon in der älteren Fassung der Faustsage bietet sich ein solcher Gegensatz in Faust und dem Teufel: in noch gröfserer Entschiedenheit tritt er aber in der Goethischen Gestaltung der Faustsage in den Vordergrund. Gott und der Teufel, gute und böse Geister, dann Faust und Mephistopheles bieten eine Fülle von Gegensätzen , die , sobald sie ein gemeinschaftliches Ziel sich stecken, eben dadurch zu noch entschiedenerem Entgegenwirken gebracht werden , als es ihre an und für sich feindlich gearteten Naturen schon von selbst veranlafsten : so ist nun aber dieses Entgegenwirken von beiden Seiten ein energisches , auf  Entscheidung hindrängendes , so dafs es an tief ergreifenden Einzelhandlungen nicht fehlen kann. Damit ist die erste Anforderung für ein der dramatischen Form sich be- dienendes Kunstwerk vorhanden. Wenn also Goethe bei seiner Faustdichtung zu dieser Form griff, so hatte er mit richtiger Empfindung die geeignetste Form für seinen Stoff gefunden. Sollte nun aber die richtig ergriffene Form auch richtig durchgeführt werden , so durfte Goethe sich auch den aus der Wahl dieser Form sich ergebenden Folgen nicht entziehen. Bot die Faustsage eine Fülle von mannigfaltigen und interessanten Ereignissen , so mufste der Dichter diese Reihe nicht nur der Zahl nach beschränken, er mufste sie auch zu einem Ganzen gestalten , er mufste zu diesem Zweck den Einzelereignissen ihre selbständige Bedeutung entziehen und sie einem Hauptereignis unterordnen, dem sie sich durch die Art ihrer Gestaltung anzupassen hatten : nur so können sie als ihm dienend erkannt werden. 

Eine solche Unterordnung ist jedoch nur zu erzielen, wenn die Gestaltung des künstlerischen Stoffes gleichsam von selbst zu einer Gliederung der Masse hindrängt. Jede künstlerische Form setzt eine Gliederung voraus. Das, was sich zum Kunstwerk gestalten will, besitzt eine Vielheit von Einzelheiten: die künstlerische Wirkung von Einzelheiten beruht aber darauf, dafs sie durch Anordnung und Gestaltung unserem Bestreben , eine Mehrheit von Einzelheiten als Einheit aufzufassen, entgegenkommt. Erst wo dies eintritt, ist die elementarste Voraussetzung der künstlerischen Wirkung vorhanden, soweit sie auf der Formgestaltung beruht : diese aber ist wiederum die Voraussetzung für jede das tiefere Empfindungsleben der Seele berührende Wirkung der künstlerischen Form. Der Weg zu dieser elementarsten Wirkung der künstlerischen Gestalt ist die Vereinigung einer kleineren Reihe von Einzelheiten zu einer gemeinsamen, dem neugeschaffenen Ganzen entspringenden Wirkung : in dieser gemeinsamen Wirkung liegt das Moment der einheitlichen Wirkung. Die künstlerische Form nun, die diese einheitlich empfundene Wirkung hervorbringt, ist die aus einer Reihe gemeinsam wirkender Einzelheiten entstehende Gruppe. Die Formeigenschaft aber, die uns solche Gruppen erkennen und als gemeinsam wirkende Einzelheiten empfinden läfst , ist die Gliederung. So ist der Versfufs eine Gruppe von Silben, der Vers eine Gruppe von Versfüfsen, die Strophe eine Gruppe von Versen. Je einfacher und natürlicher sich eine solche Gliederung aus den einzelnen Elementen der künstlerischen Form ergiebt, um so glücklicher ist ihre Anlage, um so bedeutungsvoller erscheint ihre Wirkung., um so geeigneter aber ist sie auch, in den seelischen und den geistigen Gehalt des Kunstwerks durch die ihr eigene Klarheit der Gestaltung einzuführen. 

Stehen wir einem fertigen Kunstwerk gegenüber und wollen seine künstlerische Gestaltung erkennen, so mufs es, je künstlerischer seine Formgestaltung ist, um so leichter zunächst die Gliederung der grofsen Masse durchschauen lassen: von da aus dringen wir, die einzelne Gruppe prüfend betrachtend , weiter zu der Gliederung der Hauptteile durch, bis wir zu immer kleineren Gruppen und endlich zu den elementarsten Formeinzelheiten gelangen. Von hier aus vollzieht sich nun an der Hand der bereits erkannten Gruppierung der in erster Linie die ästhetische Beanlagung zu lebhaftester, lustvoll empfundener Thätigkeit anregende Prozefs des Aufbaues aller Einzelheiten zu dem Ganzen mit immer wachsender Steigerung der ästhetischen Wirkung der künstlerischen Formgestaltung. Ist es nun aber dem Künstler gelungen , die künstlerische Gestaltung des Stoffes mit dieser Formgestaltung so innig zu verbinden, so eins werden zu lassen, dafs eines ohne das andere nicht da sein kann, dann mufs die Erkenntnis der künstlerischen Formgestaltung ein wesentliches Element für die künstlerische Gestaltung des Stoffes, für das Verständnis dessen, was man den Inhalt zu nennen pflegt, werden: thatsächlich sind aber Inhalt und Form so sehr eins geworden, dafs eines ohne das andere nicht gedacht werden kann. So ist es die unmittelbare Folge der genialen künstlerischen Gestaltung des Stoffes, die Goethe der Faustsage gegeben hat, dafs die Gliederung des auf Grund dieser Stoffgestaltung geschaffenen Kunstwerkes sich ganz natürlich und von selbst aus dem Wesen dieser Stoffgestaltung ergiebt, und zwar nicht nur in der Gliederung der Hauptmassen, sondern durch alle kleineren Gruppen hindurch bis zu den elementaren Formeinheiten hin. 

Die künstlerische Stoffgestaltung der Goethischen Faustdichtung setzt voraus, dafs Faust aus dem grüblerischen Sinnen in das thätige Leben geführt werde, und zwar , dafs dies durch Mephistopheles unter Zustimmung Gottes geschehe, dafs Mephistopheles dieser Aufgabe sich unterziehe, dafs er aber in ihrer Ausführung scheitere , und Faust zu Gott und damit zur Seligkeit gelange. Demgemäfs gliedert sich der künstlerische Aufbau in drei Hauptmassen: 1. die vorbereitende Handlung bis zum Bunde Fausts mit Mephistopheles ; 2. die Versuche des Mephistopheles. Die übernommene Aufgabe zu lösen, und das Scheitern seiner Bemühungen; 3. der Ausgang der Handlung nach dem Scheitern der Versuche des Mephistopheles. 

Die erste und die dritte dieser Gruppen gliedern sich wieder in je zwei Gruppen : Mephistopheles handelt nicht aus eigenem Antriebe, sondern er wird von Gott, der damit seinen eigenen Plan zur Ausführung bringen will, zur Annäherung an Faust angeregt; Faust selbst aber weifs von diesem Plane und dieser Mafsregel Gottes nichts : die Annäherung des Mephistopheles mufs also ihm gegenüber als eine in sich selbst begründete erscheinen. Demgemäfs gliedert sich die erste Hauptgruppe so : 

1. Die vorbereitende Handlung besteht 

a. aus einer Handlung im Himmel, die ohne Fausts Zuthun sich vollzieht und für sein Schicksal mafsgebend ist; 

b. aus einer Handlung auf der Erde, die von Faust selbst ausgeführt wird und für sein Schicksal mafsgebend ist. 

Demgegenüber mufs der Ausgang der Handlung zeigen , wie der Voraussicht und dem Plane Gottes gemäfs der Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges bewufst geworden ist und sich von der Zauberwelt befreit, und ferner, wie der Plan Gottes seine endliche Erfüllung findet. Daher gliedert sich die dritte Hauptgruppe in zwei Gruppen, die inhaltlich ebenso wie in der äusseren Folge den zwei Gruppen der ersten Hauptmasse genau entsprechen, und zwar in umgekehrter Aufeinanderfolge , so dafs eine streng symmetrische Folge sich ergiebt : 

2. Der Ausgang der Handlung besteht

a. aus einer Handlung auf Erden, die von Faust selbst ausgeführt wird und für sein Schicksal entscheidend ist; 

b. aus einer Handlung im Himmel, die ohne Fausts Zuthun ausgeführt wird und für sein Schicksal entscheidend ist. 

Aber auch die zweite Hauptmasse zeigt eine feinere Gliederung, deren Charakter sich nach dem Charakter der diesem mittleren Hauptteile zukommenden Aufgabe richtet. Diese Aufgabe besteht darin, dafs Mephistopheles versucht, sein keck gewagtes Unternehmen auszuführen. In der alten Sage hat sich Faust dem Teufel übergeben, um für den Preis der ewigen Höllenpein auf Erden jedes Genusses, den ihn seine Laune wünschen läfst, teilhaftig zu werden. In der Goethischen Faustdichtung ist die Erfüllung der Verschreibung des Faust an die Erfüllung einer Zusage des Mephistopheles gebunden : wird diese nicht erreicht, so wird die Verschreibung hinfällig. Die Zusage jedoch, die Mephistopheles gegeben hat und deren Erfüllung seine Aufgabe sein soll, besteht darin, Faust einen Zustand der Befriedigung zu verschaffen, der ihm den Wunsch nach bleibender Dauer dieses Zustandes erweckt. Faust selbst setzt in die Möglichkeit der Erfüllung dieses Ziels grofses Mifstrauen ; Mephistopheles aber hofft, sich der Seele Fausts, wenn es nicht anders sein kann, durch Erfüllung seiner Zusage, noch lieber aber durch Betrug zu bemächtigen. Dies kann ihm schwerlich schon bei dem ersten Versuche gelingen : er selbst rechnet vielmehr darauf, dafs er sein Opfer durch eine Reihe von Zuständen hindurchschleppen wolle, bis Faust, sei es durch Erlangung der ersehnten Befriedigung, sei es ohne Erfüllung seiner Zusage infolge der durch alle diese Zustände bewirkten Ermattung und Verzweiflung dennoch ihm zufalle. Damit ist durch die künstlerische Gestaltung des Stoffes naturgemäfs eine Reihenfolge von Versuchen gegeben, die Mephistopheles nach einem bestimmten Plane durchzuführen gedenkt : ob die Natur Fausts ihm das gestattet, ist freilich eine durchaus andre Frage. Hier- aus entwickelt sich eine Handlung zwischen Mephistopheles und Faust, in der Mephistopheles seinen Plan durchzuführen sucht, Faust aber, einzig und allein seiner guten Natur überlassen , ihr gemäfs diese Versuche auf sich einwirken läfst. Nur in diesem Wirken und Gegenwirken besteht die fortschreitende Handlung : alles, was sonst sich ereignet , ist nur Hilfsmittel , um den Zweck dieser fortschreitenden Handlung in einander ablösenden Versuchen zu erreichen , hat aber für den Fortgang der Handlung keine selbständige Bedeutung : es bleibt der Haupthandlung gegenüber Episode. 

Die moderne Bedeutung des Begriffes Episode hat sich allmählich dahin ausgestaltet , dafs unter Episode ein nicht berechtigtes Einschiebsel verstanden wird. Damit wird nur eine Seite der Episode gekennzeichnet: es giebt neben der unerlaubten Episode auch die berechtigte und damit durchaus erlaubte. Wir werden die Bezeichnung Episode dann an- wenden , wenn ein einzelner Teil der Gesamthandlung als ein besonderes Ganzes aus der Gesamtheit sich herausheben läfst. Wenn dieses kleine Ganze mit der übrigen Handlung nur in äufserlichem Zusammenhange steht, so dafs der Fortschritt der Handlung durch ihn unterbrochen und gehemmt wird , so erscheint die Episode als unberechtigte und damit als unerlaubte. Wenn dagegen dieses kleine Ganze zwar als ein besonderes Bild erscheint, aber in seiner Gesamtheit ein wichtiges Glied für den Fortgang der Handlung und ihr Verständnis ist, so dafs es ohne Schädigung für das Ganze nicht fortfallen kann, so ist die Episode eine künstlerisch durchaus berechtigte Form. Sie unterscheidet sich von der übrigen Gestaltung der künstlerischen Form nur dadurch, dafs die ihre Besonderheit bewirkenden Persönlichkeiten nicht wieder erscheinen und somit nicht als den Gesamtgang der Handlung führende und gestaltende Persönlichkeiten auftreten. In Lessings Minna von Barnhelm sind die Dame in Trauer und Riccault de la Marliniere solche episodische Persönlichkeiten, die Szenen, in denen sie auftreten, sind Episoden: beide Episoden sind aber vollauf berechtigte. Durch das Verfahren des Majors gegen die Witwe seines Freundes enthüllt uns der Dichter mit einem Schlage den Grundzug von Tellheims Charakter, ohne dessen Kenntnis das weitere Handeln Tellheims nicht zu verstehen wäre ; zugleich aber wird unser Herz für diesen Charakter so gewonnen, dafs wir auch die rauheren Seiten dieser edlen Seele leicht ertragen können. Ohne das Auftreten des Lieutenants Riccault aber wüfsten wir nicht , dafs das erlösende Handschreiben des Königs bereits unterwegs ist , und wir würden die Schürzung des Spieles , das Minna gegen Tellheim anzettelt, mit einer Besorgnis für den Ausgang gewahr werden , die zum Charakter des Lustspieles nicht pafst: nun wissen wir aber im voraus , dafs eine tragische Lösung des Knotens ausgeschlossen ist , und mit freiem Herzen können wir dem Spiele zuschauen. So gehören beide Szenen wesentlich und notwendig zum Gesamtfortschritt: im Gegensatze jedoch zu den übrigen Szenen lösen sie sich als besondere kleine Ganze von der sonstigen Handlung klar und deutlich ab, für die sie jedoch nicht zu missen sind. In dieser besonderen Stellung tragen sie vielmehr zur Belebung des Ganzen wesentlich bei : unter dem Schein , als ob sie nicht mehr als gefällig sich unterordnender und nur nebensächlich hinzutretender Schmuck wären , bilden sie thatsächlich einen Wesensbestandteil in dem Gesamtfortgange der Handlung. 

In diesem Sinn erscheint die Episode in der Goethischen Faustdichtung, nur mit der Besonderheit, dafs sie der Eigenart der künstlerischen Gestaltung des Stoffes gemäfs den Charakter einer notwendig eintretenden Form erhält und selbst nicht mehr den Schein, als künstlerischer Schmuck gelten zu wollen, annimmt: die Haupthandlung, die Bemühung des Mephistopheles, Faust zu gewinnen, und der Kampf der guten Natur des Faust, sich den eigenen Weg zu bahnen, kann überhaupt nur mit Hilfe der künstlerischen Form der Episode in die Erscheinung treten. Will Mephistopheles Faust Befriedigung gewähren und ihn durch Übertäubung seiner guten Natur für einen Augenblick dahin bringen , zu glauben , er hätte sie wirklich erreicht, oder will er ihn durch marternden Anreiz seiner Genufssucht und durch Versagung der vollen Gewährung zur Verzweiflung bringen, in jedem Falle bleibt dem Teufel kein andres Mittel übrig, als Faust in verschiedene Lagen des Lebens zu versetzen, wie er sie für seinen Zweck geeignet hält. Die Persönlichkeiten, die zur Herbeiführung einer solchen Lage notwendig sind, haben ihre Bedeutung darin, dafs sie dem Zwecke dienen, zu dem die besondere Lage geschaffen worden ist; sie treten jedoch nicht als gleichwertige Persönlichkeiten neben die Hauptpersonen hin, in denen allein der Fortgang der Handlung zum Ausdruck gelangt. Dagegen fördert jede Episode, als Ganzes genommen, den Gesamtfortgang der Handlung und bildet so einen notwendigen und wesentlichen Bestandteil der Dichtung. 

In dem künstlerischen Aufbau dieser Reihe von Episoden zeigt sich sofort wieder die den Stoff klar und sicher zur schönen Form gestaltende, jedes einzelne Glied in den Zusammenhang des Ganzen einordnende Hand des Künstlers. In der ersten Hälfte tritt Mephistopheles als der den Gang der Handlung bestimmende Führer hervor, und zwar mit dem Erfolge, dafs er sich dem ersehnten Ziele nähert: da, in der Mitte des Aufbaues, tritt ein ihm sehr unerwarteter und unwillkommener Umschwung ein , und in der zweiten Hälfte der Episoden ist es nun Faust, der sich von der Führung des Mephistopheles befreit und von Schritt zu Schritt immer entschiedener den eignen Weg geht: in demselben Mafse tritt Mephistopheles zurück und ist schliefslich nur noch das Mittel, das zur Ausführung zu bringen, was Faust als das für sein Streben Richtige erkannt hat.

Bei dem weltumspannenden Plane, den der Dichter durchführen mufs, wenn er sein Ziel erreichen will, ist es nun aber notwendig, dafs das Bewufstsein des ununterbrochenen Zusammenhanges aufs entschiedenste gewahrt werde : hierzu bedient sich der Dichter eines künstlerischen Mittels, dessen Erkennen zum Verständnisse des künstlerischen Aufbaues notwendig ist, zumal gerade bei seinem umfassenden Plan es nicht umgangen werden kann, dafs manches Seltsame, manches Überraschende zur Erscheinung kommt : sind wir doch durch die Wahl des Stoffes in die Berührung mit den überirdischen Gewalten gekommen, so dafs deren Wirken uns als etwas Selbstverständliches anmutet. Damit ist aber auch das gegeben, was man im alltäglichen Sinne des Wortes Wunder nennt, ein Durchbrechen der Naturgesetze durch das Eingreifen einer höheren Macht, die wir nicht gewöhnt sind, als einen regelmäfsig in solcher Weise mitwirkenden Faktor in Berechnung zu ziehen. Im Zusammenhang der Faustsage jedoch erscheint das Wunder als etwas durchaus Natürliches und Selbstverständliches , ohne das die Handlung überhaupt nicht zu denken ist. Immerhin bleiben wir Betrachter Menschen, und für solche hat das Wunder stets etwas Überraschendes. Für einen geringeren Dichter mag die Lust, durch Überraschungen zu wirken , etwas Verlockendes haben : der grofse Dichter verschmäht solche Kunststückchen. Er bereitet vor, und ist sich bewufst, dafs das Erscheinen des Angekündigten dennoch von solcher Bedeutung ist, dafs trotz der Vorbereitung dem thatsächlichen Erscheinen des Wunderbaren das Überwältigende der Wirkung keineswegs verloren geht.

Dieses Kunstmittel des sorgfältigen Vorbereitens verwendet nun der vorsichtige Dichter durch sein ganzes Werk hindurch : bis in die kleinsten Einzelheiten hinein hütet er sich , irgend einen Vorgang, irgend eine Lage, die etwas Überraschendes haben kann, auch dann, wenn sie nicht als Wunder gefafst werden mufs, ohne sorgfältige Vorbereitung einzuführen. Als feststehenden Grundsatz sehen wir dies nun aber beim Übergang von einer Episode zur anderen , und selbstverständlich auch beim Übergang von der vorbereitenden Handlung zur ersten Episode verwertet. Der Episode geht stets eine sie einleitende Vorbereitung als besondere Handlung voran. Hierin liegt zugleich das Mittel, den ununterbrochenen Faden in dem Fortgang der Haupthandlung sowohl sachlich festzuhalten, als auch ihn dem Miterleber stets wieder aufs neue fühlbar zu machen. 

Halten wir diese Gesichtspunkte fest, so gestaltet sich die Gliederung des dramatischen Aufbaues der Haupthandlung nun folgendermafsen: 

I. Erste Hälfte: Wachsender Einflufs des Mephistopheles.

 1. Das studentische Treiben. 

a. Vorbereitung: die Schülerszene; 
b. Episode: Auerbachs Keller. 

2. Das irdische Liebesleben. 

a. Vorbereitung: die Hexenküche; 
b. Episode : die Gretchentragödie. 

3. Lust an der Zauberkraft.

a. Vorbereitung : Läuterung durch die Elfen und Monolog; 
b. Episode: der Flammen- und der Geldzauber am Hofe des Kaisers.

II. Umschwung: Selbständiges Versprechen des Faust, dem Kaiser Paris und Helena zu zeigen. 

III. Zweite Hälfte : Wachsende Selbständigkeit Fausts und abnehmender Einflufs des Mephistopheles. 

4. Die Geistererscheinung. 

a. Vorbereitung: Der Gang zu den Müttern; 
b. Episode : Faust mit Paris und Helena am Hofe des Kaisers. 

5. Fausts Durchlebung der Vergangenheit. 

a. Vorbereitung : Homunkulus und die klassische Walpurgisnacht ; 
b. Episode: Das Helenadrama. 

6. Fausts Schaffung einer neuen Welt. 

a. Vorbereitung: Läuterung. Rettung des Kaisers und Belohnung Fausts; 
b. Episode : Das Neuland. 

Denken wir uns den so gegliederten Hauptteil von den beiden einleitenden und den beiden ausleitenden Gruppen umrahmt , so ergiebt sich ein künstlerischer Aufbau von feinster und sorgfältigst durchdachter Klarheit, das erste Element der schönen künstlerischen Form , der sich aber zugleich als das Ergebnis der künstlerischen Gestaltung des Stoffes darstellt: mit ihr ist er naturgemäfs erwachsen. Von dem Augenblick an, wo dem Dichter die künstlerische Gestaltung des Stoffes zu voller Klarheit und Durcharbeitung gekommen war, konnte über diese Grundgestaltung des künstlerischen Aufbaues kein Zweifel mehr sein. Wohl aber konnte der Dichter bei einzelnen Punkten noch lange schwanken , wie er die Einzelgestaltung durchführen sollte : über dieses Schwanken eröffnen uns die Paralipomena wertvollen Aufschlufs. Die Dichtung selbst aber, wie sie vorliegt, giebt uns das, was sich aus den zahlreichen Möglichkeiten der Einzelgestaltung schliefslich nach des Dichters Ermessen als das herausgearbeitet hat, was ihm den Fortgang der Handlung am klarsten darzustellen schien. Gerade diese sorgfältige Durcharbeitung zeigt uns aufs deutlichste, dafs dem Dichter unablässig die einheitliche Gestaltung seiner Dichtung, die Gestaltung seiner Dichtung als eines Kunstwerkes als höchstes Ziel vorgeschwebt hat. Die Klarheit des Aufbaues der künstlerischen Form und der in ihr erscheinende feste und sichere Schritt der Handlung nach einem von Anfang an deutlich vorgezeigten Ziele hin, ist ein Beweis, dafs ihm ebenso wie nach der Seite der künstlerischen Gestaltung des Stoffes hin, die Gestaltung der Grundzüge der künstlerischen Form gelungen ist. Es fragt sich nun: wie verhält sich die Einzeldurchführung dazu ? Ist es ihm auch in ihr gelungen , das hohe Ziel einer einheitlichen Dichtung zu erreichen ? Darauf soll die Betrachtung der künstlerischen Gestaltung der Einzeldurchführung die Antwort geben.
weiter

Goethe auf meiner Seite


Testamente, Reden, Persönlichkeiten

Inhalt

Keine Kommentare: