Als der jugendliche Dichter sich der künstlerischen
Gestaltung des Gegenstandes zuwendete, da waren es die Augenblicke tiefergreifender , das
Herz mächtig bewegender seelischer Erregung, die ihn
zuerst erfafsten , und die er auch zuerst gestaltete.
Naturgemäfs griff er dabei zu der dramatischen Form.
In dieser durch die praktische Aufführung auf der
Bühne entstandenen Form ist nicht toter Stoff, sondern
der lebendige Mensch selbst der Träger der bildlich dargestellten Personen und der an ihnen sich vollziehenden Handlungen. Damit hat diese Form vor
allen anderen Kunstformen den Vorteil lebendiger,
unmittelbarer und daher aufs tiefste ergreifender Wirkung voraus. Der Hörer und Beschauer wird durch
sie Miterleber der in ihr dargestellten Erlebnisse, die mit der vollen, ungebrochenen Kraft der zugleich in Raum und Zeit sich abspielenden Gegenwart den
gegenwärtigen Miterleber in ihren Zauberbann hineinziehen und mit sich fortreifsen. Eine solche Form
mufste für einen selbst aufs tiefste ergriffenen Dichter, der auch andre mit gleichem Reichtum und gleicher
Wonne der Empfindung erfüllen will , die selbstverständliche Form sein , zumal in einer Zeit , in der die trennenden Grenzen von dramatischer und epischer
Form zu verschwinden im Begriffe schienen und somit
ein Bedenken über die Wahl der Form kaum auf- kommen konnte. So hatte der junge Dichter schon die Lebensgeschichte seines Gottfried in dramatischer Form
geschaffen ; so griff er auch jetzt wieder ohne Zögern
und Bedenken zu dieser dankbaren und wirkungsvollen Form , deren Vorzüge leicht zu erkennen sind.
Allein die dramatische Form bietet auch Nachteile,
die dem Dichter für diese wirkungskräftige Form
Schranken auferlegen. Bei der berichtenden Form der
Darstellung von Erlebnissen äufserer und innerer Art
kann der Dichter durch Schilderung und Erläuterung
nachhelfen und dadurch manche Feinheit in der Entwicklung zur Darstellung bringen, die vor der fortreifsenden Kraft der flüchtigen , kein Verweilen
vergönnenden Gegenwart verschwinden mufs. Die in voller gegenwärtiger Erscheinung vor uns hintretenden
Personen müssen ferner ihre Handlungen und die Empfindungen, die aus den Handlungen sich ergeben,
mit Worten begleiten. Das geschieht nicht bei gleichgiltigen Erlebnissen : es können also nur Erlebnisse von kräftiger Wirkung zur Verwendung kommen, bei denen die Aussprache in Worten uns selbstverständlich
erscheint. Beide Umstände haben zur Folge, dafs
sich der Dichter auf bedeutend wirkende Augenblicke
beschränken mufs, die Sammelpunkte kraftvoller Thätigkeit oder tiefgehender Empfindung sind , so dafs in ihnen für den Fortgang des Ereignisses eine entscheidungfördernde Kraft hervortritt. Nimmt man
noch die die Ausdehnung beschränkende Gegenwart
des Miterlebers hinzu, so ergiebt sich aus allen diesen
Verhältnissen die Folgerung , dafs die dramatische
Form dem Dichter eine Beschränkung auf eine verhältnismäfsig geringe Reihe von Erlebnissen auferlegt, die zugleich solche von hervorragender Kraft zur Erweckung von teilnehmender Mitempfindung sein müssen.
Eine solche Beschränkung kann aber nicht jeder
Stoff erleiden : er kann es nur, wenn seine künstlerische
Gestaltung von vornherein einen Gegensatz geschaffen
hat, aus dem mit Notwendigkeit streitende Kräfte sich entwickeln , die ihre auseinandergehenden Ziele mit
Aufbietung vollster Leidenschaft zu erreichen suchen
und die daher naturgemäfs in jeden Augenblick ihres Hervortretens die ganze Wucht ihrer Persönlichkeit
zu legen entschlossen sind : so wird jedes Auftreten
nach irgend einer Seite hin entscheidungsvoll wirken
und mit der Energie erfüllt sein, die die nachempfindende
Seele des die Handlung als unsichtbarer Zeuge Miterlebenden in. mächtige Spannung zu versetzen vermag.
Schon in der älteren Fassung der Faustsage bietet sich ein solcher Gegensatz in Faust und dem Teufel:
in noch gröfserer Entschiedenheit tritt er aber in der
Goethischen Gestaltung der Faustsage in den Vordergrund. Gott und der Teufel, gute und böse Geister,
dann Faust und Mephistopheles bieten eine Fülle von
Gegensätzen , die , sobald sie ein gemeinschaftliches
Ziel sich stecken, eben dadurch zu noch entschiedenerem
Entgegenwirken gebracht werden , als es ihre an und
für sich feindlich gearteten Naturen schon von selbst veranlafsten : so ist nun aber dieses Entgegenwirken von beiden Seiten ein energisches , auf Entscheidung
hindrängendes , so dafs es an tief ergreifenden Einzelhandlungen nicht fehlen kann. Damit ist die erste Anforderung für ein der dramatischen Form sich be- dienendes Kunstwerk vorhanden. Wenn also Goethe
bei seiner Faustdichtung zu dieser Form griff, so hatte
er mit richtiger Empfindung die geeignetste Form für seinen Stoff gefunden. Sollte nun aber die richtig ergriffene Form auch richtig durchgeführt werden , so
durfte Goethe sich auch den aus der Wahl dieser Form sich ergebenden Folgen nicht entziehen. Bot
die Faustsage eine Fülle von mannigfaltigen und interessanten Ereignissen , so mufste der Dichter diese
Reihe nicht nur der Zahl nach beschränken, er mufste
sie auch zu einem Ganzen gestalten , er mufste zu diesem Zweck den Einzelereignissen ihre selbständige
Bedeutung entziehen und sie einem Hauptereignis
unterordnen, dem sie sich durch die Art ihrer Gestaltung anzupassen hatten : nur so können sie als ihm
dienend erkannt werden.
Eine solche Unterordnung ist jedoch nur zu erzielen, wenn die Gestaltung des künstlerischen Stoffes gleichsam von selbst zu einer Gliederung der Masse
hindrängt. Jede künstlerische Form setzt eine Gliederung voraus. Das, was sich zum Kunstwerk gestalten
will, besitzt eine Vielheit von Einzelheiten: die künstlerische Wirkung von Einzelheiten beruht aber darauf,
dafs sie durch Anordnung und Gestaltung unserem
Bestreben , eine Mehrheit von Einzelheiten als Einheit
aufzufassen, entgegenkommt. Erst wo dies eintritt, ist die elementarste Voraussetzung der künstlerischen
Wirkung vorhanden, soweit sie auf der Formgestaltung beruht : diese aber ist wiederum die Voraussetzung für jede das tiefere Empfindungsleben der Seele berührende Wirkung der künstlerischen Form. Der Weg
zu dieser elementarsten Wirkung der künstlerischen
Gestalt ist die Vereinigung einer kleineren Reihe von
Einzelheiten zu einer gemeinsamen, dem neugeschaffenen
Ganzen entspringenden Wirkung : in dieser gemeinsamen Wirkung liegt das Moment der einheitlichen Wirkung. Die künstlerische Form nun, die diese
einheitlich empfundene Wirkung hervorbringt, ist die aus einer Reihe gemeinsam wirkender Einzelheiten
entstehende Gruppe. Die Formeigenschaft aber, die uns solche Gruppen erkennen und als gemeinsam
wirkende Einzelheiten empfinden läfst , ist die Gliederung. So ist der Versfufs eine Gruppe von Silben,
der Vers eine Gruppe von Versfüfsen, die Strophe
eine Gruppe von Versen. Je einfacher und natürlicher
sich eine solche Gliederung aus den einzelnen Elementen der künstlerischen Form ergiebt, um so glücklicher
ist ihre Anlage, um so bedeutungsvoller erscheint
ihre Wirkung., um so geeigneter aber ist sie auch,
in den seelischen und den geistigen Gehalt des Kunstwerks durch die ihr eigene Klarheit der Gestaltung
einzuführen.
Stehen wir einem fertigen Kunstwerk gegenüber
und wollen seine künstlerische Gestaltung erkennen,
so mufs es, je künstlerischer seine Formgestaltung ist, um so leichter zunächst die Gliederung der grofsen
Masse durchschauen lassen: von da aus dringen wir, die einzelne Gruppe prüfend betrachtend , weiter zu der Gliederung der Hauptteile durch, bis wir zu immer
kleineren Gruppen und endlich zu den elementarsten Formeinzelheiten gelangen. Von hier aus vollzieht
sich nun an der Hand der bereits erkannten Gruppierung der in erster Linie die ästhetische Beanlagung
zu lebhaftester, lustvoll empfundener Thätigkeit anregende Prozefs des Aufbaues aller Einzelheiten zu dem Ganzen mit immer wachsender Steigerung der
ästhetischen Wirkung der künstlerischen Formgestaltung.
Ist es nun aber dem Künstler gelungen , die künstlerische Gestaltung des Stoffes mit dieser Formgestaltung so innig zu verbinden, so eins werden zu lassen, dafs eines ohne das andere nicht da sein kann, dann
mufs die Erkenntnis der künstlerischen Formgestaltung
ein wesentliches Element für die künstlerische Gestaltung des Stoffes, für das Verständnis dessen, was man
den Inhalt zu nennen pflegt, werden: thatsächlich
sind aber Inhalt und Form so sehr eins geworden,
dafs eines ohne das andere nicht gedacht werden kann.
So ist es die unmittelbare Folge der genialen künstlerischen Gestaltung des Stoffes, die Goethe der Faustsage gegeben hat, dafs die Gliederung des auf Grund
dieser Stoffgestaltung geschaffenen Kunstwerkes sich ganz natürlich und von selbst aus dem Wesen dieser Stoffgestaltung ergiebt, und zwar nicht nur in der
Gliederung der Hauptmassen, sondern durch alle kleineren Gruppen hindurch bis zu den elementaren
Formeinheiten hin.
Die künstlerische Stoffgestaltung der Goethischen
Faustdichtung setzt voraus, dafs Faust aus dem grüblerischen Sinnen in das thätige Leben geführt werde,
und zwar , dafs dies durch Mephistopheles unter Zustimmung Gottes geschehe, dafs Mephistopheles dieser Aufgabe sich unterziehe, dafs er aber in ihrer Ausführung scheitere , und Faust zu Gott und damit zur
Seligkeit gelange. Demgemäfs gliedert sich der künstlerische Aufbau in drei Hauptmassen: 1. die vorbereitende Handlung bis zum Bunde Fausts mit
Mephistopheles ; 2. die Versuche des Mephistopheles. Die übernommene Aufgabe zu lösen, und das Scheitern
seiner Bemühungen; 3. der Ausgang der Handlung
nach dem Scheitern der Versuche des Mephistopheles.
Die erste und die dritte dieser Gruppen gliedern
sich wieder in je zwei Gruppen : Mephistopheles handelt
nicht aus eigenem Antriebe, sondern er wird von Gott,
der damit seinen eigenen Plan zur Ausführung bringen
will, zur Annäherung an Faust angeregt; Faust selbst aber weifs von diesem Plane und dieser Mafsregel
Gottes nichts : die Annäherung des Mephistopheles
mufs also ihm gegenüber als eine in sich selbst begründete erscheinen. Demgemäfs gliedert sich die erste Hauptgruppe so
:
1. Die vorbereitende Handlung besteht
a. aus einer Handlung im Himmel, die ohne
Fausts Zuthun sich vollzieht und für sein Schicksal mafsgebend ist;
b. aus einer Handlung auf der Erde, die von
Faust selbst ausgeführt wird und für sein Schicksal mafsgebend ist.
Demgegenüber mufs der Ausgang der Handlung
zeigen , wie der Voraussicht und dem Plane Gottes
gemäfs der Mensch in seinem dunklen Drange sich des rechten Weges bewufst geworden ist und sich von
der Zauberwelt befreit, und ferner, wie der Plan Gottes
seine endliche Erfüllung findet. Daher gliedert sich die dritte Hauptgruppe in zwei Gruppen, die inhaltlich ebenso wie in der äusseren Folge den zwei Gruppen
der ersten Hauptmasse genau entsprechen, und zwar
in umgekehrter Aufeinanderfolge , so dafs eine streng
symmetrische Folge sich ergiebt
:
2. Der Ausgang der Handlung besteht
a. aus einer Handlung auf Erden, die von
Faust selbst ausgeführt wird und für sein Schicksal entscheidend ist;
b. aus einer Handlung im Himmel, die ohne
Fausts Zuthun ausgeführt wird und für sein Schicksal entscheidend ist.
Aber auch die zweite Hauptmasse zeigt eine
feinere Gliederung, deren Charakter sich nach dem
Charakter der diesem mittleren Hauptteile zukommenden Aufgabe richtet. Diese Aufgabe besteht darin, dafs Mephistopheles versucht, sein keck gewagtes Unternehmen auszuführen. In der alten Sage hat sich Faust
dem Teufel übergeben, um für den Preis der ewigen
Höllenpein auf Erden jedes Genusses, den ihn seine Laune wünschen läfst, teilhaftig zu werden. In der
Goethischen Faustdichtung ist die Erfüllung der Verschreibung des Faust an die Erfüllung einer Zusage
des Mephistopheles gebunden : wird diese nicht erreicht, so wird die Verschreibung hinfällig. Die Zusage jedoch,
die Mephistopheles gegeben hat und deren Erfüllung
seine Aufgabe sein soll, besteht darin, Faust einen
Zustand der Befriedigung zu verschaffen, der ihm den
Wunsch nach bleibender Dauer dieses Zustandes erweckt. Faust selbst setzt in die Möglichkeit der Erfüllung dieses Ziels grofses Mifstrauen ; Mephistopheles
aber hofft, sich der Seele Fausts, wenn es nicht anders
sein kann, durch Erfüllung seiner Zusage, noch lieber aber durch Betrug zu bemächtigen. Dies kann ihm
schwerlich schon bei dem ersten Versuche gelingen
:
er selbst rechnet vielmehr darauf, dafs er sein Opfer
durch eine Reihe von Zuständen hindurchschleppen
wolle, bis Faust, sei es durch Erlangung der ersehnten
Befriedigung, sei es ohne Erfüllung seiner Zusage infolge der durch alle diese Zustände bewirkten Ermattung und Verzweiflung dennoch ihm zufalle. Damit
ist durch die künstlerische Gestaltung des Stoffes naturgemäfs eine Reihenfolge von Versuchen gegeben,
die Mephistopheles nach einem bestimmten Plane
durchzuführen gedenkt : ob die Natur Fausts ihm das
gestattet, ist freilich eine durchaus andre Frage. Hier- aus entwickelt sich eine Handlung zwischen Mephistopheles und Faust, in der Mephistopheles seinen Plan
durchzuführen sucht, Faust aber, einzig und allein seiner guten Natur überlassen , ihr gemäfs diese Versuche auf sich einwirken läfst. Nur in diesem Wirken
und Gegenwirken besteht die fortschreitende Handlung
:
alles, was sonst sich ereignet , ist nur Hilfsmittel , um
den Zweck dieser fortschreitenden Handlung in einander
ablösenden Versuchen zu erreichen , hat aber für den
Fortgang der Handlung keine selbständige Bedeutung
:
es bleibt der Haupthandlung gegenüber Episode.
Die moderne Bedeutung des Begriffes Episode hat
sich allmählich dahin ausgestaltet , dafs unter Episode
ein nicht berechtigtes Einschiebsel verstanden wird. Damit wird nur eine Seite der Episode gekennzeichnet:
es giebt neben der unerlaubten Episode auch die berechtigte und damit durchaus erlaubte. Wir werden die Bezeichnung Episode dann an- wenden , wenn ein einzelner Teil der Gesamthandlung als ein besonderes Ganzes aus der Gesamtheit sich herausheben läfst. Wenn dieses kleine Ganze mit der
übrigen Handlung nur in äufserlichem Zusammenhange
steht, so dafs der Fortschritt der Handlung durch ihn unterbrochen und gehemmt wird , so erscheint die Episode als unberechtigte und damit als unerlaubte. Wenn dagegen dieses kleine Ganze zwar als ein besonderes Bild erscheint, aber in seiner Gesamtheit ein wichtiges Glied für den Fortgang der Handlung und
ihr Verständnis ist, so dafs es ohne Schädigung für das Ganze nicht fortfallen kann, so ist die Episode
eine künstlerisch durchaus berechtigte Form. Sie
unterscheidet sich von der übrigen Gestaltung der künstlerischen Form nur dadurch, dafs die ihre Besonderheit
bewirkenden Persönlichkeiten nicht wieder erscheinen
und somit nicht als den Gesamtgang der Handlung führende und gestaltende Persönlichkeiten auftreten. In Lessings Minna von Barnhelm sind die Dame in Trauer und Riccault de la Marliniere solche
episodische Persönlichkeiten, die Szenen, in denen sie auftreten, sind Episoden: beide Episoden sind aber
vollauf berechtigte. Durch das Verfahren des Majors
gegen die Witwe seines Freundes enthüllt uns der
Dichter mit einem Schlage den Grundzug von Tellheims Charakter, ohne dessen Kenntnis das weitere
Handeln Tellheims nicht zu verstehen wäre ; zugleich
aber wird unser Herz für diesen Charakter so gewonnen,
dafs wir auch die rauheren Seiten dieser edlen Seele
leicht ertragen können. Ohne das Auftreten des Lieutenants Riccault aber wüfsten wir nicht , dafs das erlösende Handschreiben des Königs bereits unterwegs
ist , und wir würden die Schürzung des Spieles , das Minna gegen Tellheim anzettelt, mit einer Besorgnis
für den Ausgang gewahr werden , die zum Charakter
des Lustspieles nicht pafst: nun wissen wir aber im
voraus , dafs eine tragische Lösung des Knotens ausgeschlossen ist , und mit freiem Herzen können wir
dem Spiele zuschauen. So gehören beide Szenen
wesentlich und notwendig zum Gesamtfortschritt: im
Gegensatze jedoch zu den übrigen Szenen lösen sie sich als besondere kleine Ganze von der sonstigen
Handlung klar und deutlich ab, für die sie jedoch
nicht zu missen sind. In dieser besonderen Stellung
tragen sie vielmehr zur Belebung des Ganzen wesentlich bei : unter dem Schein , als ob sie nicht mehr als gefällig sich unterordnender und nur nebensächlich
hinzutretender Schmuck wären , bilden sie thatsächlich
einen Wesensbestandteil in dem Gesamtfortgange der
Handlung.
In diesem Sinn erscheint die Episode in der
Goethischen Faustdichtung, nur mit der Besonderheit,
dafs sie der Eigenart der künstlerischen Gestaltung
des Stoffes gemäfs den Charakter einer notwendig
eintretenden Form erhält und selbst nicht mehr den
Schein, als künstlerischer Schmuck gelten zu wollen,
annimmt: die Haupthandlung, die Bemühung des
Mephistopheles, Faust zu gewinnen, und der Kampf
der guten Natur des Faust, sich den eigenen Weg zu bahnen, kann überhaupt nur mit Hilfe der künstlerischen
Form der Episode in die Erscheinung treten. Will
Mephistopheles Faust Befriedigung gewähren und ihn durch Übertäubung seiner guten Natur für einen Augenblick dahin bringen , zu glauben , er hätte sie wirklich
erreicht, oder will er ihn durch marternden Anreiz seiner Genufssucht und durch Versagung der vollen Gewährung zur Verzweiflung bringen, in jedem Falle
bleibt dem Teufel kein andres Mittel übrig, als Faust
in verschiedene Lagen des Lebens zu versetzen, wie er
sie für seinen Zweck geeignet hält. Die Persönlichkeiten, die zur Herbeiführung einer solchen Lage notwendig sind, haben ihre Bedeutung darin, dafs sie dem
Zwecke dienen, zu dem die besondere Lage geschaffen
worden ist; sie treten jedoch nicht als gleichwertige
Persönlichkeiten neben die Hauptpersonen hin, in denen
allein der Fortgang der Handlung zum Ausdruck gelangt. Dagegen fördert jede Episode, als Ganzes genommen, den Gesamtfortgang der Handlung und bildet so einen notwendigen und wesentlichen Bestandteil
der Dichtung.
In dem künstlerischen Aufbau dieser Reihe von
Episoden zeigt sich sofort wieder die den Stoff klar und sicher zur schönen Form gestaltende, jedes einzelne
Glied in den Zusammenhang des Ganzen einordnende
Hand des Künstlers. In der ersten Hälfte tritt Mephistopheles als der den Gang der Handlung bestimmende Führer hervor, und zwar mit dem Erfolge,
dafs er sich dem ersehnten Ziele nähert: da, in der
Mitte des Aufbaues, tritt ein ihm sehr unerwarteter und unwillkommener Umschwung ein , und in der
zweiten Hälfte der Episoden ist es nun Faust, der sich von der Führung des Mephistopheles befreit und von
Schritt zu Schritt immer entschiedener den eignen
Weg geht: in demselben Mafse tritt Mephistopheles
zurück und ist schliefslich nur noch das Mittel, das
zur Ausführung zu bringen, was Faust als das für sein Streben Richtige erkannt hat.
Bei dem weltumspannenden Plane, den der Dichter
durchführen mufs, wenn er sein Ziel erreichen will,
ist es nun aber notwendig, dafs das Bewufstsein des
ununterbrochenen Zusammenhanges aufs entschiedenste
gewahrt werde : hierzu bedient sich der Dichter eines künstlerischen Mittels, dessen Erkennen zum Verständnisse des künstlerischen Aufbaues notwendig ist, zumal
gerade bei seinem umfassenden Plan es nicht umgangen werden kann, dafs manches Seltsame, manches
Überraschende zur Erscheinung kommt : sind wir doch
durch die Wahl des Stoffes in die Berührung mit den
überirdischen Gewalten gekommen, so dafs deren
Wirken uns als etwas Selbstverständliches anmutet. Damit ist aber auch das gegeben, was man im alltäglichen Sinne des Wortes Wunder nennt, ein Durchbrechen der Naturgesetze durch das Eingreifen einer höheren Macht, die wir nicht gewöhnt sind, als einen
regelmäfsig in solcher Weise mitwirkenden Faktor in Berechnung zu ziehen. Im Zusammenhang der Faustsage jedoch erscheint das Wunder als etwas durchaus
Natürliches und Selbstverständliches , ohne das die Handlung überhaupt nicht zu denken ist. Immerhin
bleiben wir Betrachter Menschen, und für solche hat
das Wunder stets etwas Überraschendes. Für einen
geringeren Dichter mag die Lust, durch Überraschungen
zu wirken , etwas Verlockendes haben : der grofse
Dichter verschmäht solche Kunststückchen. Er bereitet vor, und ist sich bewufst, dafs das Erscheinen
des Angekündigten dennoch von solcher Bedeutung
ist, dafs trotz der Vorbereitung dem thatsächlichen
Erscheinen des Wunderbaren das Überwältigende der
Wirkung keineswegs verloren geht.
Dieses Kunstmittel des sorgfältigen Vorbereitens
verwendet nun der vorsichtige Dichter durch sein ganzes Werk hindurch : bis in die kleinsten Einzelheiten hinein hütet er sich , irgend einen Vorgang,
irgend eine Lage, die etwas Überraschendes haben
kann, auch dann, wenn sie nicht als Wunder gefafst
werden mufs, ohne sorgfältige Vorbereitung einzuführen.
Als feststehenden Grundsatz sehen wir dies nun aber
beim Übergang von einer Episode zur anderen , und
selbstverständlich auch beim Übergang von der vorbereitenden Handlung zur ersten Episode verwertet. Der Episode geht stets eine sie einleitende Vorbereitung als besondere Handlung voran. Hierin liegt zugleich das Mittel, den ununterbrochenen Faden in dem
Fortgang der Haupthandlung sowohl sachlich festzuhalten, als auch ihn dem Miterleber stets wieder aufs neue fühlbar zu machen.
Halten wir diese Gesichtspunkte fest, so gestaltet
sich die Gliederung des dramatischen Aufbaues der
Haupthandlung nun folgendermafsen:
I. Erste Hälfte: Wachsender Einflufs des Mephistopheles.
1. Das studentische Treiben.
a. Vorbereitung: die Schülerszene;
b. Episode: Auerbachs Keller.
2. Das irdische Liebesleben.
a. Vorbereitung: die Hexenküche;
b. Episode : die Gretchentragödie.
3. Lust an der Zauberkraft.
a. Vorbereitung : Läuterung durch die Elfen
und Monolog;
b. Episode: der Flammen- und der Geldzauber am Hofe des Kaisers.
II. Umschwung: Selbständiges Versprechen des
Faust, dem Kaiser Paris und Helena zu zeigen.
III. Zweite Hälfte : Wachsende Selbständigkeit Fausts
und abnehmender Einflufs des Mephistopheles.
4. Die Geistererscheinung.
a. Vorbereitung: Der Gang zu den Müttern;
b. Episode : Faust mit Paris und Helena am
Hofe des Kaisers.
5. Fausts Durchlebung der Vergangenheit.
a. Vorbereitung : Homunkulus und die klassische Walpurgisnacht
;
b. Episode: Das Helenadrama.
6. Fausts Schaffung einer neuen Welt.
a. Vorbereitung: Läuterung. Rettung des
Kaisers und Belohnung Fausts;
b. Episode : Das Neuland.
Denken wir uns den so gegliederten Hauptteil von
den beiden einleitenden und den beiden ausleitenden
Gruppen umrahmt , so ergiebt sich ein künstlerischer
Aufbau von feinster und sorgfältigst durchdachter
Klarheit, das erste Element der schönen künstlerischen
Form , der sich aber zugleich als das Ergebnis der
künstlerischen Gestaltung des Stoffes darstellt: mit ihr
ist er naturgemäfs erwachsen. Von dem Augenblick
an, wo dem Dichter die künstlerische Gestaltung des
Stoffes zu voller Klarheit und Durcharbeitung gekommen war, konnte über diese Grundgestaltung des
künstlerischen Aufbaues kein Zweifel mehr sein. Wohl
aber konnte der Dichter bei einzelnen Punkten noch
lange schwanken , wie er die Einzelgestaltung durchführen sollte : über dieses Schwanken eröffnen uns die Paralipomena wertvollen Aufschlufs. Die Dichtung selbst aber, wie sie vorliegt, giebt uns das, was sich aus den zahlreichen Möglichkeiten der Einzelgestaltung
schliefslich nach des Dichters Ermessen als das herausgearbeitet hat, was ihm den Fortgang der Handlung
am klarsten darzustellen schien. Gerade diese sorgfältige Durcharbeitung zeigt uns aufs deutlichste, dafs dem Dichter unablässig die einheitliche Gestaltung
seiner Dichtung, die Gestaltung seiner Dichtung als eines Kunstwerkes als höchstes Ziel vorgeschwebt hat. Die Klarheit des Aufbaues der künstlerischen Form
und der in ihr erscheinende feste und sichere Schritt der Handlung nach einem von Anfang an deutlich
vorgezeigten Ziele hin, ist ein Beweis, dafs ihm ebenso
wie nach der Seite der künstlerischen Gestaltung des
Stoffes hin, die Gestaltung der Grundzüge der künstlerischen Form gelungen ist. Es fragt sich nun: wie
verhält sich die Einzeldurchführung dazu ? Ist es ihm
auch in ihr gelungen , das hohe Ziel einer einheitlichen Dichtung zu erreichen ? Darauf soll die Betrachtung der künstlerischen Gestaltung der Einzeldurchführung die Antwort geben.
weiter
Goethe auf meiner Seite
Testamente, Reden, Persönlichkeiten
Inhalt
weiter
Goethe auf meiner Seite
Testamente, Reden, Persönlichkeiten
Inhalt
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