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2019-12-11

Veit Valentin: I. Erste Hälfte. Wachsender Einflufs des Mephistopheles. (7)

Veit Valentin: Goethes Faustdichtung in ihrer künstlerischen Einheit



VI. Der dramatische Aufbau.

B. Die Haupthandlung.
I. Erste Hälfte. Wachsender Ein flufs des Mephistopheles.

Episode 1.

Das studentische Treiben. V. 1868—2336.

a. Vorbereitung: Die Schülerszene. V. 186S —2050.
b. Episode: Auerbachs Keller. V. 2073—2336.


Der Hauptteil hat die Aufgabe,, den Kampf des Mephistopheles um den Besitz der Seele Fausts darzustellen, sowie das Ringen des Faust, kraft dessen seine gute Natur sich von Mephistopheles durch Auffinden des rechten Weges befreit. Der Kampf des Mephistopheles vollzieht sich mit vollem Bewufstsein dessen, was er thut: Mephistopheles bemüht sich, solche Zustände für Faust herbeizuführen, von denen er glaubt hoffen zu dürfen, dafs sie ihn seinem Ziele näher bringen. Das Ringen des Faust vollzieht sich unbewufst : es äufsert sich in der Art, wie er den von Mephistopheles geschaffenen oder mit seiner Hilfe herbeigeführten Zustand auf sich wirken läfst und wie seine Natur die Versuche zurückweist, bis er endlich den eigenen Weg zu finden vermag. Die einzelnen Versuche stellen sich dramatisch als besondere Teile dar, die unter sich nur den allgemeinen Zusammenhang haben, dafs der in dem einen Teil erreichte oder nicht erreichte Zweck des Mephistopheles Faust nach einer bestimmten Richtung" hin weitergebracht hat. Diese Weiterführung in der Auffassungsweise des Faust wird in ihrer Gesamtwirkung die Grundlage für den im nächsten Teil zu machenden neuen Versuch : ein kausaler Zusammenhang der in den einzelnen Teilen aufser Faust und Mephistopheles auftretenden Personen und der von ihnen ausgeführten einzelnen Handlungen existiert dagegen nicht. Die Sonderhandlungen dieser einzelnen Teile sind daher episodischer Natur, und jede Episode bildet inbezug auf die in ihr vor sich gehenden Einzelhandlungen ein kleines Ganzes für sich, ein Drama für sich, das daher inbezug auf seinen dramatischen Aufbau innerhalb seiner Grenze zu beträchten ist, während der dramatische Gang der Gesamthandlung ausschliefslich an die Personen des Faust und des Mephistopheles sich anknüpft. 

Jede dieser Episoden wird durch eine vorbereitende Handlung eingeleitet : diese Vorbereitung erfüllt dramaturgisch die doppelte Aufgabe, an die bis zu diesem Punkte fortgeführte Handlung anzuknüpfen, und indem sie diese als fertig und abgethan erscheinen läfst, einen Übergang zu dem neuen Schritte der Haupthandlung, zu dem Inhalte der nächsten Episode zu finden. Vielleicht am schwersten gestaltet sich diese Aufgabe zu Anfang dieses neuen Abschnittes der Gesamthandlung: hier war der Übergang von dem bisherigen Leben Fausts zu seinem Leben mit Mephistopheles zu finden, der Übergang von dem engen Leben des Gelehrten, der in sein Museum gebannt ist, zu dem nach Auffassung und Wunsch des Mephistopheles in der Welt nach Willkür herumnaschenden freien Genufsmenschen , dem zugleich durch seine Verbindung mit überirdischer Kraft das Wunder zur Alltäglichkeit werden soll. Es ist in hohem Grade bemerkenswert, wie es der Dichter verstanden hat, eine Szene des Urfaust, die dort unvermittelt steht und als Ausbruch ironischer Stimmung mit teilweise recht banalen Spöttereien erscheint, durch meisterhafte Umgestaltung zu befähigen, in den Gesamtzusammenhang zu treten und aus einem müfsigen Zeitvertreib ein bedeutungsvolles Glied des künstlerischen Ganzen zu werden, wie es sich wenigstens für den ersten Teil schon 1790 gestaltet hatte. 

Der Abschied von Fausts bisherigem Leben kann gar nicht wirkungsvoller als durch rücksichtslose Verspottung alles dessen charakterisiert werden, was er bisher ernst betrieben hatte. Aber wenn auch Faust daran verzweifelt, dafs ihn sein Studium, in dem er Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie mit heifsem Bemühen, ohne für sein höchstes Streben Erfolg zu erringen, betrieben hatte, irgendwie fördern könnte, so ist er dennoch jetzt, wo sein Leben eine solche bedeutungsvolle Wendung nimmt, durchaus nicht in der überlegenen ruhigen Stimmung, wie sie die Voraussetzung einer souveränen Geringschätzung und ironisierenden Verspottung ist. So ist er nicht der Mann, dies Spotturteil über seine bisher so ernst betriebenen Studien abzugeben : um so geeigneter ist Mephistopheles dazu, der eben darüber jubelt, dafs Faust Vernunft und Wissenschaft verachtet. Da mufs ihm die Gelegenheit, ein junges, gläubig zutrauensvolles Gemüt zu vergiften, ganz besonders willkommen sein: mit dem vollen Behagen, das ein eben errungener Sieg gewährt, giebt er sich dieser seiner so durchaus würdigen Aufgabe hin. So dient das Herbeikommen des Schülers zunächst dazu , Faust zum letzten entscheidenden Schritt zu drängen : er kann in seiner gegenwärtigen Stimmung den Schüler nicht sehen : indem Mephistopheles an seine Stelle tritt , gewinnt Faust durch das Gespräch des Mephistopheles mit dem Schüler Zeit, sich zur schönen Fahrt bereit zu machen. Sodann wird durch dieses Gespräch, das Mephistopheles im Namen Fausts führt, mit dem bisherigen Dasein Fausts endgiltig gebrochen : die vier Fakultäten, die Faust gründlich durchforscht hat, werden von dem Pseudo-Faust schonungslos verspottet. Endlich aber bereitet die Hänselei, die Mephistopheles hier an dem grünen Jungen ausführt, auf die bedeutendere Szene vor, durch die er Faust in das Leben der kleinen Welt einführt, auf die Fopperei, die er an den bemoosten Häuptern der Studentenschaft ausübt wir bleiben noch in derselben Sphäre, nur wird diese erweitert, und was in der Schülerszene ein persönlicher Spafs des Mephistopheles, ein natürlicher Ausbruch seiner teuflischen Natur war, wird in Auerbachs Keller zum ersten wohlberechneten Versuch, Faust zu unterhalten und ihm durch Behagen die ersehnte Befriedigung zu verschaffen. Technisch zeugt es von ganz besonderem Geschick, dafs Goethe diese vorbereitende Szene in unmittelbarsten Zusammenhang mit der eben zum Abschlufs gekommenen Handlung setzt : so werden die Glieder des grofsen Ganzen fest und sicher zusammengewoben. 

Vergleicht man die Führung der Szene, wie sie seit 1790 vorliegt, mit der ersten Fassung im Urfaust, so ist der mafsgebende Unterschied der, dafs in der älteren Fassung der Schüler von Anfang an schon über den Eintritt in eine bestimmte Fakultät klar ist: »Soll zwar ein Mediziner werden« (V. 335): damit ist die Erkundigung nach den anderen Fakultäten ausgeschlossen. Nur die Beschäftigung mit der allumfassenden Philosophie kann ihm der Professor anraten, weil der Schüler den Wunsch hinzufügt: Doch wünscht ich rings von aller Erden, Von allem Himmel und all Natur, Soviel mein Geist vermögt, zu fassen« (V. 336—338). In der jetzigen Fassung ist der Schüler noch ganz unentschlossen, welchem besonderen Studium er sich zuwenden soll : so ist die Durchnahme der einzelnen Fakultäten selbstverständlich. Auf des Mephistopheles Frage: »Was wählt Ihr für eine Fakultät?« antwortet er jetzt mit der dem strebsamen Fuchs eigentümlichen und natürlichen Überschwänglichkeit , er wolle lieber keine einzelne Fakultät wählen : sein Streben geht auf die Gesamterfassung alles Lernbaren : »Ich wünschte recht gelehrt zu werden Und möchte gern, was auf der Erden Und in dem Himmel ist, erfassen, Die Wissenschaft und die Natur.« So ergiebt sich das Eingehen auf die Philosophie von selbst, nicht minder aber auch die Notwendigkeit für Mephistopheles, zum zweiten Male nach der Fakultät zu fragen : diese zweite Frage entspringt durchaus sachlich dem durch die veränderte Voraussetzung notwendig gewordenen Gange des Gesprächs. Nachdem Juristerei und Theologie geschildert sind, kommt endlich auch die Medizin an die Reihe, dem noch unentschlossenen und ungeklärten Wunsche des Schülers entsprechend. So macht das Gespräch nicht mehr den Eindruck, als ob es ausschliefslich um des Spottes willen herbeigeführt wäre: der Besuch des Schülers hat eine sachliche Berechtigung in sich selbst gewonnen, woneben sodann weiter der Gewinn für den Gesamtzusammenhang und für die Vorbereitung der ersten Episode hergeht. 

Den Übergang von der Vorbereitung zur Episode selbst bildet das kurze Zwiegespräch zwischen Faust und Mephistopheles, nachdem der Schüler weggegangen ist und Faust sich zur schönen Fahrt bereit gemacht hat. Es dient dazu, dem Mephistopheles seinen Plan dem Faust mitzuteilen, soweit er für diesen bestimmt ist. Unter dem Scheine der Unterwürfigkeit — auf die Frage »Wohin soll es nun gehen ?« antwortet er : »Wohin es dir gefällt« — führt er Faust dahin, wohin es ihm selbst gefällt: er fängt bei der kleinen Welt an, um, wenn diese versagt, zu der grofsen Welt überzugehen, wie es dann auch thatsächlich geschieht. Indem Faust dem Mephistopheles folgt, tritt er in die Wunderwelt ein, und auch das wird praktisch, indem das Fortkommen durch den Zaubermantel bewirkt wird : Mephistopheles erfüllt, soweit es in seiner Natur liegt, buchstäblich den Wunsch Fausts, auf dessen Aussprechen hin er ihm zuerst erschienen ist: »Ja, wäre nur ein Zaubermantel mein« (V. 1122). So ist der neue Abschnitt scharf markiert, ohne dafs das künstlerische Ganze, das keine wirkliche Trennung zuläfst, zerfiele : es ist vielmehr durch kunstvoll sorgsame Verschränkung der Handlung der engste Zusammenhang, der bedachteste Fortschritt gewahrt.

Der erste Versuch, Faust Befriedigung zu verschaffen, zeigt recht deutlich, wie sehr Mephistopheles Faust verkennt: dieses banale Treiben der alten Studenten, der Saufbrüder, deren höchste Lust es ist, sich kannibalisch wohl zu fühlen, kann Faust nur widerwärtig anmuten. Während Mephistopheles sich höchst behaglich fühlt, wenn die Bestialität sich gar herrlich offenbart, und dafür besorgt ist, dafs dieser Eindruck Faust nicht verloren geht, bringt Faust während der ganzen Begegnung aufser dem Grufse nur noch das eine Wort über die Lippe: »Ich hätte Lust nun abzufahren«. Mephistopheles hat Faust nach sich beurteilt und macht sofort die Erfahrung, dafs er sich gründlich geirrt hat und einem anderen Versuche sich zuwenden mufs. 

In dem Urfaust verläuft die Begegnung ganz anders: hier ist es Faust selbst, der die Studenten hänselt, der die Zauberei mit dem Weine macht, der die erzürnten Gesellen in den Weinberg versetzt. Faust ist also hier schon selbst Zauberer geworden und hat sein Behagen daran, Schabernack zu spielen. Dieser Faust der alten Erzählung ist jedoch nicht der neue Goethische Faust : so mufs die im Sinne der alten Sage gedichtete Szene gänzlich umgestaltet werden. War sie früher ein Beispiel von Fausts Zauberkünsten, die beliebig durch ein anderes Beispiel hätte ersetzt werden können, so mufs sie jetzt als dienendes Glied sich einem künstlerischen Ganzen unterordnen. Dies geschieht nicht nur durch die Umgestaltung der Prosaszene in die Versform, sondern weit mehr dadurch, dafs Faust seiner Entwickelunggemäfs sich hier so zeigt, wie er es dem Zusammenhange nach allein kann. Ihm fehlt für eine solche Begegnung zunächst die äufsere Gewandtheit und damit die erste Bedingung, sich hier behaglich zu fühlen. Der Dichter bringt uns das vorbereitend zum Bewufstsein, indem er Faust in der kurzen Übergangsszene sagen läfst, dafs ihm die leichte Lebensart fehlt : »ich werde stets verlegen sein«. Es fehlt ihm aber noch weit mehr die Stimmung, an solchen Dingen überhaupt Gefallen zu finden : sie stehen in schroffem, unlösbarem Gegensatze zu seinem hohen Streben, das er über solcher Lebensgebahrung nicht vergessen kann. Dieser Faust geht nicht von einem Schabernack zum anderen, von einem Zaubervergnügen zu einem neuen, so dafs sich die Form, aber nicht die Sache ändert : der Goethische Faust macht, während Mephistopheles wähnt, ihn von einem betäubenden Vergnügen zum andern zu schleppen, einen inneren Prozefs durch, von dessen Fortgang, Bedeutung und Wert Mephistopheles keine Ahnung hat. Das Einzige, was Mephistopheles erkennt, ist dies : er sieht, dafs dieser erste Versuch zu harmlos war, dafs er Faust einer tiefer gehenden Wirkung aussetzen mufs. Dieser Versuch kann. Faust weder befriedigen, noch zur Verzweiflung treiben : nach beiden Richtungen hin war er ungeeignet, und Mephistopheles
Rechnung ergab sich als falsch. Um so sicherer glaubt er auf den Erfolg des nächsten Versuches rechnen zu dürfen.

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