B. Die Haupthandlung.
I. Erste Hälfte. Wachsender Ein flufs des Mephistopheles.
Episode 1.
Das studentische Treiben.
V. 1868—2336.
a. Vorbereitung: Die Schülerszene. V. 186S —2050.
b. Episode: Auerbachs Keller. V. 2073—2336.
Der Hauptteil hat die Aufgabe,, den Kampf des
Mephistopheles um den Besitz der Seele Fausts darzustellen, sowie das Ringen des Faust, kraft dessen seine gute Natur sich von Mephistopheles durch
Auffinden des rechten Weges befreit. Der Kampf des
Mephistopheles vollzieht sich mit vollem Bewufstsein
dessen, was er thut: Mephistopheles bemüht sich, solche
Zustände für Faust herbeizuführen, von denen er glaubt
hoffen zu dürfen, dafs sie ihn seinem Ziele näher bringen.
Das Ringen des Faust vollzieht sich unbewufst : es
äufsert sich in der Art, wie er den von Mephistopheles geschaffenen oder mit seiner Hilfe herbeigeführten Zustand auf sich wirken läfst und wie seine Natur die Versuche zurückweist, bis er endlich den eigenen Weg
zu finden vermag. Die einzelnen Versuche stellen sich dramatisch als besondere Teile dar, die unter sich nur den allgemeinen Zusammenhang haben, dafs der in dem
einen Teil erreichte oder nicht erreichte Zweck des
Mephistopheles Faust nach einer bestimmten Richtung"
hin weitergebracht hat. Diese Weiterführung in der
Auffassungsweise des Faust wird in ihrer Gesamtwirkung
die Grundlage für den im nächsten Teil zu machenden
neuen Versuch : ein kausaler Zusammenhang der in den
einzelnen Teilen aufser Faust und Mephistopheles auftretenden Personen und der von ihnen ausgeführten
einzelnen Handlungen existiert dagegen nicht. Die
Sonderhandlungen dieser einzelnen Teile sind daher
episodischer Natur, und jede Episode bildet inbezug
auf die in ihr vor sich gehenden Einzelhandlungen ein kleines Ganzes für sich, ein Drama für sich, das daher
inbezug auf seinen dramatischen Aufbau innerhalb seiner Grenze zu beträchten ist, während der dramatische Gang
der Gesamthandlung ausschliefslich an die Personen des
Faust und des Mephistopheles sich anknüpft.
Jede dieser Episoden wird durch eine vorbereitende
Handlung eingeleitet : diese Vorbereitung erfüllt dramaturgisch die doppelte Aufgabe, an die bis zu diesem
Punkte fortgeführte Handlung anzuknüpfen, und indem
sie diese als fertig und abgethan erscheinen läfst, einen
Übergang zu dem neuen Schritte der Haupthandlung,
zu dem Inhalte der nächsten Episode zu finden. Vielleicht am schwersten gestaltet sich diese Aufgabe zu Anfang dieses neuen Abschnittes der Gesamthandlung: hier war der Übergang von dem bisherigen
Leben Fausts zu seinem Leben mit Mephistopheles zu
finden, der Übergang von dem engen Leben des Gelehrten, der in sein Museum gebannt ist, zu dem nach
Auffassung und Wunsch des Mephistopheles in der
Welt nach Willkür herumnaschenden freien Genufsmenschen , dem zugleich durch seine Verbindung mit
überirdischer Kraft das Wunder zur Alltäglichkeit werden
soll. Es ist in hohem Grade bemerkenswert, wie es der
Dichter verstanden hat, eine Szene des Urfaust, die dort
unvermittelt steht und als Ausbruch ironischer Stimmung
mit teilweise recht banalen Spöttereien erscheint, durch
meisterhafte Umgestaltung zu befähigen, in den Gesamtzusammenhang zu treten und aus einem müfsigen Zeitvertreib ein bedeutungsvolles Glied des künstlerischen
Ganzen zu werden, wie es sich wenigstens für den ersten
Teil schon 1790 gestaltet hatte.
Der Abschied von Fausts bisherigem Leben kann
gar nicht wirkungsvoller als durch rücksichtslose Verspottung alles dessen charakterisiert werden, was er bisher ernst betrieben hatte. Aber wenn auch Faust
daran verzweifelt, dafs ihn sein Studium, in dem er Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch
Theologie mit heifsem Bemühen, ohne für sein höchstes
Streben Erfolg zu erringen, betrieben hatte, irgendwie
fördern könnte, so ist er dennoch jetzt, wo sein Leben
eine solche bedeutungsvolle Wendung nimmt, durchaus
nicht in der überlegenen ruhigen Stimmung, wie sie die Voraussetzung einer souveränen Geringschätzung und
ironisierenden Verspottung ist. So ist er nicht der Mann,
dies Spotturteil über seine bisher so ernst betriebenen
Studien abzugeben : um so geeigneter ist Mephistopheles dazu, der eben darüber jubelt, dafs Faust Vernunft
und Wissenschaft verachtet. Da mufs ihm die Gelegenheit, ein junges, gläubig zutrauensvolles Gemüt zu vergiften, ganz besonders willkommen sein: mit dem vollen Behagen, das ein eben errungener Sieg gewährt, giebt
er sich dieser seiner so durchaus würdigen Aufgabe hin. So dient das Herbeikommen des Schülers zunächst
dazu , Faust zum letzten entscheidenden Schritt zu drängen : er kann in seiner gegenwärtigen Stimmung
den Schüler nicht sehen : indem Mephistopheles an seine
Stelle tritt , gewinnt Faust durch das Gespräch des
Mephistopheles mit dem Schüler Zeit, sich zur schönen
Fahrt bereit zu machen. Sodann wird durch dieses Gespräch, das Mephistopheles im Namen Fausts führt,
mit dem bisherigen Dasein Fausts endgiltig gebrochen
:
die vier Fakultäten, die Faust gründlich durchforscht
hat, werden von dem Pseudo-Faust schonungslos verspottet. Endlich aber bereitet die Hänselei, die Mephistopheles hier an dem grünen Jungen ausführt, auf die bedeutendere Szene vor, durch die er Faust in das
Leben der kleinen Welt einführt, auf die Fopperei, die er an den bemoosten Häuptern der Studentenschaft ausübt wir bleiben noch in derselben Sphäre, nur wird
diese erweitert, und was in der Schülerszene ein persönlicher Spafs des Mephistopheles, ein natürlicher Ausbruch seiner teuflischen Natur war, wird in Auerbachs
Keller zum ersten wohlberechneten Versuch, Faust zu
unterhalten und ihm durch Behagen die ersehnte Befriedigung zu verschaffen. Technisch zeugt es von ganz
besonderem Geschick, dafs Goethe diese vorbereitende
Szene in unmittelbarsten Zusammenhang mit der eben zum Abschlufs gekommenen Handlung setzt : so werden die Glieder des grofsen Ganzen fest und sicher zusammengewoben.
Vergleicht man die Führung der Szene, wie sie
seit 1790 vorliegt, mit der ersten Fassung im Urfaust, so ist der mafsgebende Unterschied der, dafs in der
älteren Fassung der Schüler von Anfang an schon über
den Eintritt in eine bestimmte Fakultät klar ist: »Soll zwar ein Mediziner werden« (V. 335): damit ist die Erkundigung nach den anderen Fakultäten ausgeschlossen.
Nur die Beschäftigung mit der allumfassenden Philosophie
kann ihm der Professor anraten, weil der Schüler den
Wunsch hinzufügt: Doch wünscht ich rings von aller Erden, Von allem Himmel und all Natur, Soviel mein
Geist vermögt, zu fassen« (V. 336—338). In der jetzigen
Fassung ist der Schüler noch ganz unentschlossen,
welchem besonderen Studium er sich zuwenden soll
:
so ist die Durchnahme der einzelnen Fakultäten selbstverständlich. Auf des Mephistopheles Frage: »Was
wählt Ihr für eine Fakultät?« antwortet er jetzt mit der
dem strebsamen Fuchs eigentümlichen und natürlichen
Überschwänglichkeit , er wolle lieber keine einzelne
Fakultät wählen : sein Streben geht auf die Gesamterfassung alles Lernbaren : »Ich wünschte recht gelehrt zu werden Und möchte gern, was auf der Erden Und
in dem Himmel ist, erfassen, Die Wissenschaft und die Natur.« So ergiebt sich das Eingehen auf die Philosophie von selbst, nicht minder aber auch die Notwendigkeit
für Mephistopheles, zum zweiten Male nach der Fakultät
zu fragen : diese zweite Frage entspringt durchaus sachlich dem durch die veränderte Voraussetzung notwendig
gewordenen Gange des Gesprächs. Nachdem Juristerei und Theologie geschildert sind, kommt endlich auch die Medizin an die Reihe, dem noch unentschlossenen
und ungeklärten Wunsche des Schülers entsprechend.
So macht das Gespräch nicht mehr den Eindruck, als ob es ausschliefslich um des Spottes willen herbeigeführt
wäre: der Besuch des Schülers hat eine sachliche Berechtigung in sich selbst gewonnen, woneben sodann
weiter der Gewinn für den Gesamtzusammenhang und
für die Vorbereitung der ersten Episode hergeht.
Den Übergang von der Vorbereitung zur Episode
selbst bildet das kurze Zwiegespräch zwischen Faust
und Mephistopheles, nachdem der Schüler weggegangen
ist und Faust sich zur schönen Fahrt bereit gemacht
hat. Es dient dazu, dem Mephistopheles seinen Plan
dem Faust mitzuteilen, soweit er für diesen bestimmt
ist. Unter dem Scheine der Unterwürfigkeit — auf die Frage »Wohin soll es nun gehen ?« antwortet er : »Wohin
es dir gefällt« — führt er Faust dahin, wohin es ihm
selbst gefällt: er fängt bei der kleinen Welt an, um, wenn diese versagt, zu der grofsen Welt überzugehen,
wie es dann auch thatsächlich geschieht. Indem Faust
dem Mephistopheles folgt, tritt er in die Wunderwelt
ein, und auch das wird praktisch, indem das Fortkommen
durch den Zaubermantel bewirkt wird : Mephistopheles
erfüllt, soweit es in seiner Natur liegt, buchstäblich den
Wunsch Fausts, auf dessen Aussprechen hin er ihm
zuerst erschienen ist: »Ja, wäre nur ein Zaubermantel
mein« (V. 1122). So ist der neue Abschnitt scharf
markiert, ohne dafs das künstlerische Ganze, das keine
wirkliche Trennung zuläfst, zerfiele : es ist vielmehr
durch kunstvoll sorgsame Verschränkung der Handlung
der engste Zusammenhang, der bedachteste Fortschritt
gewahrt.
Der erste Versuch, Faust Befriedigung zu verschaffen, zeigt recht deutlich, wie sehr Mephistopheles
Faust verkennt: dieses banale Treiben der alten Studenten,
der Saufbrüder, deren höchste Lust es ist, sich kannibalisch
wohl zu fühlen, kann Faust nur widerwärtig anmuten.
Während Mephistopheles sich höchst behaglich fühlt, wenn die Bestialität sich gar herrlich offenbart, und
dafür besorgt ist, dafs dieser Eindruck Faust nicht verloren geht, bringt Faust während der ganzen Begegnung
aufser dem Grufse nur noch das eine Wort über die Lippe: »Ich hätte Lust nun abzufahren«. Mephistopheles
hat Faust nach sich beurteilt und macht sofort die Erfahrung, dafs er sich gründlich geirrt hat und einem
anderen Versuche sich zuwenden mufs.
In dem Urfaust verläuft die Begegnung ganz anders:
hier ist es Faust selbst, der die Studenten hänselt, der
die Zauberei mit dem Weine macht, der die erzürnten
Gesellen in den Weinberg versetzt. Faust ist also hier schon selbst Zauberer geworden und hat sein Behagen
daran, Schabernack zu spielen. Dieser Faust der alten Erzählung ist jedoch nicht der neue Goethische Faust
:
so mufs die im Sinne der alten Sage gedichtete Szene
gänzlich umgestaltet werden. War sie früher ein Beispiel von Fausts Zauberkünsten, die beliebig durch ein anderes
Beispiel hätte ersetzt werden können, so mufs sie jetzt
als dienendes Glied sich einem künstlerischen Ganzen
unterordnen. Dies geschieht nicht nur durch die Umgestaltung der Prosaszene in die Versform, sondern
weit mehr dadurch, dafs Faust seiner Entwickelunggemäfs
sich hier so zeigt, wie er es dem Zusammenhange nach
allein kann. Ihm fehlt für eine solche Begegnung zunächst die äufsere Gewandtheit und damit die erste Bedingung, sich hier behaglich zu fühlen. Der Dichter
bringt uns das vorbereitend zum Bewufstsein, indem er Faust in der kurzen Übergangsszene sagen läfst, dafs ihm die leichte Lebensart fehlt : »ich werde stets verlegen sein«. Es fehlt ihm aber noch weit mehr die Stimmung, an solchen Dingen überhaupt Gefallen zu
finden : sie stehen in schroffem, unlösbarem Gegensatze
zu seinem hohen Streben, das er über solcher Lebensgebahrung nicht vergessen kann. Dieser Faust geht
nicht von einem Schabernack zum anderen, von einem
Zaubervergnügen zu einem neuen, so dafs sich die Form,
aber nicht die Sache ändert : der Goethische Faust
macht, während Mephistopheles wähnt, ihn von einem
betäubenden Vergnügen zum andern zu schleppen, einen
inneren Prozefs durch, von dessen Fortgang, Bedeutung
und Wert Mephistopheles keine Ahnung hat. Das
Einzige, was Mephistopheles erkennt, ist dies : er sieht, dafs dieser erste Versuch zu harmlos war, dafs er Faust
einer tiefer gehenden Wirkung aussetzen mufs. Dieser
Versuch kann. Faust weder befriedigen, noch zur Verzweiflung treiben : nach beiden Richtungen hin war er ungeeignet, und Mephistopheles
Rechnung ergab sich
als falsch. Um so sicherer glaubt er auf den Erfolg
des nächsten Versuches rechnen zu dürfen.
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