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2019-12-05

Wilhelm Bode: Goethes Lebenskunst: 12. Kämpfe. (15)



12. Kämpfe.

„Wenn ich einen langen Weg vor mir hingehe und der Arm an meiner Seite schlenkert, greif' ich manchmal zu, als wenn ich einen Wurfspieß fassen wollte. Ich schleudre ihn, ich weiß nicht auf wen, ich weiß nicht auf was. Dann kommt ein Pfeil gegen mich geflogen und durchbohrt mir das Herz; ich schlage mit der Hand auf die Brust und fühle eine unaussprechliche Süßigkeit und kurz darauf bin ich wieder in meinem natürlichen Zustande. Woher kommt mir die Erscheinung?“ So schreibt der junge Goethe in den „Briefen aus der Schweiz“; der alte Dichter aber schildert uns, wie er Einlaß ins Paradies verlangt, obwohl er nicht die Narben und Wunden der Kriegshelden vorweisen kann: 

„Nicht so vieles Federlesen! 
Laß mich immer nur herein: 
Denn ich bin ein Mensch gewesen, 
Und das heißt ein Kämpfer sein.“ 

Wir denken leicht, daß Goethe den eigentlichen Kampf ums Dasein, der vielen von uns so sauer wird, doch nicht selbst erlebt habe. Ererbter Wohlstand und angeborenes großes Talent schützten ihn vor tausend Sorgen und Mühen, die anderen beschieden sind. Aber die schwersten Fragen blieben auch für ihn übrig, die höchsten Hindernisse trennen auch den Begünstigten noch von dauerndem Glück. Es bleibt namentlich der Kampf mit dem Leben selbst. Jeder denkende Mensch wird vor das Rätsel gestellt: Was soll das alles? Wozu leben wir? Weshalb ertragen wir alle die Leiden, sehen wir all' das Elend an? Ist es nicht klüger, solch ein unsinniges, an Qualen reiches, an Freuden armes Dasein aufzugeben? Man verweist uns allerdings auf den allweisen und allgütigen Vater im Himmel, aber wir vermögen nicht einzusehen, warum der Allmächtige nicht eine gerechtere, freundlichere Welt mit besseren, glücklicheren Menschen geschaffen. Wir möchten uns wie Prometheus gegen Gott empören: „Ich dich ehren? Wofür? Hast du die Schmerzen gelindert je des Beladenen? Hast du die Thränen gestillet je des Geängsteten?“ Und wir nehmen mit dem Teufel Partei gegen Gott: „Von Stern' und Welten weiß ich nichts zu sagen, ich sehe nur, wie sich die Menschen plagen ... Die Menschen dauern mich in ihren Jammertagen!“ 

Aber auch als Feinde und Ankläger der Gottheit kommen wir nicht zur Ruhe; wir haben nur ein Rätsel mehr: wie kann der Schöpfer dieser wunderbaren, unergründlichen Welt es mit uns Menschen böse meinen? Wir sind ja auch viel zu klein und zu vergänglich, um uns über die höchsten Mächte als Tadler oder Richter erheben zu dürfen. „Was unterscheidet Götter von Menschen? Daß viele Wellen vor jenen wandeln, ein ewiger Strom: Uns hebt die Welle, verschlingt die Welle, und wir versinken.“ 

Doch unsere Aufmerksamkeit wird von diesen Lebensfragen durch das bunte Leben selbst abgelenkt; wir gewöhnen uns daran, sie zu ignorieren. So kann man wieder eine geraume Zeit leidlich existieren. Da trifft uns ein schwerer Schicksalsschlag, oder der Tod eines Nahestehenden mahnt uns an das Dunkle des Lebens, oder wir geraten sonstwie in eine körperlich-geistige trübe Stimmung. Da sind die plagenden Fragen alle wieder da. 

Auch Goethe kannte des Rätsels Lösung nicht. Wir wissen, daß er mehr als einmal des Lebens überdrüssig war, nahe daran, es wegzuwerfen. Im Frühjahr 1816, als Zelters Sohn sich entleibt hatte, kam ihm zufällig auch die erste Ausgabe seines „Werther“ wieder in die Hände, und dieses längst verschollene Lied fing wieder an zu klingen. „Da begreift man denn nun nicht, wie es ein Mensch noch vierzig Jahre in einer Welt hat aushalten können, die ihm in früher Jugend schon so absurd vorkam.  Ein Teil des Rätsels löst sich dadurch, daß Jedermann Eigenes in sich hat, das er auszubilden gedenkt, indem er es immer fortwirken läßt. Dieses wunderliche Wesen hat uns nun tagtäglich zum besten, und so wird man alt, ohne daß man weiß, wie oder warum. Beseh ich es recht genau, so ist es ganz allein das Talent, das in mir steckt, was mir durch alle die Zustände durchhilft, die mir nicht gemäß sind.“ 

Wir leben um unserer Persönlichkeit willen; der Leib und sein Leben sind Werkzeuge einer Individualität, die zu etwas Höherem sich emporbilden muß. Glaubt man nun an eine Fortsetzung des uns bekannten irdischen Daseins, und Goethe glaubte daran, so erscheint der Selbstmord als unsinnig, denn die Bildungsarbeit, die jetzt nicht abgeschlossen wird, muß in einem neuen Dasein wieder angefangen werden. Und ferner tröstet uns bei solchem Glauben die Hoffnung, daß unser Leiden und Arbeiten nicht umsonst war: um so vollkommener wird unsere Persönlichkeit in das neue Dasein eintreten. Dann wird uns die Gottheit manches Dunkel aufhellen, das uns hier mit Grauen erfüllte. Goethe glaubte nicht an dieselbe Fortdauer für alle Menschen, sondern daß wir später ähnlich sein werden wie hier, also sehr ungleich untereinander. Als Wieland gestorben war, äußerte er,  vom Untergang solcher hohen Seelenkräfte könne unter keinen Umständen die Rede sein, so verschwenderisch behandle die Natur ihre Kapitalien nie. „Ich wünsche sehr — so fuhr er etwa fort — daß ich einst diesem Wieland als einer Weltmonade, als einem Stern erster Größe, nach Jahrtausenden wieder begegnen möchte und Zeuge davon wäre, wie er mit seinem lieblichen Lichte alles, was ihm irgendwie nahekäme, erquickte und aufheiterte. Für die besten Geister erhoffe ich, daß sie an den Freuden der Götter als selig mitschaffende Kräfte teilnehmen werden. Der Mensch ist das erste Gespräch, das die Natur mit Gott hält.“ Im Frühjahr 1827 mußte Freund Zeller den Tod seines letzten Sohnes melden; da antwortete Goethe:  „Wirken wir fort, bis wir vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Thätigkeiten, denen analog, in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten, was wir hier schon gewollt und geleistet, väterlich hinzu, so würden wir gewiß nur desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen. Die entelechische Monade muß sich nur in rastloser Tätigkeit erhalten; wird ihr diese zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen.“

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Dieselbe Arbeit, deren wir zu unserer Bildung und somit zur Erfüllung unserer vermutlichen Lebensaufgabe bedürfen, ist zugleich das beste Mittel, um über schwere Erlebnisse hinwegzukommen. „Es scheint, als wenn das Schicksal die Überzeugung habe, man sei nicht aus Nerven, Venen, Arterien und anderen daher abgeleiteten Organen, sondern aus Draht zusammengeflochten,“  aber wir können dieses Schicksal einigermaßen ignorieren. Als auf die Schlacht von Jena und die Plünderung Weimars bald auch der Tod der Herzogin Mutter folgte, sagte Goethe sich selber: „Man darf, wie gegenwärtig überhaupt, über nichts, also auch darüber nicht weiter nachdenken. Man muß von einem Tage zum andern leben und eben thun und leisten, was noch möglich ist.“  Und ebenso spricht er zwanzig Jahre später dem liebsten Freunde seine Freude aus, weil auch er nach einem schmerzlichsten Verluste ruhig von geistigen Arbeiten redet. Nach jedem Verluste müssen wir sofort umschauen, „was uns zu erhalten und zu leisten übrig bleibt. Wie oft haben wir in solchen Fällen mit neuer Hast unsere Tätigkeit erprobt, uns dadurch zerstreut und allem Tröstlichen Eingang gewonnen!“  So hielt Goethe es immer, nie gab er sich der Trauer hin; war jemand gestorben, so sprach er davon nicht oder höchstens in Umschreibungen. „Das Außenbleiben meines Sohnes,“ so schreibt er an Zelter, als August an der Pyramide des Cestius begraben war, „das Außenbleiben meines Sohnes drückte mich, auf mehr als eine Weise, sehr heftig und widerwärtig; ich griff daher zu einer Arbeit, die mich ganz absorbieren sollte. Der vierte Band „meines Lebens“ lag, über zehn Jahre, in Schematen und teilweiser Ausführung, ruhig aufbewahrt, ohne daß ich gewagt hätte, die Arbeit wieder vorzunehmen. Nun griff ich sie mit Gewalt an und es gelang soweit, daß der Band gedruckt werden könnte ... Plötzlich riß ein Gefäß in der Lunge und der Blutauswurf war so stark, daß, wäre nicht gleich und kunstgemäße Hilfe zu erhalten gewesen, hier wohl die ultima linea rerum sich würde hingezogen haben.“  Das war das goethische Paradigma: Schicksalsschlag — krampfhafte Arbeit — Erkrankung — Genesung — neues Leben. 

Er hat es schon 1795 gegen Schiller ausgesprochen, als jener Freund ihn bei dem Verluste eines Söhnchens trösten wollte. „Man weiß in solchen Fällen nicht, ob man besser thut, sich dem Schmerz natürlich zu überlassen, oder sich durch die Beihilfen, die uns die Kultur anbietet, zusammenzunehmen. Entschließt man sich zu dem letzten, wie ich es immer thue, so ist man dadurch nur für einen Augenblick gebessert, und ich habe bemerkt, daß die Natur durch andre Krisen immer wieder ihr Recht behauptet.“

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Haben wir uns mit dem Leben an sich ausgesöhnt, so müssen wir noch ein Verhältnis zu dem Zeitalter finden, in das unsere Individualität zufällig verschlagen ist. Mittelmäßige Geister sind mit ihrer Zeit gewöhnlich zufrieden, aber während Wagner sich bläht: wie wir's so herrlich weit gebracht, fühlt Faust die Nichtigkeit aller dieser neuen Eroberungen. Goethe hat als Jüngling mit „Götz“ und „Werther“ seinen Zeitgenossen gegeben, was Viele begehrten, aber bald wurde es sein Schicksal, in großen und bewußten Gegensatz zu seiner Zeit zu geraten und dort abseits zu stehen, wo er bei zeitgemäßer Gesinnung der erwünschteste Führer gewesen wäre. Er sah die große Revolution kommen, ehe andere davon hören wollten; als sie da war und viele der Besten in Deutschland den Anbruch der neuen Zeit jubelnd begrüßten, da konnte er diesen Optimismus nicht teilen. Als dann der Haß gegen Napoleon zum herrschenden Gefühl der gebildeten deutschen Männer wurde, konnte er nicht mit hassen, weil Haß überhaupt seine Sache nicht war und weil er in Napoleon nicht nur eine wunderbare geniale Kraft, sondern auch den starken und aufgeklärten Wiederhersteller der Ordnung, dem auch Deutschland viel verdankte, erblicken mußte. Die Andern schwärmten von dem Zeitalter der Freiheit und Gerechtigkeit, das Deutschland beglücken werde, wenn nur erst die Franzosen vertrieben seien. Solchen Träumen einer schönen Zukunft und solcher Überschätzung der Deutschen konnte er sich nicht hingeben. Später hoffte man eine große Beglückung der Völker von Verfassungen, vom parlamentarischen System, von Preßfreiheit und dergleichen. Und wiederum fehlte ihm der Glaube. In der zwölften Stunde seines Lebens traten schließlich noch die Sozialisten auf die Bühne, aber auch ihre Heilsbotschaft nahm er nicht an. „An der Spitze dieser Sekte stehen sehr gescheite Leute, sie kennen die Mängel unserer Zeit sehr genau und verstehen auch, das Wünschenswerte vorzutragen; wie sie sich aber anmaßen wollen, das Unwesen zu beseitigen und das Wünschenswerte zu befördern, so hinkt sie (die Religion Simonienne) überall. Die Narren bilden sich ein, die Vorsehung verständig spielen zu wollen, und versichern, jeder solle nach seinem Verdienst belohnt werden, wenn er sich mit Leib und Seele, Haut und Haar, an sie anschließt und sich mit ihnen vereinigt. Welcher Mensch, welche Gesellschaft dürfte dergleichen aussprechen! — — Solche allgemeine Unverschämtheiten haben wir gar oft schon erlebt; sie kehren immer zurück und müssen geduldet werden.“ 

Ebenso wenig konnte er sich dem Glauben hingeben, daß durch die großen Erfindungen und Entdeckungen, die äußerlich die Welt umzugestalten begannen, erheblich mehr Zufriedenheit oder edlere Bildung der Menschheit beschert werden müßten. In einem Briefe an Zeller schildert er am 6. Juni 1825 dieses neunzehnte Jahrhundert: Junge Leute werden viel zu früh aufgeregt und dann im Zeitstrudel fortgerissen. Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle möglichen Fazilitäten der Kommunikation sind es, worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren ... Eigentlich ist es das Jahrhundert für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind. Laß uns so viel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir heran kamen!“ 

Auch auf den eigensten Gebieten Goethes: Litteratur, bildende Kunst, Naturwissenschaften war er nicht recht im Einklang mit seiner Zeit. Namentlich diejenigen naturwissenschaftlichen Lehren, auf deren Entdeckung er mit dem größten Stolze blickte, wurden von den Vertretern des Faches kalt abgelehnt. Wohl hatte er auf allen Arbeitsgebieten einige begeisterte Anhänger, aber nirgends ging eine Schule, eine Partei von ihm aus. Man beugte sich vor dem verehrungswürdigen großen Manne, aber man folgte ihm nicht.

In diese Vereinsamung fand sich Goethe, indem er, was auch sonst seiner Natur gemäß war, aus seiner Zeit in die Ewigkeit flüchtete, oder richtiger: auf die Warte der Jahrhunderte, von der man Altertum, Mittelalter, Neuzeit und Zukunft übersieht. „Und so wäre es wohl das Beste, sich nicht zu bekümmern, was andre thun, sondern immerfort zu suchen, wie weit man es selbst bringen kann. — — Ich habe gar manche hübsche Fäden fortzuspinnen, zu haspeln und zu zwirnen, die mir niemand abreißen kann.“  „Wenn man der Nachwelt etwas Brauchbares hinterlassen will, so müssen es Konfessionen sein; man muß sich als Individuum hinstellen, wie man's denkt, wie man's meint, und die Folgenden mögen sich heraussuchen, was ihnen gemäß ist und was im Allgemeinen gültig sein mag. Dergleichen blieb uns viel von unsern Vorfahren.“  „Wie es die Welt jetzt treibt, muß man sich immerfort sagen und wiederholen: daß es tüchtige Menschen gegeben hat und geben wird, und solchen muß man ein schriftliches gutes Wort gönnen und auf dem Papier hinterlassen. Mit den Lippen mag ich nur selten ein wahres, grundgemeintes Wort aussprechen; gewöhnlich hören die Menschen etwas anderes, als was ich sage, und das mag denn auch gut sein.“ 

So wandte er auch seine Teilnahme allen ihm bekannten Werken aus den verschiedensten Jahrhunderten zu, während andere immer nach dem Neuesten fragen. Seine Sammlungen zeigten das deutlich jedem, der sein Haus betrat, und wir wissen, wie viel Liebe er den Dichtern der Vergangenheit: Molière, Shakespeare, Calderon und besonders den Griechen zuwandte. Bald machte er sich im alten germanischen Norden heimisch, bald in Arabien, dann unter Neugriechen oder Serben, dann unter Chinesen u. s. w. Wenn ihn vielleicht einer der Neuesten entthront zu haben glaubte, achtete er gar nicht darauf und steckte vielleicht tief in den persischen Dichtern. „Die Perser — so sprach er dann zu einem Hausfreunde — hatten in fünf Jahrhunderten nur sieben Dichter, die sie gelten ließen, und unter den verworfenen waren mehrere Kanaillen, die besser als ich waren.“ 

Seinen geologischen Studien dankte er es, daß er noch mehr über die Jahrtausende zu blicken sich gewohnte. Es scheint, daß namentlich auf Bergeshöhen auch sein geistiges Auge den weiten Ausschau liebte. So stand er einmal mit Eckermann am Abhange des Ettersberges und blickte auf die Siedelungen und Hügel in der Nähe und die blauen Berge in der Ferne.  Der Gefährte brachte ihm Muscheln und zerbrochene Ammonshörner vom Straßenrande. „Immer die alte Geschichte!“ sagte Goethe, „immer der alte Meeresboden! Wenn man von dieser Höhe auf Weimar hinabblickt und auf die mancherlei Dörfer umher, so kommt es einem vor wie ein Wunder, wenn man sich sagt, daß es eine Zeit gegeben, wo in dem weiten Thale dort unten die Walfische ihr Spiel getrieben. Und doch ist es so, wenigstens höchstwahrscheinlich. Die Möve aber, die damals über dem Meere flog, das diesen Berg bedeckte, hat sicher nicht daran gedacht, daß wir beide heute hier fahren würden. Und wer weiß, ob nach vielen Jahrtausenden die Möve nicht abermals über diesen Berg fliegt.“ Auch als er an seinem letzten Geburtstage auf dem Kickelhahn war, glitten seine Gedanken von seiner Lebenszeit auch bald über zu den großen Zeitspannen der Erdgeschichte. Zuerst dachte er an die in jugendlichem Wagemut im nahen Ilmenau begonnenen Bergwerksbauten, die später aufgegeben werden mußten. „Nach so vielen Jahren war denn zu übersehen: das Dauernde, das Verschwundene. Das Gelungene trat vor und erheiterte, das Mißlungene war vergessen und verschmerzt. Die Menschen lebten alle nach wie vor, ihrer Art gemäß, vom Köhler bis zum Porzellanfabrikanten. Eisen ward geschmolzen, Braunstein aus den Klüften gefördert, wenn auch in dem Augenblick nicht so gesucht wie sonst. Pech ward gesotten, der Ruß aufgefangen, die Rußbüttchen künstlichst und kümmerlichst verfertigt. Steinkohlen mit unglaublicher Mühe zu Tage gebracht, kolossale Urstämme in der Grube unter dem Arbeiten entdeckt; und so ging's denn weiter, vom alten Granit, durch die angrenzenden Epochen, wobei immer neue Probleme sich entwickeln.“ 

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Ein Mann wie Goethe würde in jeder Zeit Neider und Gegner gehabt haben, aber er war groß genug, über sie hinwegzublicken. Als Wolfgang Menzel an ihm zum Helden zu werden begehrte, las Goethe seine Angriffe gar nicht, sondern meinte: „Von allem, was gegen mich geschieht, keine Notiz zu nehmen, wird mir im Alter wie in der Jugend erlaubt sein. Ich habe Breite genug, mich in der Welt zu bewegen, und es darf mich nicht kümmern, ob sich irgendeiner da oder dort in den Weg stellt, den ich einmal gegangen bin.“  Allerdings hat auch er in seinem langen Leben öfters in einem frisch-fröhlichen Kampfe mit zeitgenössischen Schriftstellern und Gelehrten die Waffen gekreuzt, aber in Summa hat er doch nur einen sehr kleinen Teil seiner Zeit und Kraft darauf verwandt. Er kannte ja den Nationalfehler der Deutschen, daß sie alles besser wissen wollen, daß sie ein Nichtwissen nur sehr ungern eingestehn, und mit den deutschen Gelehrten hatte er im Besonderen seine Erfahrungen gemacht. „Die lieben Deutschen kenne ich schon,“ sagte er im Zorn 1816 zu Riemer, „erst schweigen sie, dann mäkeln sie, dann beseitigen sie, dann bestehlen und verschweigen sie.“ Und 1807 äußerte er sich gegen den Staatsmann C. F. v. Reinhard: „Aus Erfahrung weiß ich sehr wohl, daß ein Gelehrter das, was er einmal hat drucken lassen, nicht leicht zurücknimmt, sondern wenn er ja eines besseren überzeugt wird, seine Meinung nach und nach verschwinden läßt und ebenso nach und nach das Rechte unterschiebt, wodurch denn die Welt gewissermaßen nicht gebessert wird, weil eine gewisse Indifferenz von Wahrheit und Irrtum auf diesem Wege entstehen muß.“ 

Schlug er doch einmal auf einen Gelehrten los, so hütete er sich, die Fehde ins Unendliche zu spinnen. „Adelungen würde meo voto nicht geantwortet,“ rät er dem Redaktor der Jenaischen Litteraturzeitung.  „Wenn man jemand so tüchtig durchdrischt, so ist es billig, daß man ihn Gesichter schneiden lasse, soviel er will. Durch Dupliken wird nichts ausgerichtet vor dem Publikum; es ist schon eine Art defensiver Stellung, die niemals vorteilhaft ist.“ 

Man hat die Polemik zwischen Gelehrten, Schriftstellern und Rednern wohl öfters mit den Turnieren des Mittelalters verglichen; Goethe aber betonte, daß es diesen modernen Kämpfen an ritterlichem Schrankenraum, an Kreiswärteln und Kampfrichtern fehle, „und in jedem Schaukreise wirft sich, wie vor alters im Cirkus, die ungestüme Menge parteiisch auf die Seite der Grünen oder Blauen; die größte Masse beherrscht den Augenblick.“  

Ausführlich hat er sich im April 1824 gegen Eckermann über seine Gegner geäußert, und warum er keine Zeit mit ihnen verliere. „Ihre Zahl ist Legion,“ meinte er, „doch ist es nicht unmöglich, sie einigermaßen zu klassifizieren. Zuerst nenne ich meine Gegner aus Dummheit ; es sind solche, die mich nicht verstanden und die mich tadelten, ohne mich zu kennen. Die ansehnliche Masse hat mir in meinem Leben viel Langeweile gemacht, doch es soll ihnen verziehen sein, denn sie wußten nicht, was sie thaten. Eine zweite große Masse bilden sodann meine Neider . Diese Leute gönnen mir das Glück und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich durch mein Talent mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und hätten mich gern vernichtet. Wäre ich unglücklich und elend, so würden sie aufhören. —

Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus Mangel an eigenem Succeß meine Gegner geworden. Es sind begabte Talente darunter, allein sie können mir nicht verzeihen, daß ich sie verdunkle. — Viertens nenne ich meine Gegner aus Gründen . Denn da ich ein Mensch bin und als solcher menschliche Fehler und Schwächen habe, so können auch meine Schriften nicht frei davon sein. Da es mir aber mit meiner Bildung Ernst war und ich an meiner Veredlung unablässig arbeitete, so war ich im beständigen Fortstreben begriffen, und es ereignete sich oft, daß sie mich wegen eines Fehlers tadelten, den ich längst abgelegt hatte. Diese Eulen haben mich am wenigsten verletzt; sie schossen nach mir, wenn ich schon meilenweit von ihnen entfernt war. Überhaupt war ein abgemachtes Werk mir ziemlich gleichgültig; ich befaßte mich nicht weiter damit und dachte sogleich an etwas Neues.

 Eine fernere große Masse zeigte sich als meine Gegner aus abweichender Denkungsweise und verschiedenen Ansichten. Man sagt von den Blättern eines Baumes, daß deren kaum zwei vollkommen gleich befunden werden: und so möchten sich auch unter tausend Menschen kaum zwei finden, die in ihrer Gesinnungs- und Denkungsweise vollkommen harmonieren. Setze ich dieses voraus, so sollte ich mich billig weniger darüber wundern, daß die Zahl meiner Widersacher so groß ist, als vielmehr darüber, daß ich noch so viele Freunde und Anhänger habe. Meine ganze Zeit wich von mir ab, denn sie war ganz in subjektiver Richtung begriffen, während ich in meinem objektiven Bestreben im Nachteile und völlig allein stand.“ — — 

Die zuletzt angedeutete Einsicht, daß die Menschen verschieden denken müssen, daß sie nicht zu unserer Ansicht bekehrt werden können, behütet uns vor vielem Zeitverlust und Ärger. Auf religiösem Gebiete schätzte Goethe das alte Diktum, daß sich jeder seine eigne Art von Gott macht und daß man Niemand den seinigen weder nehmen kann noch soll.  Und so gilt es überall, „daß die verschiedenen Denkweisen in der Verschiedenheit der Menschen gegründet sind, und eben deshalb eine durchgehende gleichförmige Überzeugung unmöglich ist. Wenn man nur weiß, auf welcher Seite man steht, so hat man schon genug gethan; man ist alsdann ruhig gegen sich und billig gegen andre.“  

Namentlich aber ging Goethe der Polemik aus dem Wege, weil alles Negieren, Opponieren, Nörgeln ihm verhaßt, weil er selber durchaus positiv war. Um es mit des Kanzlers Worten auszudrücken: „er hatte es sich zur Maxime gemacht, nur durch immerfort erneutes Aufstellen und Ausüben des Wahren und Rechten zu wirken, aber so selten als möglich durch Bestreiten und Opponieren.“  Er wußte eben: „der allergrößte Verdruß, den man diesem pfuscherischem Volke anthun kann, besteht darin, wenn man jede Kraft, die an einem ist, besser und lebhafter ausbildet und sich und sein Talent immer fortschreitend und fruchtbar sehen läßt.“  Und dann wußte er, daß von den Lebensgütern allen der Ruhm das höchste nicht ist. „Der Ruhm ist eine herrliche Seelenkost,“ sagte er einmal zu einem russischen Grafen; „sie stärkt und erhebt den Geist, erfrischt das Gemüt; das schwache Menschenherz mag sich daher gern daran erlaben. Aber man gelangt gar bald auf dem Wege zur Berühmtheit zur Geringachtung derselben. Die öffentliche Meinung vergöttert Menschen und lästert Götter; sie preist oft die Fehler, worüber wir erröten, und verhöhnt die Tugenden, die unser Stolz sind. Glauben Sie mir, der Ruhm ist so verletzend fast als die Verrufenheit. Seit dreißig Jahren kämpfe ich gegen den Überdruß, und Sie würden ihn begreifen, wenn Sie nur wenige Wochen mit ansehn würden, wie mich täglich eine Anzahl von Fremden zu bewundern verlangt, wovon viele meine Schriften nicht gelesen haben und die meisten mich nicht verstehn.“ — —

Noch tiefer sehen wir in Goethes Herz, wenn er uns sagt, wie er über seinen unangenehmsten Widersacher, August v. Kotzebue, hinwegkam, der es sich zum Geschäft machte, auf jede Art und Weise, seinem Talent, seiner Thätigkeit, seinem Glück entgegenzutreten.  Goethes Hausmittel dagegen war: „die Existenz desjenigen, der mit Abneigung und Haß verfolgt, als ein notwendiges und zwar günstiges zu der seinigen zu betrachten.“ So hielt er es auch mit Kotzebue: „Ich denke ihn mir gern als Weimaraner und freue mich, daß er der mir so werten Stadt das Verdienst nicht rauben kann, sein Geburtsort gewesen zu sein; ich denke mir ihn gern als schönen, muntern Knaben, der in meinem Garten Sprengel stellte und mich durch seine freie Thätigkeit sehr oft ergötzte; ich gedenke seiner gern als Bruder eines liebenswürdigen Frauenzimmers, die sich als Gattin und Mutter immer verehrenswert gezeigt hat. Gehe ich nun seine schriftstellerischen Wirkungen durch, so vergegenwärtige ich mir mit Vergnügen heitere Eindrücke einzelner Stellen; obschon nicht leicht ein Ganzes, weder als Kunst- noch Gemütsprodukt, weder als das, was es aussprach, noch was es andeutete, mich jemals anmuten und sich mit meiner Natur vereinbaren konnte. Sehr großen Vorteil dagegen hat mir seine literarische Laufbahn in Absicht auf Übung des Urteils gebracht, welches wir am eigentlichsten durch die Produktionen der Gegenwart zu schärfen vermögend sind. Er hat mir Gelegenheit gegeben, manche andere, ja das ganze Publikum, kennen zu lernen; ja, ich finde noch öfters Anlaß, seine Leistungen, denen man Verdienst und Talent nicht absprechen kann, gegen überhinfahrendes Tadeln und Verwerfen in Schutz zu nehmen. Betrachte ich mich nun gar als Vorsteher eines Theaters und bedenke, wie viele Mittel er uns in die Hand gegeben hat, die Zuschauer zu unterhalten und der Kasse zu nutzen, so wüßte ich nicht, wie ich es anfangen sollte, um den Einfluß, den er auf mein Wesen und Vornehmen ausgeübt, zu verachten, zu schelten oder gar zu leugnen; vielmehr glaube ich alle Ursache zu haben, mich seiner Wirkung zu freuen, und zu wünschen, daß er sie noch lange fortsetzen möge.

Goethes Hausmittel gegen diesen Feind sieht beinahe christlich aus; er will es aber weder als christlich, noch sonst hochmoralisch empfehlen, es sei einfach einem verklärten Egoismus entsprungen und bewähre sich als praktisch, um die unangenehmsten von allen Empfindungen aus dem Gemüt zu verbannen: kraftloses Widerstreben und ohnmächtigen Haß. In der Lehre, man solle seine Feinde lieben, scheint ihm das Wort „lieben“ gemißbraucht oder doch in einem andern Sinne gebraucht zu sein, als es sonst hat; er will deshalb lieber jenen weisen Spruch mit Überzeugung wiederholen, daß man einen guten Haushalter hauptsächlich dann erkenne, wenn er sich auch des Widerwärtigen vorteilhaft zu bedienen wisse. 

„Nicht größeren Vorteil wüßt' ich zu nennen 
Als des Feindes Verdienst erkennen.“

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Über seine politische Stellung muss noch einiges gesagt werden, da er gerade dadurch in den schärfsten Gegensatz zu seinen Zeitgenossen kam und selbst heute noch sich scharfe Kritiker erweckt. Der Mann, den wir eben betrachtet haben, ist kein Politiker! Wohl gingen von ihm große politische Lehren aus,  aber was wir gewöhnlich unter einem Politiker verstehen, das ist kein Einsiedler und Einspänner, der den Ruhm und den Beifall der Menge verachtet und gleichsam außerhalb seiner Zeit lebt. Goethe hätte das Talent zum politischen Führer gehabt, und das Urteil des berühmten Phrenologen Gall, daß er zum Volksredner geboren sei, war keine vage Phantasie. Aber seine Gemütsart und seine Überzeugungen hinderten ihn, seine Macht über die Massen zu

gebrauchen. Er war ein Mann der Betrachtung, kein Mann der That. Niemals zeigte sich das deutlicher als nach der Schlacht bei Jena, wo es sich wochenlang doch auch um die Aufhebung des Herzogtums Weimar handelte. Der Staatsminister v. Goethe schrieb bald darauf an seinen musikalischen Freund in Berlin  : 

„Durch die bösen Tage bin ich wenigstens ohne großen Schaden durchgekommen. Es war nicht Not, mich der öffentlichen Angelegenheiten anzunehmen, indem sie durch treffliche Männer besorgt wurden, und so konnte ich in meiner Klause verharren und mein Innerstes bedenken.“ Diese scheinbare Stumpfheit gegen politische Zustände und Bewegungen erklärt sich nicht nur aus seiner Gemütsart, sondern auch aus seinen Überzeugungen.  „Von der Höhe seines Standpunktes erschien ihm die Geschichte nur als ein ewig wiederholter, ja notwendiger Kampf der Thorheiten und Leidenschaften mit den edleren Interessen der Zivilisation; er kannte zu gut die Gefahren oder wenigstens zweideutigen Erfolge unberufener Einmischung. — — Er war überzeugt, daß dem Menschen weniger von außen als von innen heraus zu helfen stehe.“ 183 Durch seine Erfahrungen war Goethe zu einem konservativen laisser faire gelangt. „In bürgerlichen Dingen ... läßt sich weder das Gute sonderlich beschleunigen, noch ein oder das andere Übel herausheben; sie müssen zusammen, wie schwarze und weiße Schafe einer Herde, untereinander zum Stalle hinaus und herein. Und was sich noch thun ließe, da mangelt‘s an Menschen, die gleich auf der Stelle das Gehörige thun.“ „Die ganze Welt läuft voller Leute, die versorgt sein wollen, und wenn man einmal zu einem Platze einen tüchtigen Mann braucht, sieht man erst, wie einzeln die Brauchbaren sind.“ Und was für Pfuscher pflegen die Volksbeglücker zu sein! „Zeitschreiber, Jesuiten, Komödianten reißen sich um die Welt und keiner versteht sie zu halten. Und was das für eine Freude ist, wenn ein Pfuscher den andern besiegt hat — auf drei Tage!“ 

Wir blicken geradezu in das Zentrum seiner politischen Lehren, wenn wir die leichten Sätze lesen, die er im August 1797 seinem Freunde Knebel von Frankfurt aus schrieb: „Was mich betrifft, so sehe ich immer mehr ein, daß jeder nur sein Handwerk ernsthaft treiben und das übrige alles lustig nehmen soll. Ein paar Verse, die ich zu machen habe, interessieren mich mehr als viel wichtigere Dinge, auf die mir kein Einfluß gestattet ist. Und wenn ein jeder das Gleiche thut, so wird es in der Stadt und im Hause wohl stehen.“


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