Als der König Ludwig von Bayern bei Goethe war, fragte er den alten Dichter auch, warum man ihn eigentlich den letzten Heiden nenne. Goethe dagegen hat einmal die starke Frage getan: „Wer ist denn noch heutzutage ein Christ, wie Christus ihn haben wollte? Ich allein vielleicht, ob ihr mich gleich für einen Heiden haltet!“ Und unter seinen Zeitgenossen gab es nicht wenige, die ihn, „den Griechen,“ für einen echten Christen hielten. Karl August verglich ihn einmal mit seinem ersten Geistlichen: „Herder gibt mir Blitzlicht in der Religion, Goethe das wahre, bleibende Licht.“ Varnhagen von Ense schreibt: „Sein Herz hegt die reinste, wärmste Liebe, er ist gotterfüllt, echt fromm und heilig in seinem tiefsten Wesen. Er macht keine Worte von Christus, er prahlt nicht mit seinem Bekenntnis auf ihn, aber Jesus hätte ihn zum teuersten Freunde gehabt, wäre er ihm begegnet.“ — „O, er war die Liebe selbst,“ antwortete auf eine Frage nach Goethes Wesen ein kleiner Beamter, der ihn in Ilmenau auf den einsamen Wegen im Gebirge begleiten musste. Von anderen hören wir wieder: Jesus konnte er mit solcher Rührung preisen, daß er in einen Tränenstrom ausbrach.
Goethe war, wie wir alle, Christ und Heide, nur waren bei ihm die Zeichen der einen oder der andern Art viel stärker und deutlicher, als sie bei uns in der Regel sind. Ein Heide erschien er leicht wegen seiner großen Liebe zum klassischen Altertum; er meinte selbst, er müsse wohl schon unter Kaiser Hadrian einmal dagewesen sein, so sehr fühle er sich in Italien unter den Resten des Altertums daheim. Wenn er dann auch „das Märlein von Christus,“ das den Pfaffen so nützlich ist, einmal spöttisch behandelte oder es beklagte, daß nicht Homer unsere Bibel geworden sei statt des Buches, das uns mit Sodomitereien und ägyptisch-babylonischen Grillen unterhält, wenn er seine Abneigung gegen das „Marterholz“ drastisch kundgab, dann schien an seinem vollendeten Heidentum kein Zweifel mehr möglich. Und auf ethischem Gebiete hätte man noch sein häufiges Lob des Egoismus und daß er Gott ohne Schuldgefühl gegenüberstand, ins Feld führen können.
Und trotzdem hatte er von menschlicher und christlicher Frömmigkeit einen reichen Schatz in seiner Seele. Er war vor allem sein Lebenlang ein Sucher des Göttlichen, und nichts beglückte ihn mehr, als wenn er eine neue Offenbarung der Gottheit und ihrer Gesetze für sich entdeckt zu haben glaubte. Das war es gerade, was ihn von anderen Naturforschern unterschied, daß er in dem gelehrten Wust stets das große Gesetz und den Schöpfergedanken suchte. Und ebenso bereitwillig suchte er das Göttliche auch im geistigen und sittlichen Menschenleben, auch in der Bibel, in der Theologie und in der Kirche sogar. Vor der Bibel hatte er große Achtung, wenn auch hie und da eine Äußerung respektlos klingt. „Ich für meine Person hatte sie (die Bibel) lieb und wert,“ erzählt er in „Wahrheit und Dichtung“ von seiner Jugendzeit, „denn fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte sich tief in mir eingedrückt und war auf die eine oder andere Weise wirksam gewesen. Mir mißfielen daher die ungerechten, spöttischen und verdrehenden Angriffe.“ Auch was die Theologen zu sagen haben, beschäftigte ihn viel; Rezensionen von Predigtsammlungen und anderen theologischen Werken haben wir von ihm aus den weit auseinander liegenden Jahren 1773 und 1830. Als Jüngling schrieb er sogar theologische Abhandlungen, die „zwo biblischen Fragen“ und den „Brief des Pastors N. N. an den Pastor N. N.“, worin er die wahre Toleranz lehrt, die aus dem christlichen Glauben stammt, und dem Höllenglauben einen Glauben an die dereinstige Wiederbringung Aller entgegensetzt. Solche Aufsätze lagen ihm in späterer Zeit fern — in poetischer Form finden wir ja den Gedanken der Wiederbringung noch einmal im Schlusse
des Faust — aber als Leser blieb er auch der Theologie treu. Zuweilen fanden ihn Freunde über dem Studium der Werke eines Daub, Kreutzer, Paulus, Marheineke, Röhr oder selbst der Folianten der Kirchenväter. Zur Zeit des Reformations-Jubiläums beschäftigte er sich viel mit Luthern und dachte ernstlich daran, eine große welthistorische Kantate auf ihn und sein Werk zu dichten. Und später noch hat er aus dem Stegreif Sätze gesprochen, die die glücklichste Inschrift für ein Denkmal des Reformators sein würden.
Der Kanzler erzählt weiter: „Ich erinnere mich noch lebhaft der naiven Verwunderung eines wackeren französischen Geistlichen aus der Provinz, als Goethe ihm unvermutet die französische Kirchengeschichte der letzten drei Jahrhunderte in großartigen Umrissen aufrollte, und mit den Lichtblicken seiner Bemerkungen erhellte.“
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Gott wird jedoch besser durch die Frommen, als durch die Theologen verkündet. Goethe hatte immer Freude und Erbauung, wo er wahre, in Leben und Tat sich ausstrahlende Frömmigkeit fand. Als Student ehrte er so den gläubigen Hofmeister Langer, der später Lessings Nachfolger in Wolfenbüttel wurde, und in Frankfurt die halbe Herrnhuterin Fräulein v. Klettenberg, der er noch im Wilhelm Meister durch ihre „Bekenntnisse einer schönen Seele“ ein Denkmal gesetzt hat; unter ihrem Einflusse hatte er zeitweilig selber ein „herrnhutisches Herz“; er besuchte — etwa 1769 — sogar einen Kongreß der Brüdergemeinde zu Marienborn. Im Alter verfolgte er die Haitischen Missionsberichte mit Aufmerksamkeit, „wie überhaupt alles, was auf Verbreitung sittlichen Gefühls durch religiöse Mittel hinstrebt.“ Und so hatte er stets einen offenen Sinn für
echte Frömmigkeit. Als er 1805 in Magdeburg auf Kloster Bergen, die bekannte evangelische Schule, wo Wieland erzogen war, hinüberblickte, dachte er: „Dort wirkte Abt Steinmetz im frommen Sinne, vielleicht einseitig, doch redlich und kräftig. Und wohl bedarf die Welt in ihrer unfrommen Einseitigkeit auch solcher Licht- und Wärmequellen, um nicht durchaus im egoistischen Irrsale zu erfrieren und zu verdursten.“
Ebenso rühmte er den Quäker Howard einmal, als er dessen Selbstbiographie las. „Er spricht darin lange nicht so duckmäuserig als ein Herrnhuter, sondern heiter und froh. Christ, wie er einmal ist, lebt und webt er ganz in dieser Lehre, knüpft alle seine Hoffnungen für die Zukunft und für diese Welt hieran, und das alles so folgerecht, so friedlich, so verständig, daß man, während man ihn liest, wohl gleichen Glauben haben zu können wünschen möchte.“
In einem Gespräche mit Falk hat Goethe uns einen Frommen gezeichnet, wie er ihn verehren konnte, und zwar war dieser Fromme seltsamer Weise ein Bruder Napoleons, der abgedankte König Ludwig Bonaparte von Holland, mit dem unser Dichter 1810 in Teplitz in einem Hause gewohnt und viel verkehrt hatte. Diese Charakterzeichnung verdient durchdacht zu werden.
„Ludwig ist die geborene Güte und Leutseligkeit, sowie sein Bruder Napoleon die geborene Macht und Gewalt ist. — Milde und Herzensgüte bezeichnen jeden seiner Schritte, nur, was freilich eben daraus folgt, daß ihn alles Ungerechte, Ungesetzmäßige, Unbarmherzige in tiefster Seele verletzt und ihm gleichsam von Natur zuwider ist. Irgend ein Tier gequält, ein Pferd gemisshandelt, oder ein Kind leiden zu sehen, erträgt er nicht; man sieht es seinen Gebärden, seinem ganzen Benehmen in solchen Lagen an, es empört sein Inneres; es macht ihn unglücklich, wenn in seiner Gegenwart etwas Rohes geschieht, ja, wenn er auch nur davon erzählen hört. Vorfallende Unschicklichkeiten in Beziehung auf seine Person vergibt er weit leichter. Eine schöne Seele, eine überall ruhige Fassung des Gemütes, im Hintergrunde Gott ohne die geringste religiöse Schwärmerei. — Wie ein glänzender Silberfaden zieht sich die Religion durch alle seine Gespräche und Urteile; sie erheitert gleichsam den dunkeln Grund seiner oft etwas schwermütigen Lebensbetrachtung. Was irgend in der Weltgeschichte sein schönes sittliches Wesen schmerzlich berührt, erhält sogleich eine sanfte Abweisung. Er verwirft daraus alles, was nach seinem Gefühle nicht recht und wider die göttliche Vorschrift ist. — Die Zeit ist nach seiner Meinung heftig verworren und sehr böse, aber daraus folgt keineswegs, daß sie immer so bleiben werde. Man darf in seiner Gegenwart keine Maxime aussprechen, die irgend einer seiner christlich-moralischen Ansichten zuwiderlautet, oder sie gar aufhebt, sonst wird er still, wortkarg oder wendet sich, jedoch ohne Streit und Widerspruch, aus dem Gespräche. — Wie es einem so zart und empfindlich gestimmten Wesen gelingen konnte, den schweren Kampf zwischen Holland und seinem eisernen Bruder durchzukämpfen, ohne daß das Gewebe seiner Nerven zerriß und er selber zu grunde ging, ist mir noch immer ein Rätsel. Es ist bewundernswürdig, daß die Macht der Idee ihn so über den widerwärtigen Umständen emporgehalten hat. Was er als Oberhaupt einer berühmten Nation, was er sich selbst schuldig zu sein glaubte, nachdem er sich dessen einmal als König von Holland bewußt geworden war, verfolgte er auch gegen Frankreich und gegen seinen Bruder mit demjenigen strengen und sittlichen Ernste, der seiner Natur eigen ist.“
„Ich kann sagen, daß, wo ich in meinem Leben das Glück hatte, einer solchen wahrhaft sittlichen Erscheinung zu begegnen, sie mich ausnehmend anzog und erbaute, wie ich denn auch in dieser Zeit meinen Freunden in Teplitz sehr oft zu sagen pflegte: man verläßt den König von Holland nie, ohne daß man sich besser fühlt. Mit großer Seelenerhebung gestand ich es mir selbst, wenn ich ihn so ein paar Stunden gesehen und gehört hatte: wenn dieses anmutig zarte und beinahe frauenhaft entwickelte Wesen in so großen ungeheuern Weltverhältnissen das konnte, solltest du als Privatmann in beschränkten Kreisen nicht dasselbe leisten können oder wenigstens Mut und Fassung an seinem Beispiel zu schöpfen im stande sein? — — Ernst mit Sitte verbunden, beide ohne die geringste Strenge, Frömmigkeit ohne allen Stolz und Dünkel, ohne irgend eine trübe Beimischung von Furcht und Aberglauben, grundredlich und grundgütig zugleich . . .“
„In den Umgebungen des Königs begegnete ich einem Doktor, dessen Ansichten oft etwas schroff, um nicht zu sagen katholisch beschränkt waren. Er sprach sogar manchmal von der alleinseligmachenden Kirche, was aber der König im Gespräche nie aufnahm, der, wie gesagt, ebenso mild als ernst und menschlich in seinen Ansichten sich keiner Einseitigkeit hingab. Ich suchte meine Fassung in solchen Fällen soviel nur immer möglich beizubehalten; einmal aber, da er wieder einige fast kapuzinermäßige Tiraden über die Gefährlichkeit der Bücher und des Buchhandels vorbrachte, konnte ich nicht umhin, ihm mit der Behauptung zu dienen: das gefährlichste aller Bücher in weltgeschichtlicher Hinsicht sei doch wohl unstreitig die Bibel, weil wohl leicht kein anderes Buch soviel Gutes und Böses als dieses im Menschengeschlechte zur Entwicklung gebracht habe. Als diese Rede heraus war, erschrak ich ein wenig von ihrem Inhalte; denn ich dachte nicht anders, als: die Pulvermine würde nun nach beiden Seiten in die Luft fliegen. Zum Glück aber kam es doch anders. Zwar sah ich den Doktor vor Schrecken und Zorn bei diesen Worten bald erbleichen, bald wieder rot werden, der König aber faßte sich mit gewohnter Milde und Freundlichkeit und sagte bloß scherzweise: Cela perce quelquefois que Monsieur de Goethe est hérétique.“ — —
So wie hier den Doktor mußte Goethe auch andere Frommen zuweilen zur Rücksicht auf seine eigene Überzeugung mahnen. Den Romantiker Zacharias Werner, dessen Gläubigkeit fast so groß war wie seine Sinnlichkeit, bittet er einmal : „Sie kennen mich genug, um zu wissen, daß wir immer einmal wieder eine Strecke Wegs mit Lust zusammen fortwandern können; nur enthalten Sie sich ja, mir Fußangeln aus der Dornenkrone vor meine Schritte hinzustreuen.“ Recht schön wehrte er 1823 die Gräfin Bernstorff ab, seine ehemalige Jugendfreundin Auguste v. Stolberg, die ihn jetzt zu ihrem christlichen Glauben bekehren wollte:
„Redlich habe ich es mein Leben lang mit mir und andern gemeint und bei allem irdischen Treiben immer aufs Höchste geblickt; Sie und die Ihrigen haben es auch getan. Wirken wir also immerfort, so lange es Tag für uns ist; für andere wird auch eine Sonne scheinen, sie werden sich an ihr hervortun und uns indes ein helleres Licht erleuchten. Möge sich in den Armen des allliebenden Vaters alles wieder zusammenfinden!“
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Zur Kirche stellte sich Goethe im Ganzen weder freundlich noch feindlich. Er hielt sie für „eine Art von heidnischem Judentum“, für eine Verunreinigung der echten christlichen Lehre. Vieles, was er gegen sie und die Geistlichen geschrieben, hat er später wieder unterdrückt, doch blieb noch mancher scharfe Angriff stehen. Den Gottesdienst besuchte er nicht, aber er wäre herzlich gern dazu bereit gewesen, wenn die protestantische Kirche der christlichen Ethik soviel Kraft gewidmet hätte, wie ihrer unfruchtbaren Dogmatik. „Legte man sich über die Mysterien ein unverbrüchliches, ehrerbietiges Stillschweigen auf, ohne die Dogmen mit verdrießlicher Anmaßung, nach dieser oder jener Linie verkünstelt, irgend jemanden wider Willen aufzunötigen, oder sie wohl gar durch unzeitigen Spott oder vorwitziges Ableugnen bei der Menge zu entehren und in Gefahr zu bringen, so wollte ich selbst der erste sein, der die Kirche meiner Religionsverwandten mit ehrlichem Herzen besuchte und sich dem allgemeinen praktischen Bekenntnisse eines Glaubens, der sich unmittelbar an das Tätige knüpfte , mit vergnüglicher Erbauung unterordnete.“ Daß Goethe sich schließlich trauen ließ, um seine Frau und sein Kind zu legitimieren, ist schon berichtet. Auch daß der Sohn konfirmiert wurde, litt er. „Du willst, verehrter alter Freund,“ so schreibt er am 26. April 1802 an Herder, „die Gefälligkeit haben, meinen Sohn in die christliche Versammlung einzuführen, auf eine liberalere Weise, als das Herkommen vorschreibt. Ich danke dir herzlich dafür.“ Als ihn im Jahre vorher der Buchhändler Sander in Berlin bat, eine Patenstelle anzunehmen, antwortete Goethe sanft ablehnend, indem er betonte, wie wenig sein Zeugnis in der christlichen Kirche bedeuten könne. Und an Schiller, der ihn zur Taufe seines zweiten Sohnes einlud, schrieb er, daß er erst am Sonnabend, statt am Donnerstag, kommen wolle, da ihn die Zeremonien der Taufe gar zur sehr verstimmen würden. Aber in seine Lebensgeschichte schrieb er eine Lobrede auf die katholischen Sakramente hinein, deren symbolische Schönheit den Dichter erfreute.
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Frömmer als manche Kirchenchristen war Goethe namentlich darin, daß er mehr Ehrfurcht vor der Gottheit hatte. Viele Scheinfromme reden ja vom Schöpfer aller Dinge, wie wenn er ihr Großpapa wäre, dessen Gedanken sie genau kennen, dessen Gunst sie sicher sind, den sie zu behandeln wissen, den sie gegen andere zu vertreten haben. Besonders den Geistlichen wird der stündliche Gebrauch und Mißbrauch seines Namens zur Gewohnheit, und was für schlechte Geschichten hängen sie ihm an! „Wären sie aber durchdrungen von seiner Größe, sie würden verstummen und ihn vor Verehrung nicht nennen mögen!“ Im Dezember 1813, also nach den großen Siegen der Verbündeten über die Franzosen, war ein Leipziger Freund, Friedrich Rochlitz, bei Goethen. Sie gingen im Zimmer auf und ab, von den großen Ereignissen sprechend. Da rief Rochlitz begeistert aus: „Ich dächte genug für heute! Und lassen Sie uns nur noch Gott die Ehre geben und seine moralische Weltregierung laut anerkennen!“
Da blieb Goethe stehen und sagte im feierlichen Tone: „Anerkennen? sie? wer muß das nicht! Ich aber schweigend.“
„Schweigend? Eben das?“ —
„Wer kann es ausreden? außer allenfalls für sich selbst? für andere wer? Und wenn er weiß, daß er es nicht kann, so ists ihm nicht erlaubt.“
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Außer dieser Ehrfurcht vor „dem uralten heiligen Vater“, dessen „letzten Saum seines Kleides“ er demütig küßt, „kindliche Schauer treu in der Brust“, hatte er noch manche Eigenschaft, manches Seelenbedürfnis, die wir als fromm oder geradezu als christlich bezeichnen müssen. Wenn ein Mitmensch etwas wider uns hat, so sollen wir uns mit ihm versöhnen, ehe wir Gott opfern, das ist eine echte Christuslehre. Daß ihm der alte Freund Herder jede ersehnte Versöhnung verdarb, weil er in den besten Stunden eine neue Kränkung anzubringen nicht
unterlassen konnte, gehörte zu Goethes tiefsten Schmerzen. In den Gedanken an Friederike und Lilli, denen er als Schuldiger gegenüber stand, war ihm nicht wohl, bis er sich ihrer Verzeihung versichert hatte. Am 25. September 1779 tat er den Büßergang nach Sesenheim, wenn es auch äußerlich ein frischer Ritt war, der ihn nur einige Tage von den Reisegefährten trennte. Und als er dann Abschied von Friederike Brion nahm, durfte er sich sagen, daß er nun „wieder mit Zufriedenheit an das Eckchen der Welt hindenken und in Frieden mit den Geistern dieser Ausgesöhnten“ leben könne. 200 Am nächsten Tage besuchte er in Straßburg die dort verheiratete Lilli; auch hier nahm man ihn mit herzlicher Freundschaft auf, und fröhlich ritt er weiter in dem Gefühle, daß nun ein reines Wohlwollen ihn mit jenen einst heiß geliebten und schwer betrübten Freundinnen vereine.
Wie die Pflicht zur Versöhnung, so empfand er auch eine unwiderstehliche Nötigung zur öffentlichen Beichte und Buße in sich. Er hat nicht in die Welt hineingeschrien, was für ein Sünder er sei, aber wer ihn kennt, liest es aus Götz und Clavigo und manchem anderen Werke heraus. Von der Zeit, wo der Schmerz um Friederikens Lage ihn plagte, schreibt er in „Dichtung und Wahrheit“: „Ich setzte die hergebrachte poetische Beichte wieder fort, um durch diese selbstquälerische Büßung einer inneren Absolution würdig zu werden.“
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Auch Goethes Wohltätigkeit hatte einen religiösen Charakter. In jungen Jahren griff er am liebsten mit eigenen Händen zu, wo Hilfe nötig war. So bei einem Feuer in einem Dörfchen am Ettersberge. „Meine Augenbrauen sind versengt,“ schreibt er nach heißer Arbeit an Frau v. Stein, „und das Wasser, in meinen Schuhen siedend, hat mir die Zehen gebrüht; ein wenig zu ruhen legt' ich mich nach Mitternacht aufs Bett.“ Bei einer Wassersnot im Februar 1784 blieb er fünf Tage in Jena und der Herzog berichtete von ihm: „Goethe hat sich bei der hiesigen Gefahr sehr brav gehalten, die besten Anstalten getroffen.“
Im Geben an Bittende war er anfangs wohl etwas leichtsinnig. Als er eben durch Goetz und Werther berühmt geworden war, wurden auch seine Freigebigkeit und Gutherzigkeit schnell bekannt. Bedürftige und Abenteurer drängten sich an ihn, borgten Geld von ihm oder baten ihn um Bürgschaft. Er mußte selber Schulden machen, um sie zu befriedigen, und jahrelang haben ihn diese Schulden gedrückt. Auch als er in Weimar als Busenfreund des Herzogs noch weiter berühmt wurde, überliefen ihn „Genies“ von mancherlei Art, um von seinem Glücke mitzuzehren. Er gab mit bereiten Händen, aber wie er auch im übrigen Verkehr allmählich steifer und verschlossener wurde, so machte er auch mit Bittstellern genug bittere Erfahrungen, um auch gegen sie härter zu werden. Er half von nun an seltener, aber seine Wohltätigkeit bekam eine religiöse Tiefe. Da, wo er im Zusammentreffen mit einem Bedürftigen eine Lenkung der Vorsehung ahnte, gab er reichlich und in der edelsten Weise.
Einmal vergaß er seinen eigenen Grundsatz, daß man mit der Wohltätigkeit nicht spielen dürfe. Es war ihm etwas sehr Angenehmes begegnet und als er sich in den Wagen setzte, legte er alles Geld, was er bei sich hatte, in die Hand, um die Münzen nach der Reihe, in der sie lagen, an Handwerksburschen und andere Arme am Wege zu verteilen. Aber seltsamer Weise zeigte sich auf einem dreistündigen Wege, der von Fußgängern wohlbelebt war, nicht ein Einziger, dem er hätte etwas reichen dürfen. Da erkannte Goethe seine Anmaßung, sich selbst als Werkzeug der Vorsehung zu berufen, und geben zu wollen, ehe die Geister ihm einen „Nächsten“ zuführten.
Wie sie es tun, glaubte er einmal in der Gegend von Teplitz erfahren zu haben. Er ging eines Tages bei sehr unfreundlichem Wetter durch das Feld und er konnte sich selber nicht Rechenschaft geben, warum er nicht lieber heimkehre. Der Wind war heftig, der graue Himmel verkündete Regenschauer; dennoch trieb ihn etwas den Schloßberg hinan. Strichweise überfiel ihn der Regen und er war verdrießlich über seine eigene Grille, just zu dieser tristen Stunde die graue Ruine auf dem Berge aufzusuchen. Aber als er dort in ein Gewölbe trat, um sich vor dem Regen zu schützen, ward ihm das Rätsel gelöst. Der schönste Knabe von der Welt stand dort neben einem alten Manne, gleichfalls Schutz vor dem Unwetter suchend. Trotz reinlicher Kleidung sah man beiden die Armut an. Höflich standen sie auf und erwiderten seinen Gruß. Sie waren über Land gezogen, um entfernte Verwandte aufzusuchen und dort ihre Lage zu verbessern. Als sie den Schloßberg neben sich sahen, hatte der Knabe den Vater bedrängt, diesen Gipfel zu besteigen, während Goethe gleichzeitig von der anderen Seite herankam. In dieser Mauerhöhle das schöne Wunderkind zu sehen, erquickte den Dichter; er dankte dem Genius, der ihn bei dem Schopf herangezogen hatte, und gab unter treulichen Glückwünschen dem Knaben als Reisezehrung alles, was er bei sich fand.
Ein andermal fuhr er an einem Knaben von zehn bis zwölf Jahren vorüber und er sah ihm an, daß schon dieses Kind als Handwerksbursch in fremdem Dienst sein Brot suchte. Er rief dem Kutscher zu, zu halten, aber der Kutscher hörte nicht. Nach zwei Stunden hörte er bei der Einfahrt in einen Ort das beliebte Kindergeschrei: „sitzt Einer hinter dem Wagen!“ Wie er sich umblickte, schlüpft der kleine Bäckerjunge von vorhin herunter; er hatte sich auf den Wagen geschwungen, um einen beschädigten Fuß zu schonen. Goethe aber fühlte die reinste Freude: daß ihm auf solche Weise der Knabe, dem er nützlich sein konnte, mitgeschleppt war und daß sogar die Kinder mit ihrem neidischen Geschrei helfen mußten, ihn mit dem Knaben zusammenzubringen, der sonst unbemerkt
fortgeschlichen wäre.
Den gewöhnlichen armseligen Bettlern, Krüppeln und dergleichen, gab Goethe ihr Almosen, aber er tat es niemals gern; höchstens reizte es ihn, wenn die Katholischen unter ihnen für ihn zu beten versprachen, wie wenn sie ihm helfen könnten! Gern gab er dagegen Handwerksburschen und besonders dann, wenn sie gut gekleidet waren und den Eindruck braver Burschen machten. Mit ihnen hatte er das Gefühl der Zusammengehörigkeit, denn er war in jungen Jahren manches Mal mit solchen Leuten gewandert. Das Gefühl der Verwandtschaft hatte er erst recht gegenüber einem Talente, das mit niedrigen Verhältnissen oder mit einem unglücklichen Charakter zu kämpfen hatte. Unzählige Male ist er solchen Leuten beigestanden und als Achtzigjähriger seufzte er einmal: „wer wie ich ein ganzes Leben lang kostbare Zeit und Geld mit der Protektion junger Talente verloren hat, dem muß wohl die Lust nach und nach vergehn.“ Aber das war eine augenblickliche Mißstimmung; er war seiner ganzen Natur nach ein freudiger Geber. Diezmann erzählt in seinem unterhaltsamen Buche über Goethe und die lustige Zeit in Weimar eine Geschichte, die uns den echten Goethe zeigt. Zu Ende 1778 wendete sich „ein wundersamer, durch verwickelte Schicksale und nicht ohne eigene Schuld verarmter Mann“ von Gera aus an ihn. Dieser Mann hatte nicht geringe volkswirtschaftliche und andere Kenntnisse, aber ihm fehlte der innere Halt, und durch eine krankhafte Reizbarkeit wurde sein mißliches Schicksal noch verschlimmert. Goethe antwortete zuerst kühl, schickte aber etwas Geld; er erkundigte sich dann unter der Hand nach dem Briefschreiber, und dann gab er alles Nötige: Überrock, Stiefel, Strümpfe. Und von nun an sorgte er für den Fremden, wie wenn er sein jüngerer Bruder wäre. Auch seine Briefe waren Gaben. „Sie sind mir nicht zur Last, vielmehr lehrt mich's wirtschaften. Ich vertändle viel von meinem Einkommen, das ich für die Notleidenden sparen könnte. Und glauben Sie denn, daß Ihre Tränen und Ihr Segen nichts sind? Der, der hat, darf nicht segnen, er muß geben; aber wenn die Großen und Reichen dieser Welt Güter und Rangzeichen austeilen, hat das Schicksal dem Elenden zum Gleichgewicht den Segen gegeben, nach dem der Glückliche zu geizen gar nicht versteht ... Es ist mehr als eine Wohltat von Gott, wenn er uns, was so selten geschieht, einmal einen wirklich Elenden erleichtern läßt.“ Goethe steigerte seine Unterstützung für diesen Fremden auf hundert, später auf zweihundert Thaler jährlich, brachte ihn unter falschem Namen in Ilmenau unter, verschaffte ihm dort Wohnung und Mittagstisch, schickte ihm Bücher und ließ sich von ihm leichte Arbeiten machen, weniger um diese Arbeiten ernstlich zu verwerten, als um seinem Schützling das Bewußtsein zu geben, als verdiene er seinen Unterhalt. Dieses Verhältnis dauerte viele Jahre, und kein Mensch wußte etwas davon. Erst lange nach Goethes Tode wurde die Sache zufällig bekannt, als man seine Briefe an diesen Mann entdeckte.
Und in Weimar ahnte mancher, der eine nötige Gabe erhielt, nicht, daß der unnahbare Geheimrat v. Goethe sein Wohltäter war. Goethes Arzt hatte Auftrag, ihm solche Fälle bekannt zu geben, wo eine größere Summe schlimmer Bedrängnis abhelfen könne, denn, meinte Goethe, der Arzt sehe wohl am besten, wo Hilfe angebracht sei. Der Arzt übermittelte das Geld, und erst nach Goethes Tode sagte er, von wem er es hatte.
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Ein großer Segen der Sünde, wenn wir sie uns zum Segen werden lassen, ist, daß sie uns vor geistlichem Hochmut schützt. Sie macht uns duldsam und versöhnlich gegen unsere Mitmenschen, und das Bewußtsein unserer eigenen Schwäche läßt uns auf Christi Warnung hören: „Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!“
Ob es einen duldsameren Menschen gab als Goethe? Man denke an seine poetischen Werke: wo sind da die Bösewichte? Nur irrende, schwache Menschen kennt er, und nie ist Recht oder Unrecht ganz auf einer Seite.
Schon in den beiden Theaterstücken, die er als blutjunger Student in Leipzig hinschrieb, zeigt er sich als derselbe Vermittler und Versöhner, der er als Knabe in Frankfurt bei ernstesten Anlässen schon manchmal gewesen war. Denn sowohl ,Die Laune des Verliebten‘, wie ,Die Mitschuldigen‘ „deuten auf eine vorsichtige Duldung bei moralischer Zurechnung und sprechen in etwas herben und derben Zügen jenes höchst christliche Wort spielend aus: Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf.“
Auch im „Werther“ hat er uns gesagt, warum er die Tugendboldigkeit nicht mitmachen könne. „Ach ihr vernünftigen Leute! Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht, denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas unmöglich Scheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien mußte. Auch im gemeinen Leben ists unerträglich, einem Kerl bei halbweg einer freien, edeln, unerwarteten Tat nachrufen zu hören: Der Mensch ist trunken, ist narrisch. Schämt euch, ihr Nüchternen!“ — —
„Wenn ich mich manchmal vergesse, manchmal die Freuden genieße, die dem Menschen noch gewährt sind, mit aller Offenheit und Treuherzigkeit sich herumzuspaßen, einen Tanz zur rechten Zeit anzuordnen und dergleichen, das tut eine ganz gute Wirkung auf mich.“
Und so bleibt er als Dichter; selbst am Teufel sucht er das Nützliche und Entschuldigende. Früher nahm der Zauberer Faust, der sich dem Satan verschrieben, das „verdiente böse Ende“, Goethe aber läßt göttliche Milde über ihn erstrahlen, und in ihrem Scheine sehen wir erst deutlich Fausts große Tugend des beständigen Steigens und Strebens. König Thoas ist noch in der Gluckschen Oper ein roher Barbar, der totgeschlagen werden muß, bei Goethen wird er zum liebenswerten edlen Menschen. Selbst Schillern gegenüber mußte Goethe diese Duldsamkeit und Gerechtigkeit behaupten. Einen Charakter wie Geßler hätte Goethe nie hingestellt, und an dem Geßler, den wir kennen, hat er noch gemildert. Schiller wollte geradezu und unmotiviert den Geßler einen Apfel vom Baume brechen und vom Kopfe des Knaben schießen lassen. „Dies war nun ganz gegen meine Natur,“ äußerte Goethe einmal, „und ich überredete ihn, diese Grausamkeit doch wenigstens dadurch zu motivieren, daß er Tells Knaben mit der Geschicklichkeit seines Vaters gegen den Landvogt großtun lasse, indem er sagt, daß er wohl auf hundert Schritte einen Apfel vom Baume schieße. Schiller wollte anfänglich nicht daran, aber er gab doch endlich meinen Vorstellungen und Bitten nach.“ Umgekehrt wollte es Schiller machen, als er Goethes „Egmont“ bearbeitete. In der Gefängnisscene, wo Egmont das Urteil vorgelesen wird, wollte er den Alba in einer Maske und in einen Mantel gehüllt im Hintergrunde erscheinen lassen, um sich an dem Effekt zu weiden, den das Todesurteil auf Egmont haben würde. Hierdurch sollte sich Alba als unersättlich in Rache und Schadenfreude darstellen. Goethe protestierte jedoch, und die Figur blieb weg.
Schiller fragte sich, ob Goethe bei diesem ethischen Charakter überhaupt ein Tragödiendichter sein könne; die dichterischen Kräfte dazu habe er zwar, aber die „pathetische Gewalt“ der Tragödie sage seiner Natur nicht zu. Und als Zelter auf dieses Urteil Schillers zu sprechen kam, erwiderte Goethe: „Ich bin nicht zum tragischen Dichter geboren, da meine Natur konziliant ist; daher kann der rein tragische Fall mich nicht interessieren, welcher eigentlich von Haus aus unversöhnlich sein muß.“ Ein andermal sagt er: „Über Abgeschiedene eigentlich Gericht halten zu wollen, möchte niemals der Billigkeit gemäß sein. Wir leiden alle am Leben: wer will uns, außer Gott, zur Rechenschaft ziehen! Nicht, was sie gefehlt und gelitten, sondern was sie geleistet und getan, beschäftigte die Hinterbliebenen.“
Goethes ganze poetische Tätigkeit war eine menschenfreundliche. Und das nicht bloß, weil alle seine Romane und Dramen uns Friedfertigkeit, Helfen und Tragen lehren, weil er uns immer wieder zeigt, daß die Welt nicht aus Bösen und Guten, Sündern und Erlösten, Weisen und Toren besteht, daß wir vielmehr alle mehr oder weniger in der Irre gehen und alle das vermeintliche Gute suchen. Er wollte auch geradezu mit seinen Dichtungen die Leser und Hörer erheitern, ihr Leben erhellen und erleichtern. Man vergleiche nur seine Werke mit den heutigen naturalistischen Romanen und Dramen, die alle Lust am Leben ersticken könnten. „Es ist eine Litteratur der Verzweiflung,“ rief er selber aus, nachdem er „in die grenzenlosen Schrecknisse der neuesten französischen Romanlitteratur“ hineingeraten war.
„Um augenblicklich zu wirken — und das wollen sie doch, weil eine Ausgabe auf die andere folgen soll — müssen sie das Entgegengesetzte von allem, was man dem Menschen zu einigem Heil vortragen sollte, dem Leser aufdringen, der sich zuletzt nicht mehr zu retten weiß. Das Häßliche, das Abscheuliche, das Grausame, das Nichtswürdige, mit der ganzen Sippschaft des Verworfenen, ins Unmögliche zu überbieten, ist ihr satanisches Geschäft. Man darf und muß wohl sagen Geschäft , denn es liegt ein gründliches Studium alter Zeiten, vergangener Zustände, merkwürdiger Verwickelungen und unglaublicher Wirklichkeiten zu Grunde, so daß man ein solches Werk weder leer noch schlecht nennen darf. Auch entschiedene Talente sind‘s, die dergleichen unternehmen, geistreiche, vorzügliche Männer, die sich durch eine Lebensfolge verdammt fühlen, sich mit diesen Abominationen zu beschäftigen.“ Ganz anderer Art waren doch die englischen Erzähler des achtzehnten Jahrhunderts! Als Achtzigjähriger nahm Goethe den „Landprediger von Wakefield“ wieder durch und er wurde nicht wenig gerührt von der lebhaften Erinnerung, wieviel er dem Verfasser als junger Mann schuldig geworden. „Es wäre nicht nachzukommen, was Goldsmith und Sterne gerade im Hauptpunkte der Entwickelung auf mich gewirkt haben. Diese hohe wohlwollende Ironie, diese Billigkeit bei aller Übersicht, diese Sanftmut bei aller Widerwärtigkeit, diese Gleichheit bei allem Wechsel und wie alle verwandten Tugenden heißen mögen, erzogen mich aufs löblichste, und am Ende sind es denn doch diese Gesinnungen, die uns von allen Irrschritten des Lebens endlich wieder zurückführen.“
Dieselbe Milde, die seine Poesie durchzieht, bewährte Goethe auch im Leben beständig, er wollte nicht richten und verurteilen. Das zeigte sich bald im Großen, etwa dem Phänomen Napoleon gegenüber, bald im kleinen täglichen Leben. Er mochte kein Philister sein, und was er am Philister verabscheute, zeigt seine Definition :
„Der Philister negiert nicht nur andere Zustände, als der seinige ist, er will auch, daß alle übrigen Menschen auf seine Weise existieren sollen.“ Als der sonst folgsame Eckermann sich seinem Meister einmal zu widersetzen wagte, war die echt goethische Antwort: „Ihr seid ein wunderlicher Christ! Tut was Ihr wollt, ich will Euch gewähren lassen.“ Und dann fuhr er fort: „Es ist eine große Torheit, zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen. Ich habe es nie getan. Ich habe einen Menschen immer nur als ein für sich bestehendes Individuum angesehen, das ich zu erforschen und das ich in seiner Eigentümlichkeit kennen zu lernen trachtete, wovon ich durchaus keine weitere Sympathie verlangte. Dadurch habe ich es nun dahin gebracht, mit jedem Menschen umgehn zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis mannigfaltiger Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen, und dadurch werden alle die verschiedenen Seiten in uns angeregt und zur Entwickelung und Ausbildung gebracht, so daß man sich bald jedem Vis-à-vis gewachsen fühlt.“ Wir glauben Goethe selbst zu hören, wenn sein Schüler Zelter einmal schreibt : „Wenn ich bin, wie ich bin, warum soll der andere nicht sein, wie er ist?“
Schon als Jüngling konnte sich Goethe bei widerstrebenden Naturen zusammennehmen. 1774 saß er in Duisburg mit Lavater an einer größeren Tafel, und unter den Gästen war auch der Rektor Hasenkamp, ein frommer, aber auch recht ungeschickter Mann. Als sie recht fröhlich sind, fragt Hasenkamp in feierlichem Ton: „Sind Sie der Herr Goethe?“ — „Ja!“ — „Und haben Sie das berüchtigte Buch ,Die Leiden des jungen Werther‘ geschrieben?“ — „Ja!“ — „So fühle ich mich in meinem Gewissen verpflichtet, Ihnen meinen Abscheu an dieser ruchlosen Schrift zu erkennen zu geben. Gott wolle Ihr verkehrtes Herz bessern! Denn wehe, wehe dem, der Ärgernis gibt!“ — Jedermann geriet in die peinlichste Verlegenheit, man fürchtete ein Aufbrausen des jungen Dichters. Aber der sagte ruhig: „Ich sehe es ganz ein, daß Sie aus Ihrem Gesichtspunkt mich so beurteilen müssen, und ich ehre Ihre Redlichkeit, mit der Sie mich bestrafen. Beten Sie für mich!“ — Nun hatte Goethe alle für sich, der fromme Rektor war entwaffnet, und die Unterhaltung ging fröhlich weiter.
In reifen Jahren, 1804, hat Goethe einmal den kühnen Gedanken ausgesprochen, daß man sogar am offenbaren Irrtum Wohlgefallen haben dürfe. „Bei strenger Prüfung meines eigenen und fremden Ganges in Leben und Kunst fand ich oft, daß das, was man mit Recht ein falsches Streben nennen kann, für das Individuum ein ganz unentbehrlicher Umweg zum Ziele sei. Jede Rückkehr vom Irrtum bildet mächtig den Menschen im Einzelnen und Ganzen aus, so daß man wohl begreifen kann, wie dem Herzensforscher ein reuiger Sünder lieber sein kann als neunundneunzig Gerechte.
Ja, man strebt oft mit Bewußtsein zu einem scheinbar falschen Ziel, wie der Fährmann gegen den Fluß arbeitet, da ihm doch nur darum zu tun ist, gerade auf dem entgegengesetzten Ufer anzulanden.“ Im Scherze sagte er wohl: „Kinderchen, ihr müßt lernen, mit Vergnügen irren zu sehen.“
Am entschuldbarsten ist unsere Unduldsamkeit gegen solche Leute, bei denen gute oder zulässige Eigenschaften mit solchen verbunden sind, die offenbar Haß und Widerstand verdienen; wir mögen von solchen Leuten „nichts wissen“. Aber Goethe schreibt: „Sonst machte mich mein entschiedener Haß gegen Schwärmerei, Heuchelei und Anmaßung auch gegen das wahre ideale Gute im Menschen, das sich in der Erfahrung nicht wohl ganz rein zeigen kann, oft ungerecht. Auch hierüber belehrt uns die Zeit, und man lernt: daß wahre Schätzung nicht ohne Schonung sein kann.“
Zur Unduldsamkeit neigen wir ferner besonders in unserem Fache, als Politiker gegen andere Politiker, als Künstler gegen andere Künstler. Goethe wehrte zwar
die ihm falsch erscheinenden Richtungen in der Kunst kräftig ab, aber so lange er irgend genießen konnte, freute er sich doch des von andern Hervorgebrachten. „Mit Vergnügen sah man ihn in größerer Bewegung, wenn eben etwas Neues, wie z. B. die erste Sammlung von Volksliedern oder das Nibelungenlied oder die alemannischen Gedichte seine Phantasie ergriffen, und geschah es dann, daß er in der ersten Aufregung im Lobe etwas übertrieb.“ So schreibt Stephan Schütze von ihm nach persönlichen Eindrücken, und weiter: „Er haßte die Kritiker, die an den Fehlern haften und in der Negation sich herumdrehen. Von ihm konnte man lernen, zu genießen . Er hielt sich an das Schöne eines Kunstwerkes und sagte dann wohl bei einer Eigenheit: „Das muß man nun dem Künstler zugeben, er will seine Freiheit, will auch seinen Spaß haben.“ Wenn nur etwas Freude machte, ging seine Nachsicht sehr weit. Aus derselben Gesinnung heraus haßte er alle witzelnde Verzerrung des Schönen. „Wie ich ein Todfeind sei von allem Parodieren und Travestieren, hab ich nie verhehlt; aber nur deswegen bin ich‘s, weil dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große herunterzieht, um es zu vernichten; ja selbst den Schein sehe ich nicht gern dadurch verjagt.“ Einmal prägte er gegen Zelter das Wort: „Man ist nur insofern zu achten, als man achtet.“
Unduldsam sind wir namentlich leicht gegen Jüngere. Ihm war es zweifelhaft, ob er mit siebzig Jahren gescheiter sei, als er mit vierzig gewesen, und „für uns Ältere ist es immer schwer, junge Leute kennen zu lernen; entweder sie verbergen sich vor uns oder wir beurteilen sie aus unserm Standpunkt.“ Als seine Schwiegertochter einmal um ein Nichts eine törichte Reise machen wollte, lachte er dazu, denn „ein solches Nichts ist der Jugend oft unendlich viel. Man muß oft etwas Tolles unternehmen, um nur wieder eine Zeit lang leben zu können.“ Ein andermal meinte er: „Wenn man in der Jugend nicht tolle Streiche machte und mitunter einen Buckel voll Schläge mit wegnähme, was wollte man denn im Alter für Betrachtungsstoff haben?“
Schon die Kinder wollte er sehr nachsichtig behandelt wissen. „Ein Blatt, das groß werden soll, ist voller Runzeln und Knittern, eh es sich entwickelt; wenn man nun nicht genug Geduld hat und es gleich so glatt haben will, wie ein Weidenblatt, dann ists übel.“ Darum hielt er auch die Kinderspiele heilig, so unbequem sie den Erwachsenen oft auch sind. Noch als Geheimer Rat hat er mit den kleinen Herders und Wielands Ostereier gesucht und für ihre Bewirtung gesorgt, und alle Kinder hatten ihn lieb, weil er so schön mit ihnen spielen und so wunderbare Geschichten erzählen konnte. Einen Sohn seiner Freundin Charlotte v. Stein nahm er in sein Haus, um ihn zu unterrichten und sich an der Entwickelung des Knaben zu erfreuen. Wenn in seinem Alter die Enkelchen über seiner Decke zu sehr lärmten, half er sich dadurch heraus, daß er Frankfurter Gebäck hinaufschickte; sie sollten um die einzelnen Stücke Lotto spielen: dabei mußten sie still sitzen! Goethe war einundachtzig Jahre alt, als Eckermann und Gräfin Karoline Egloffstein einmal zusahen, wie der kleine Wolf seinem Großvater recht viel zu schaffen machte. Er kletterte auf ihm herum und saß bald auf der einen Schulter und bald auf der andern. Goethe erduldete alles mit der größten Zärtlichkeit, so unbequem das Gewicht des zehnjährigen Knaben seinem Alter auch sein mochte. „Aber, lieber Wolf,“ sagte die Gräfin, „plage doch deinen guten Großvater nicht so entsetzlich! er muß ja von deiner Last ganz ermüdet werden.“ — „Das hat gar nichts zu sagen,“ erwiderte Wolf; „wir gehen bald zu Bette, und da wird der Großvater Zeit haben, sich von dieser Fatigue ganz vollkommen wieder auszuruhen.“ — „Sie sehen,“ nahm Goethe das Wort, „daß die Liebe immer ein wenig impertinenter Natur ist.“
Wie von ihm die Maxime herrührt: „Und die Polizei störe die Freude nicht!“ so wollte er namentlich auch die Jugend von ihr beschützt wissen. Er beneidete England um die größere Freiheit seiner Jugend. 218 „Ich brauche nur in unserm lieben Weimar zum Fenster hinauszusehen, um gewahr zu werden, wie es bei uns steht. Als neulich der Schnee lag und meine Nachbarskinder ihre kleinen Schlitten auf der Straße probieren wollten, sogleich war ein Polizeidiener nahe, und ich sah die armen Dingerchen fliehen, so schnell sie konnten. Jetzt, wo die Frühlingssonne sie aus den Häusern lockt, und sie mit ihresgleichen vor ihren Türen gern ein Spielchen machten, sehe ich sie immer geniert, als wären sie nicht sicher und als fürchteten sie das Herannahen irgend eines polizeilichen Machthabers. Es darf kein Bube mit der Peitsche knallen, oder singen, oder rufen, sogleich ist die Polizei da, es ihm zu verbieten. Es geht bei uns alles dahin, die liebe Jugend frühzeitig zahm zu machen, und alle Natur, alle Originalität und alle Wildheit auszutreiben, so daß am Ende nichts übrig bleibt als der Philister.“ Als man wegen einigen vorgekommenen Übermuts die Johannisfeuer auf den Bergen um Jena verbot, wo die Knaben alte Besen und altes Gerümpel zu verbrennen liebten, da gab Goethe den Vers weiter:
„Johannisfeuer sei unverwehrt,
Die Freude nie verloren!
Besen werden immer stumpf gekehrt
Und Jungens immer geboren.“
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Oben ist Goethes Duldsamkeit in Verbindung gebracht mit seinem Bewußtsein eigener Mängel. Eine andere Quelle dieser Tugend ist sein Streben nach Sachlichkeit, von dem schon in einem früheren Kapitel die Rede war, und diese Sachlichkeit hängt wieder mit einem Stück Frömmigkeit zusammen: der Ergebung in Gott, in den von Gott gewollten Zustand und Verlauf der Dinge. Diese unbedingte Ergebung bezeichnet unser Dichter im „Divan“ als „höchstes politisch-sittlich-religiöses Gesetz.“ Sobald wir uns in unser Schicksal ergeben, so löcken wir nicht wider den Stachel, sondern suchen das Neue immer wieder unter alte Gesetze zu bringen, und wir tragen leichter, was wir begreifen. Goethe nahm die Tatsachen ruhig-demütig hin und wollte sie nicht anders haben. Der einzige Sohn machte ihm viel Kummer, und ehe er noch zu einem nützlichen Leben gelangt war, raffte ihn im fernen Lande der Tod dahin. Als man dem Vater die traurige Kunde brachte, zwang er seine leidenschaftliche Erregung mit dem Worte nieder:
Non ignoravi me mortalem genuisse, und ruhig sagte er dann zur Schwiegertochter: „August kommt nicht wieder, desto fester müssen wir beide an einander halten.“ Er wurde freilich durch solche Nachrichten im Innern so bewegt, daß er in Ortsveränderungen oder in angespannten neuen Arbeiten Trost und Ablenkung suchen mußte, und auf dieses krampfhafte Arbeiten und Ablenken der Gedanken pflegte eine schwere Krankheit zu folgen, aber er zwang sich zu vollkommener äußerer Ruhe, um auch das Innere zu beruhigen. „Nur Ruhe! nur Ruhe!“ pflegte er auszurufen, wenn etwas Aufregendes zu Tage trat. „Denn ihm war es Bedürfnis, von jedem noch so heterogenen Zustande einen deutlichen Begriff zu gewinnen, und die unglaubliche Fertigkeit, mit der er jedes Ereignis, jeden persönlichen Zustand in einen Begriff zu verwandeln wußte, ist wohl als das Hauptfundament seiner praktischen Lebensweisheit anzusehen, hat sicher am meisten beigetragen, ihn, den von Natur so leidenschaftlichen, so leicht und tief erregbaren, unter allen Katastrophen des Geschicks im ruhigen Gleichgewicht zu erhalten. Zudem er stets das geschehene Einzelne sofort an einen höheren allgemeinen Gesichtspunkt knüpfte, in irgend eine erschöpfende Formel aufzulösen suchte, streifte er ihm das Befremdliche oder persönlich Verletzende ab und vermochte nun, es in der Form naturmäßiger Gesetzlichkeit ruhig zu betrachten, ja als ein Geschichtliches, gleichsam nur zur Erweiterung seiner Begriffe Erscheinendes, zu neutralisieren. Wie oft hörte ich ihn äußern: „Das mag nun werden, wie es will, den Begriff davon habe ich weg; es ist ein wunderlicher komplizierter Zustand, aber er ist mir doch völlig klar.“ So gewöhnte er sich denn immer mehr, alles was im nähern und weitern Kreise um ihn vorging, als Symbol, ja sich selbst nur als geschichtliche Person zu betrachten, ohne darum an liebevoll persönlicher Teilnahme für Freunde und Gleichgesinnte abzunehmen.“
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So erzählt uns der Kanzler v. Müller, der unter Goethes Freunden in alten Tagen der selbständigste Urteiler war. Er sagt hier wieder, was wir schon öfters bemerkten: daß Goethe von Natur leidenschaftlich, leicht und tief erregbar war. Daher kam es, daß er den Zunächststehenden oft gar nicht sachlich oder duldsam erschien, daß sie einen Widerspruch zwischen seinen Lehren und Handlungen schmerzlich bemerkten. Der Gräfin Karoline v. Egloffstein ging es auch so, bis sie den Kanzler das Urteil fällen hörte, Goethe sei äußerst tolerant mit dem Verstande, jedoch nicht immer mit dem Gemüte. „Was mir bisher in Goethes Charakter rätselhaft gewesen, lösten diese wenigen Worte.“ Wir drücken es vielleicht noch richtiger als der Kanzler aus, wenn wir sagen: Goethes Sachlichkeit, Gerechtigkeit und Duldsamkeit waren nicht angeboren, sondern erst durch mühsame Selbsterziehung erworben, und zuweilen sprengte das reizbare, heftige, herrische Naturell die freiwillig angenommenen Fesseln. Das muß immer bedacht werden, wenn von Goethes heiterer Weisheit, olympischer Ruhe, göttlicher Milde die Rede ist: sie fielen ihm nicht wie sein poetisches Talent als glückliche Gaben in den Schoß, sondern es sind in saurem Kampfe eroberte Schätze. Von Haus aus war er ein Mensch, der mit den Zähnen knirschte und den Füßen stampfte, der unangenehme Bücher und Bilder an den Tischecken entzwei schlug, der Anfällen von Trübsinn oder Wut oder unbändiger Lustigkeit ausgesetzt war. „Er ist in allen seinen Affekten heftig,“ sagt Kestner über den jungen Goethe in der Wetzlarer Zeit, aber schon damals mußte er hinzufügen: „er hat jedoch oft viel Gewalt über sich.“ Und Goethe fährt gewissermaßen fort in einem Satze, den im August 1805 Sulpiz Boisserée von ihm hörte: „Der Mensch, der Gewalt über sich hat und behauptet, leistet das Schwerste und Größte.“
Goethes sittliche Größe besteht darin, daß er der Gebildetste aller Menschen wurde. Nicht sündlos-rein steht er vor uns, sondern gereinigt, nicht als Heiliger, sondern als menschlicher Freund, dem wir Schritt für Schritt folgen können, weil er sittlich nicht höher veranlagt war als wir auch. Die Versuchungen, die uns umgeben, waren auch gegen ihn stark; nichts Menschliches war ihm fremd. Darum übt Goethes Leben und Charakter auf alle einen großen Zauber aus, die auf Bekehrungswunder verzichtet haben und sich selbst und die Welt nur noch durch allmähliche Bildung langsam umzuwandeln hoffen. Der englische Methodist weiß Tag und Stunde anzugeben, wann er aus einem Sünder ein Erlöster geworden, der grunddeutsche Goethe hatte nur ein stilles Vorwärtsschreiten aufzuweisen. Sollen wir sagen, wo die größere Wahrhaftigkeit ist? Die größere Bescheidenheit? Es gehört freilich zum beständigen Weiterschreiten viel Entsagung, eben weil es beständig sein muß und weil stets der Tod uns zu Boden streckt, ehe das Ziel erreicht ist. Goethe spricht einmal darüber zu einem Freunde, J. J. Willemer in Frankfurt. „Ich begreife recht wohl, daß Sie bei allen Gütern, womit das Glück Sie begünstigt hat, sich doch manchmal in einer peinlichen Lage befinden, die aber nach meiner Einsicht bloß von einem unvollendeten Streben herkommt. Diejenigen Menschen, die nichts weiter verlangen, als dasjenige, was Welt und Natur gleichsam von selbst geben, sind am besten dran und gewinnen meistens den Vorsprung vor denen, welche Forderungen einer höheren Bildung an sich und andere machen und welchen der Vorschmack höherer Genüsse in ihr Inneres eingepflanzt ist. Dergleichen Anlagen völlig fertig auszubilden, zu wissen, was wir selbst sollen und vermögen, und was wir von unsern Umgebungen erwarten können, darüber geht meistenteils das Leben hin, und man darf wohl sagen, daß der isolierte Mensch hier niemals zum Ziele gelangt; ja sogar, wenn er auch so glücklich wäre, mit Gleichgesinnten zu wirken, so wird er sich doch nur dem Unerreichbaren immer mehr und mehr anzunähern scheinen.“
Solche pessimistisch aussehenden Wahrheiten hat Goethe zu andern Zeiten durch die Zuversicht erhellt, daß irgendwie nach dem Tode zur Klarheit gelange, „wer immer strebend sich bemüht.“ Das ist das Schlußwort im „Faust“ und das hat er oft gelehrt. Einmal heißt es:
„Irrtum verläßt uns nie, doch zieht ein höher Bedürfnis
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.“
Ein andermal:
Diese Richtung ist gewiß:
Immer schreite, schreite!
Finsternis und Hindernis
Bleiben dir bei Seite.
Wer solches beständiges Vorwärtsschreiten lehrt, predigt zugleich auch eine Tugend der Unzufriedenheit. Goethes größte Dichtung ist das hohe Lied dieser Tugend. Was seinen Dr. Faust von aller Umgebung unterscheidet, ist, daß er sich nicht genügen lassen kann wie die andern. Wagner und der ältere Schüler (im zweiten Teile) sind aufgebläht von ihrem Wissen, das Volk am Ostermorgen lebt in Aberglauben und wilder Lust einen fröhlichen Tag, den Studenten in Auerbachs
Keller ist es ganz kannibalisch wohl, Gretchen und ihren Nachbarn wäre es behaglich bei kleinbürgerlicher Ehrbarkeit und Wohlhabenheit, der Kaiser kommt durch seinen Leichtsinn und seine Lust an Schmausen und Gepränge über alle Verdrießlichkeiten hinweg, dem Erzbischofe ist wohl im Dienste der heiligen Kirche, Philemon und Baucis sind in ihrer frommen Einfalt glücklich. Nur Faust wird nie satt; er ist zwar kein Nörgler wie der Bürger, dem der neue Bürgermeister nicht gefällt, und kein herzloser Spötter, kein stets verneinender Geist wie Mephisto, aber er verlangt nach Geisterbrot und himmlischem Trank, „und alle Näh und alle Ferne befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.“ Diesen ungenügsamen Grübler nennt Goethes Gott seinen Knecht, ihn übergibt er zuversichtlich den Versuchungen des Teufels, der solchen strebenden Geist ja doch nicht ganz von seinem Urquell abziehen kann. Immer wieder triumphiert Fausts edle Ungenügsamkeit über die List und Kunst Mephistos, bis endlich den hundertjährigen Greis die eine irdische Aufgabe befriedigt: auf jungfräulichem Erdboden Gründer eines neuen, glücklichen Gemeinwesens zu werden. Nun endlich glaubt der Teufel sein Ziel erreicht zu haben, aber er hat das höhere Gesetz vergessen: daß ein so rastloses, immer reiner werdendes Streben, selbst wenn es über Irrtum und Schuld hinweggeht, uns zu jenen Höhen hinaufführt, wo die Gnade Gottes uns ergreifen kann. Solch ein Strebender wie Faust war auch Goethe und darum durfte auch er auf die Arme des allliebenden Vaters seine Hoffnung setzen.
Ebenso predigte Goethe die fromme Liebe in seinen Werken und im Leben, gewöhnlich in der Fassung: duldet einander, gönnt jedem Menschen und jedem Volke seine eigene Art, verzeiht einander die Schwächen und Fehler!
Zuweilen fügt er auch hinzu, daß diese Liebe und Güte auch das Praktischere und Vernünftigere sei. Am 7. November 1816 drückt er in einem Briefe an Zelter in Berlin seine Befriedigung aus über die letzten Sommer, die er am Rhein und Main verbracht: „denn ich habe ja nur das Testament Johannis gepredigt: Kindlein, liebt euch, und wenn das nicht gehen will: laßt wenigstens einander gelten. Und da wirst Du mir Beifall geben: wenn diese himmlische Botschaft in Eurem Ninive einigermaßen griffe, so wärt Ihr ganz andere Leute, ohne mehr oder weniger zu sein, als Ihr seid.“ Ein ethisches Testament Goethes ist die „Novelle“, die er 1827 vollendete; er hat sich dreißig Jahre mit dem Thema getragen, obwohl Schiller und Humboldt es ablehnten. Die Lehre, die unerwartet aus der Erzählung wie eine Blüte aus der Pflanze hervorbricht, ist: Liebe und Güte sind stärker als Heldenkraft und Waffengewalt; ein unerschrockener Mann kann einen Löwen töten , aber wenn der Mensch zum gütigen, verständigen, sorgenden Freunde des Löwen wird, kann er ihn zähmen und veredeln , bis am Ende ein schwaches Kind das stärkste Tier als Meister lenkt. — —
Was aber Goethe der Mitwelt und Nachwelt zu sagen hatte, lehrte er nicht in pfäffischer Art, sondern er ehrte jedes Menschen eigene Erkenntnis und freie Entscheidung. „Wie lange wird es dauern,“ sagte er 1809 zu Falk, „so werden sie auch an mich glauben und mir dies und jenes nachsprechen! Ich wollte aber, sie behaupteten ihr Recht und öffneten ihre Augen selbst.“
Ende
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