Wir haben von Goethe viele Bilder, aber sie sind sehr unähnlich untereinander. Und ebenso verschieden sind die Schilderungen derer, die ihm in seinem Stadthause aufwarteten. Die einen fanden ihn sehr groß, die andern „keineswegs von hervorragender Größe“ die einen erblickten ein Ideal männlicher Schönheit, die andern wissen davon nichts zu berichten; den einen erschien er überaus sympathisch, mit einem einzigen Blicke Liebe und Verehrung erweckend, den andern war er „ein langer, alter, eiskalter Reichsstadtsyndikus“ und sie atmeten auf, wenn sie seine Eisluft hinter sich hatten. So verschieden sehen die Menschen durch ihre Gefühle hindurch, aber Goethe war auch nicht immer der Gleiche. Groß erschien er, wenn er sich recht steif und gerade hielt und würdig auftrat, und das pflegte er Fremden gegenüber zu tun; in Wirklichkeit war er nicht so groß, wie wir ihn uns gern denken. Nach einer Marke im Gartenhause, die für sein Maß gilt, würden wir ihm heute 1,77 m zuschreiben. Und seine Schönheit hing sehr von den Stimmungen ab; in erhöhten Stunden sahen seine Freunde in ihm einen Apollo oder Jupiter, kritische Betrachter dagegen bemerkten einige Pockennarben im Gesicht und fanden, daß seine Beine zu kurz seien. Ein Bild des jungen Mannes entwarf ein langjähriger Kammerdiener: „Als ich bei ihm kam, mochte er etwa siebenundzwanzig Jahre alt sein; er war sehr mager, behende und zierlich, ich hätte ihn leicht tragen mögen.“ Gleim bemerkte um die gleiche Zeit „außer einem Paar schwarzglänzender italienischer Augen, die er im Kopfe hatte,“ nichts Auffallendes. Schiller spürte 1788 noch Neid gegen den vom Glück so sehr Bevorzugten. „Er trägt sich steif, geht auch so, sein Gesicht ist verschlossen, aber sein Auge sehr ausdrucksvoll, und man hängt mit Vergnügen an seinem Blicke. Bei vielem Ernst hat seine Miene doch viel Wohlwollendes und Gutes. Er ist brünett und schien mir viel älter auszusehen, als er es sein kann. Seine Stimme ist überaus angenehm.“ Der junge Assessor Müller, der später als erster Justizbeamter des Landes den Titel „Kanzler“ führte und Goethes Freund und schließlich auch sein Testamentsvollstrecker wurde, zeichnet ihn nach der ersten Begegnung 1801: „Goethe spricht sehr ruhig und gelassen, wie etwa ein bedächtiger kluger Kaufmann; sein Auge ist scharf; er war recht artig und gesprächig.“ Den älteren Mann scheint C. E. v. Weltzien 1820 sehr unparteiisch zu zeichnen: „Sein Gesicht hat ungeachtet der tiefen Furchen und Runzeln, die zweiundsiebzig Lebensjahre hineingegraben haben, einen außerordentlichen Ausdruck, den ich aber ganz anders fand, als ich erwartete: nichts von Arroganz, nichts von Menschenverachtung, sondern etwas ganz Unnennbares, wie es Männern eigen zu sein pflegt, die durch vielfältige Erfahrungen und Schicksale und gleichsam im Kampf durch das Leben gegangen sind und nun im Gefühl ihrer wohlerhaltenen Integrität mit beneidenswerter Gemütsruhe der Zukunft entgegensehen. In diesem Ausdrucke mischt sich bei Goethe ein unverkennbarer Zug von Herzensgüte und zugleich ein andrer von besiegter ehemaliger Leidenschaftlichkeit, welche noch in dem unsteten Wesen seines Blicks sich offenbart. Diesem Ganzen verleiht das graue Haar einen noch größeren Zauber.“ Ganz ähnlich scheint Goethe selbst über sein Aussehen gedacht zu haben, denn 1818 schreibt er in dem Aufsatze „Antik und modern“: „Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte, nachdem er mich bei dem ersten Zusammentreffen nur überhin angesehn und gesprochen, zu seinen Freunden: Voilà un homme qui a eu de grands chagrins! Diese Worte gaben mir zu denken. Der gewandte Gesichtsforscher hatte recht gesehen, aber das Phänomen bloß durch den Begriff von Duldung ausgedrückt, was er auch der Gegenwirkung hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer guter Deutscher hätte vielleicht gesagt: „Das ist auch einer, der sich's hat sauer werden lassen!“
Ebenso wie in Haltung und Auftreten, so war Goethe auch in der Kleidung das volle Gegenteil Friedrichs des Großen, von dessen verschabtem blauen Rock und buckliger Gestalt er einmal spricht. Zwar in jungen Jahren legte auch er wenig Wert auf seine Kleidung und namentlich fragte er nicht nach Mode oder Sitte und erregte dadurch in Frankfurt oft Anstoß. Wo alle andern in feierlichen Kleidern erschienen, war er nachlässig gekleidet, „er ist ganz sein, richtet sich nach keiner Menschen Gebräuche“, schreibt der Maler Kraus 1775 von ihm; daß er im Hause der vermeintlichen Schwiegermutter Schönemann elegant und modisch auftreten sollte, um zu ihrem Vermögen, ihrer Geselligkeit und ihren Möbeln zu passen, behagte ihm gar nicht; lieber ließ er sich von den Freunden Bär oder Hurone oder Westindier schelten. Am liebsten ging er in grauem Biberfrack mit lose geschlungenem braunseidenen Halstuch. Als er dann im Frühjahr 1775 mit den Grafen Stolberg seiner Braut und ihrer Mutier entfloh, trugen sie alle „Werther-Uniform“, d. h. blauen Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste, Lederhose und Stulpenstiefel; namentlich die Stiefel waren ganz gegen die damalige Kleiderordnung, die in besserer Gesellschaft seidene Strümpfe und Schuhe vorschrieb. Auch nach Weimar kam er in dieser Kleidung und entzückte die „Miesels“, d. h. die zum Kokettieren bereiten jungen Damen. Auf einer Silhouette von 1779 sehen wir ihn mit Haarbeutel, Spitzenkrause, eng anliegendem Rock, der bis zum Knie reicht, und hohen Stiefeln mit Sporen. Matthisson schildert ihn 1783 als „stattlichen Mann in goldverbrämtem blauen Reitkleid“.
Goethe wechselte offenbar gern zwischen sehr schlichten und sehr feinen Anzügen. Die Freunde sahen ihn im Alter zuweilen in Hemdsärmeln sitzen, wenn der Tag heiß war, oder im Winter im dicken wollenen Wams behaglich an seinem geliebten breiten Ofen stehen. Er empfing auch wohl Fremde im weißen flanellenen Schlafrock, und wenn ihn in diesem Kostüm gerade ein Bruder Napoleons überraschte, brachte ihn das auch nicht in Verlegenheit. Aber in der Regel trat er Fremden doch in der Kleidung entgegen, die zu seinem Range paßte. Weltzien notiert 1820: „Ganz in Gala, schwarzer feiner Frack, worauf der große Stern des Falkenordens prangte, schwarze Pantalons nebst Stiefeln, eine weiße Weste und sehr feine Manschetten, so daß ich nicht begreifen konnte, wie ein Mann in solchem Alter sich zu Hause solchen Zwang antut.“ Gustav Carus erwähnt 1821: „blauen Zeugüberrock, kurzes, etwas gepudertes Haar“. Der Pole Odyniec sah 1829 „einen dunkelbraunen, von oben herab zugeknöpften Überrock, auf dem Halse ein weißes Tuch, das durch eine goldene Nadel kreuzweis zusammengehalten wurde, keinen tragen.“ In zwei verschiedenen Gestalten erschien er 1826 dem Dichter Grillparzer. Zuerst in einer großen Gesellschaft: „schwarz gekleidet, den Ordensstern auf der Brust, gerader, beinahe steifer Haltung trat er unter uns, wie ein Audienz gebender Monarch.“ Ein paar Tage später gingen sie im Hausgarten auf und ab, und Goethe war viel gemütlicher und herzlicher. „Sein Anblick in dieser natürlichen Stellung, mit einem langen Hausrock bekleidet, ein kleines Schirmkäppchen auf den weißen Haaren, hatte etwas unendlich Rührendes. Er sah halb wie ein König aus und halb wie ein Vater.“
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„Und schreien kann er wie 10000 Streiter,“ schreibt Felix Mendelssohn in der Übertreibung, die die Jugend liebt, „einen ungeheuren Klang der Stimme hat er.“ Alle Berichte sagen, daß Goethes Stimme ein sehr wohlklingender Baß gewesen sei, und daß er rezitierend oder deklamierend großen Eindruck machte. Uns Heutige würde es freilich sehr stören, daß der berühmte Dichter ebenso wie Schiller und fast alle Zeitgenossen seinen Heimatdialekt sein Leben lang beibehielt; eine Schulsprache gab es ja noch nicht und ebenso wenig hatte das Theater die Deutschen in dieser Hinsicht schon einiger machen können. So sprach Goethe „frankfortsch“, und dem Berliner, der sich über das Berlinische seiner Landsleute nicht wunderte, fiel das natürlich auf. Auch dem Dr. Parthey der am 28. August 1827 mit dem jungen Goethe nahe der Tür eines Zimmers stand, in dem der Dichter die Fürstlichkeiten, die ihm zum Geburtstag gratulierten, empfing. Goethe trat plötzlich heraus und sagte eilig zu seinem Sohne im echtesten Frankfurter Dialekte:
„August, der König von Bayern will ä Glas Wasser habbe!“
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Gern aber entfloh er dieser eigenen hochgebauten Festung und lebte in den Tälern als Mensch unter Menschen. Gegen seinen böhmischen Freund Grüner klagte er, daß er in Weimar abstoßend sein müsse, weil sonst jeder etwas von ihm wolle. Deshalb verbrachte er gern ganze Monate im nahen Jena, wo er ungestört arbeiten konnte, oder in Bädern; deshalb reiste er auch gern unter fremdem Namen. Er hatte schon als Jüngling viel Lust zu Mummereien und hat oft in Verkleidungen seinen Scherz getrieben; später ward die Verkleidung eine Notwehr gegen seinen berühmten Namen und eine gelegentliche Absonderung von sich selbst, wie er sie in seiner Verehrung der Objektivität liebte. Am wohlsten fühlte er sich, wenn er unerkannt reisen und behaglich unter dem Volke sich bewegen konnte. Nach Italien fuhr er 1786 als der Kaufmann Philipp Möller aus Leipzig, und schon aus Bayern schreibt er ganz vergnügt über seinen neuen Zustand an Frau v. Stein: „Da ich ohne Diener bin, bin ich mit der ganzen Welt Freund. Jeder Bettler weist mich zurechte und ich rede mit den Leuten, die mir begegnen, als wenn wir uns lange kennten. Es ist mir eine rechte Lust.“ Dann machte es ihm Spaß, daß er einem alten Weibe für einen Kreuzer Birnen abkaufen und sie publice „wie ein anderer Schüler“ verzehren konnte. „Herder hat wohl recht, daß ich ein großes Kind bin und bleibe, und jetzt ist mir so wohl, daß ich ungestraft meinem kindischen Wesen folgen kann.“ In Italien hielt er es ebenso. Er machte sich zum Italiener, trug die Kleidung der mittleren Bürger, gewöhnte sich ihre Geberden und Bewegungen an und lernte ihre Sprache so gut, daß er auf Märkten und Gassen unauffällig sich unter das Volk mischen, seine harmlose Fröhlichkeit, sein Leben und Lebenlassen teilen konnte. Jeden Tag genoß er es, daß er hier kein Geheimer Rat, sondern nur Mensch unter Menschen war, und oft hat er nachher diese zwei Jahre in Rom und Italien als die glücklichste Zeit seines Lebens bezeichnet. Es mag ein stillvergnügtes Treiben gewesen sein, als Filippo Miller, Georgio Zicci, Federico Bir und Tisben, d. h. Goethe, Schütz, Bury und Tischbein, bei dem Kutscher Collina und seiner Piera Giovanna wohnten, dem „redlichen alten Paar, die alles selbst machen und für uns wie die Kinder sorgen“. Wenn es ging, mischte er sich auch in Deutschland unter die kleinen Leute und lebte mit ihnen. Seine Winterreisen in den Harz waren auch Ausflüge aus der offiziellen Welt, und die Briefe, die er im Dezember 1777 aus Goslar an die geliebte Frau v. Stein schrieb, durchleuchtet seine Liebe zum schlichten Menschentum und gemütlichen Verkehr: „Mir ist's eine sonderbare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen; es ist mir, als wenn ich mein Verhältnis zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte. Ich heiße Weber, bin ein Maler, habe Jura studiert, oder ein Reisender überhaupt, betrage mich sehr höflich gegen jedermann und bin überall wohl aufgenommen. Eine reine Ruh und Sicherheit umgibt mich.“ — „Hier bin ich nun wieder in Mauern und Dächern des Altertums versenkt. Bei einem Wirte, der gar viel Väterlichs hat; es ist eine schöne Philisterei im Hause; es wird einem ganz wohl. — — Wie sehr ich wieder auf diesem dunkeln Zug Liebe zu der Klasse von Menschen gekriegt habe, die man die niedere nennt, die aber gewiß für Gott die höchste ist! ... Ich trockne nun jetzt an meinen Sachen! Sie hängen um den Ofen. Wie wenig der Mensch bedarf und wie lieb es ihm wird, wenn er fühlt, wie sehr er das Wenige bedarf.“ — — —
Diesen schlichten, gemütlichen Menschen, dem Frau v. Stein für die Reise Zwieback in Papier wickelte, der sie um dicke, warme Strümpfe bat, der in Italien oder im Harze mit armen Leuten fröhlich plauderte und lachte, ihn bekamen freilich die Fremden in Weimar nicht zu sehen. Für sie war er oft genug unzugänglich, selbst wenn sie die erste Mauer durchdrungen hatten und mit ihm auf seinem Sopha saßen. Er konnte ganz gründlich schweigsam sein und sich auf hm, hm! so! so! und dergleichen Interjektionen beschränken, die nicht gut als goldene Offenbarungen des unvergleichlichen Genies zu verbreiten waren. Zuweilen, wenn er viele überflüssige Besuche erwarten mußte, brauchte er auch wohl die Kriegslist, unwohl zu sein und im Bette zu liegen, von wo aus er ja doch auch dem Schreiber diktieren oder mit Eckermann plaudern konnte. Oder er wies die Besucher einfach ab. „Man muß den Leuten abgewöhnen, einen unangemeldet zu überfallen,“ sagte er 1824 zum Kanzler v. Müller, „man bekommt doch immer andre, fremde Gedanken durch solche Besuche, muß sich in ihre Zustände hineindenken. Ich will keine fremden Gedanken, ich habe an meinen eigenen genug, kann mit diesen nicht fertig werden.“ Bewundernswert ist aber doch, daß er so viele, so unbedeutende Menschen annahm, und oft erscheint er uns merkwürdig gutmütig. Einmal meldete ihm, dem Achtzigjährigen, der Gärtner auf der Dornburg, drei Studenten seien draußen, aber Goethe mochte nicht gestört sein: „Ich weiß nicht, was die jungen Leute immer von mir wollen.“ Der Gärtner verriet durch seine traurige Miene, daß er den Studenten Hoffnung auf gute Aufnahme gemacht hatte. „Nun, wenn es Ihnen lieb ist, lassen Sie sie immer herein!“ und er entzückte die Jünglinge so, daß sie nachher auf sein Wohl einige Flaschen Wein begeistert leerten.
Gegen Plagegeister, die ihm seine Pläne durchkreuzten und die Zeit verdarben, konnte er recht deutlich sein, selbst wenn es Damen waren. Freilich wurde er gerade von weiblicher Bewunderungssucht arg belästigt.
Der Maler v. Kügelgen hat in seinen „Erinnerungen eines alten Mannes“ eine drollige Geschichte erzählt. Es war in Dresden am 24. April 1813. Goethe trat bei seiner Mutter ein und bat sie, von ihrem Fenster aus den Einzug des russischen Kaisers und des preußischen Königs, ohne sie zu stören, ansehn zu dürfen. Frau v. Kügelgen, als innerlich vornehme Dame, verstand, daß er ungestört sein wolle, und so vermied sie es, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, während er mit Behagen am Fenster stand, nach seiner Art die Hände auf dem Rücken. Sie mußte, wie sehr ihn die schöngeistigen Damen sonst bedrängten, und schwieg deshalb. Da fing Goethe mit ihr und ihrem kleinen Knaben von selber freundlich zu plaudern an. Lassen wir diesen Knaben als alten Mann weiter erzählen!
„Indem ward heftig an der Klingel gerissen. Ich sprang fort, um die Tür zu öffnen, und herein drang eine unbekannte Dame, groß und stattlich wie ein Kachelofen und nicht weniger erhitzt. Mit Hast rief sie mich an: „Ist Goethe hier?“ — „Goethe!“ Das war kurz und gut. Die Fremde gab ihm gegen mich, den fremden Knaben, weiter kein Epitheton, und kaum hatte ich Zeit, mein einfaches Ja herauszubringen, als sie auch schon, mich fast übersegelnd, unangemeldet und ohne üblichen Salutschutz wie ein majestätischer Dreidecker in dem Zimmer meiner Mutter einlief. Mit offenen Armen auf ihren Götzen zuschreitend, rief sie: „Goethe! ach Goethe! wie habe ich Sie gesucht! Und war denn das recht, mich so in Angst zu setzen!“ Sie überschüttete ihn nun mit Freudenbezeugungen und Vorwürfen.
Unterdessen hatte sich der Dichter langsam umgewendet. Alles Wohlwollen war aus seinem Gesichte verschwunden, und er sah düster und verstimmt aus wie eine Rolandssäule. Auf meine Mutter zeigend, sagte er in sehr prägnanter Weise: „Da ist auch Frau v. Kügelgen!“ Die Dame machte eine leichte Verbeugung, wandte dann aber ihrem Freunde, dessen üble Laune sie nicht bemerkte, ihre Breitseiten wieder zu und gab ihm eine volle Ladung nach der andern von Freudenbezeugungen, daß sie ihn glücklich geentert, beteuernd, sie werde sich diesen Morgen nicht wieder von ihm lösen. Jener war in sichtliches Mißbehagen versetzt. — — Er knöpfte seinen Oberrock bis ans Kinn zu, und da mein Vater eintrat und die Aufmerksamkeit der Dame, die ihn kannte, für einen Augenblick in Anspruch nahm, war Goethe fort.“
Noch komischer ist, was die Frau Dutitre, eine Berliner Berühmtheit, manches Mal mit Stolz erzählte:
„Ick hatte mir vorgenommen, den großen Goethe doch ooch mal zu besuchen, und wie ick mal durch Weimar fuhr, ging ick nach seinem Garten und gab dem Gärtner einen harten Thaler, daß er mir in eine Laube verstechen und einen Wink geben sollte, wenn Goethe käme. Und wie er nun die Allee runter kam und der Gärtner mir gewunken hatte, da trat ich raus und sagte: „Angebeteter Mann!“
Da stand er stille, legte die Hände auf den Rücken, sah mir groß an und fragte: „Kennen Sie mir?“
Ich sagte: „Großer Mann, wer sollte Ihnen nicht kennen!“ und fing an zu deklamieren:
„Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt“.
Darauf machte er mir einen Bückling, drehte sich um und ging weiter. So hatte ich denn meinen Willen gehabt und den großen Goethe gesehn.“
Daß er auch für eine schlichte Frau, wenn sie zur rechten Zeit kam, Zeit und Freundlichkeit hatte, war der Gattin des Homerübersetzers, der braven Ernestine Voß, nicht zweifelhaft, als er sie 1814 bei seinem Aufenthalt in Heidelberg besuchte. Willig ließ er sich von ihr das ganze Hauswesen zeigen und besah auch pflichtschuldig den Gänsestall unter der Treppe. Schnell gewann er ihr ganzes Vertrauen.
„Sie sind ja nun einmal ein Mann, der in allen Dingen Bescheid weiß, und so mögen Sie einen Streit schlichten, der zwischen mir und meinem Mann über ein Stück Camelot entstanden ist.“
„Nun, so bringen Sie das Zeug her!“ rief Goethe.
„Mein Mann will einen Schlafrock davon haben und ich einen Vorhang für sein Büchergestell; ich halte das für nötiger, weil die Bücher durch den Staub zu Grunde gehen.“
„Ei was!“ erwiderte Goethe, „was zanken Sie sich darum! Teilen Sie das Stück und machen Sie Ihrem Mann statt des Rockes nur ein Camelotjäckle und aus dem andern Stück können Sie ein Vorhängle für die Bücher machen.“
Viel ungnädiger wurde dagegen in diesen Tagen der Geheime Kirchenrat Schwarz bedient, der als Verfasser eines bekannten pädagogischen Werkes und als Würdenträger sich für berechtigt hielt, Goethes Gesetze zu durchbrechen. Goethe ging morgens ganz früh auf privaten Wegen zur Schloßruine, um den schönen Blick allein und ungestört zu genießen; als er eines Tages zu seinem geliebten Platze kam, saß dort Schwarz, und dieser redete ihn auch sogleich an: er preise sich glücklich, ihn zu sehen und ihn fragen zu können, was er denn eigentlich mit dem „Wilhelm Meister“ beabsichtigt habe; er habe ihn gewiß für ein Erziehungsinstitut geschrieben. Goethe sah ihn mit seinen großen Augen an: „Ja, das habe ich bisher selbst nicht gewußt, doch nun leuchtet es mir vollkommen ein. Ja, ja, ich habe den „Wilhelm Meister“ für ein Erziehungs-Institut geschrieben und bitte Sie, dies ja überall in der Welt bekannt zu machen.“
Aufgeschwollene, affektierte, unwahre Menschen und solche, die nur aus Egoismus zu ihm kamen, behandelte Goethe kurz und grob; auf gedrechselte Reden, Komplimente, nichtssagende Phrasen antwortete er nicht. Sobald er aber etwas Echtes und Gutes in seinem Gegenüber spürte, sobald er fühlte: der Mann möchte dir etwas geben und hat etwas zu geben, zeigte er sogleich seine natürliche Güte. Dann nahm sein Hm hm! nun nun! ja ja! einen eigentümlich gutmütigen Klang an, dann wurde der Stumme zum lebhaften Redner, dann endete er: „Pflege um Zwei zu essen, würde mich freuen, wenn Sie unser Gast sein wollten.“ Holtei hat erzählt, wie er anfangs abblitzte: „Je geistreicher ich zu sein mir Mühe gab, desto abgeschmackter mag ich ihm wohl geschienen haben.“ Und nachher: „Je mehr ich mich gehen ließ, meinem natürlichen Wesen getreu, ohne weitere Ansprüche auf zarten Ausdruck, desto lebendiger wurde der alte Herr.“ Sobald Goethe merkte, daß der Mann ihm gegenüber einen guten Kern hatte, daß er auf irgendeinem Gebiete tüchtig beschlagen war, machte er schnell Freundschaft. So führte ihm der Jenaer Buchhändler Frommann einst einen jungen Osnabrücker Advokaten zu und wunderte sich, wie rasch die beiden in einen herzlichen Disput kamen; Goethe erkannte eben schnell die solide Tüchtigkeit des jungen Gastes, des späteren Bürgermeisters und Ministers Stüve, den diejenigen, die ihn kennen, zu den großen Männern des Jahrhunderts rechnen. Namentlich die Leute, die sich durch seine anfängliche Kälte oder Schärfe nicht verblüffen ließen, flößten ihm ein gutes Vorurteil ein, da sie wahrscheinlich mehr als fahrige Phrasenmenschen sind. So gefiel ihm der Husarenrittmeister Franz von Schwanenfeld. Als dieser Ende Juni 1813 nach Teplitz kam, konnte er kein anderes Zimmer mehr bekommen als ein halb unterirdisches im Gartenhause der Töpferschenke. Eines Morgens sieht er auf einer Bank vor seinem Fenster einen schönen alten Mann sitzen. Ein Diener bringt einen Krug mit Wasser und ein Buch; der Alte trinkt und überläßt sich seinen Gedanken. Mehrere Tage wiederholt sich das, bis es dem Husaren lästig wird, daß der Alte ihm das wenige Licht in seiner Stube noch halb wegnimmt. Der schöne Kopf mit den edlen Zügen reizt ihn auch. Er macht sein Fenster auf und ruft dem Alten einen „Guten Morgen“ zu. Ein ehrfurchtgebietender, streng verweisender, beinahe verächtlicher Blick war die Antwort auf die kühne Anrede des Schnauzbartes. Aber der ließ sich nicht ins Bockshorn jagen. „Sind Sie Hypochonder?“ erscholl es abermals aus dem kleinen Fenster zu Füßen des Unbekannten, der aber wieder nicht antwortete. Der Husar schreit nochmals mit donnernder Stimme: „Sind Sie Hypochonder?“ Nun endlich entfuhr den Lippen des alten Herrn ein Wort, „Sonderbar!“ lautete es. — „Jawohl, sonderbar!“ rief der Rittmeister. „Sie sind krank und sitzen hier im kalten Morgennebel, trinken Ihren Brunnen allein, still und stumm. Da wollte ich lieber Tinte in Gesellschaft saufen und würde eher gesunden. Wissen Sie wohl, daß ich große Lust hätte, mit Ihnen Händel anzufangen?“
Die Augen des Fremden gingen groß auf und durchbohrten fast den Redenden. „Wenn Sie mit Ihrem Heldengesicht mir nur nicht so ungeheuer gefielen!“ Aber auch Goethen gefiel nun der offenherzige Soldat. Sie kamen ins Plaudern, spazierten bald im Garten zusammen und bald Arm in Arm, da der Rittmeister ein lahmes Bein hatte; sie sprachen auch von Schiller und Goethe und Karl August und dem Kriege, und da er immer noch nicht wußte, wen er vor sich hatte, erklärte der Husar sehr unbefangen, daß er für den Tasso schwärme, aber den Werther nicht möge. Der Alte nannte ihn seinen Doktor, weil er ihn von seiner Hypochondrie befreie. Er wolle am nächsten Tage einen Freund mitbringen, der auch gern von der Hypochondrie geheilt sein möchte. Das schien ein Forstmann oder Gutspächter zu sein, und der brave Rittmeister bemühte sich nun, den beiden Alten recht viel lustige Lebensauffassung beizubringen — bis er nach einigen Tagen erfuhr, daß der eine Goethe, der andere Karl August war.
Einen ähnlichen Eindruck wie dieser Rittmeister machte in jungen Jahren der spätere russische General Klinger auf ihn, als er, der Landsmann Goethes und auch einer der „Stürmer und Dränger“, ihn in Weimar aufsuchte. Klinger holte alsbald ein dickes Manuskript heraus und fing an es vorzulesen. Eine Weile hielt Goethe still, dann rief er aus: „Was für verfluchtes Zeug ist’s, was du da wieder einmal geschrieben hast! Das halte der Teufel aus!“ Klinger ließ sich nicht im Geringsten aus der Fassung bringen, steckte ruhig sein Manuskript in die Tasche und meinte: „Kurios! Das ist nun schon der Zweite, mit dem mir das heute begegnet ist!“ Da hatte Goethe Respekt vor ihm und prophezeite ihm eine große Zukunft.
Im Allgemeinen teilte Goethe die Fremden in solche ein, die etwas von ihm begehrten, und solche, die vielmehr ihm eine Freude machen wollten. Das war teils Notwehr, teils der gesunde Egoismus, den er auch theoretisch vertrat. Zum Kanzler v. Müller sprach er 1830 diese Maxime aus, als es sich um das Beantworten von Briefen handelte: „Wenn ich sehe, daß die Leute bloß ihretwegen an mich schreiben, etwas für ihr Individuum damit bezwecken, so geht mich das nicht an; schreiben sie aber meinetwegen, senden sie etwas mich Förderndes, Angehendes, dann muß ich antworten ... Ihr jungen Leute wißt freilich nicht, wie kostbar die Zeit ist.“
Ehe man diesen Standpunkt allzu selbstsüchtig finde, bedenke man die Frage, die der eben genannte Friedrich v. Müller in seiner Gedächtnisrede 1832 aufwarf: „Wie hatte er aber auch, ohne sich selbst zu vernichten, all den unsäglichen, oft unsinnigen Anforderungen und Zumutungen genügen können, die so oft gleich einem Wogenschwall auf ihn eindrangen? Daß fast jeder deutsche Jüngling, der einige glückliche Verse oder vollends ein Trauerspiel geschaffen zu haben vermeinte, Rat oder Urteil von ihm begehrte, möchte noch für ganz natürlich gelten; daß aber auch seinem geistigen Kontakt wildfremde Personen sich oft in den wunderlichsten Fällen, z. B. um eine Heirat, die Wahl eines Lebensberufs, eine Kollekte, einen Hausbau zustande zu bringen, zuversichtlich an ihn wendeten, könnte in der Tat höchst komisch erscheinen, wenn es nicht zugleich bewiese, wie unbeschränktes Vertrauen man weit umher ihm zollte, ja für einen Universalhelfer in geistigen und leiblichen Nöten ihn zu halten geneigt war.“
Besonders mußte sich Goethe gegen Bittsteller verhärten, die für sich oder Andere etwas erbaten. Schon 1787 schrieb er an Kirms, der in der Leitung des Theaters seine rechte Hand war: „In meinem Leben habe ich so oft bemerkt, daß Menschen, die sonst zuverlässig sind, gegen jemand, der eine Stelle zu vergeben hat, gar kein Gewissen haben. Man will die Leute anbringen, und wir mögen nachher sehn, wie wir sie los werden.“ Und aus seinen letzten Lebensjahren erzählt sein Arzt Vogel: Die Schwäche, welche nichts abzuschlagen vermag, kannte er nicht. „Ich halte es doch länger aus,“ meinte er, „die Leute anzuhören, als sie, mich zu drängen. Merken sie nur erst, daß sie einem auf solche Weise etwas abzwingen können, so ist man ewig belagert.“ Wem aber Goethe trotz alledem zu hart und kalt erscheint, der möge lesen, was er 1809 zu Riemer äußerte: „Nur der am empfindlichsten gewesen ist, kann der kälteste und härteste werden; denn er muß sich mit einem harten Panzer umgeben, um sich vor den unsanften Berührungen zu sichern; und oft wird ihm selbst dieser Panzer zur Last.“ Goethe glich hierin seinem Vater, „der, weil er innerlich ein sehr zartes Gemüt hegte, äußerlich mit unglaublicher Konsequenz eine eherne Strenge vorbildete“, und der Sohn stand auch in gleicher Gefahr wie der Vater, den er „nach so viel Studien, Bemühungen, Reisen und mannigfaltiger Bildung endlich zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben führen“ sah. An Zelter aber schrieb unser Dichter, daß er doch der fremden Welt nicht ganz entraten könne, „denn wenn ich gleich meine Zugbrücken aufziehe und meine Fortifikationen immer weiter hinausschiebe, so muß man doch zuweilen auch wieder Kundschaft einziehen“. Die Summe seiner Erfahrungen über den Umgang mit Menschen hat Goethe in zwei Ratschlägen gezogen, die er an Christiane und an junge Freunde richtete. Zu einem der letzteren sprach er 1809: „Verschmäht nie, in euer Streben die Einwirkung von gleichgesinnten Freunden aufzunehmen, sowie ich auch auf der andern Seite angelegentlich rate, ebenfalls nach meinem Beispiele, keine Stunde mit Menschen zu verlieren, zu denen ihr nicht gehört, oder die nicht zu euch gehören; denn solches fördert wenig, kann uns aber im Leben gar manches Ärgernis zufügen, und am Ende ist denn doch alles vergeblich gewesen.“ An Christiane aber schreibt er einmal: „Was die Menschen betrifft, so tu ihnen nur so viel Gefälligkeiten als du kannst, ohne Dank von ihnen zu erwarten. Im Einzelnen hat man alsdann manchen Verdruß, im Ganzen bleibt immer ein gutes Verhältnis ... Behalte mich lieb, wie mein Herz immer an dir und dem Kinde hängt. Wenn man mit sich selbst einig ist und mit seinem Nächsten, das ist auf der Welt das Beste.“
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