Ich drückte meinen Hut auf den Kopf und ging mit untergeschlagenen Armen durch den dicksten Haufen. Fürsten und Schranzen haben Spalier gemacht, der Herzog von Weimar hat vor mir den Hut gezogen und die Kaiserin mich zuerst gegrüßt. Ich sah zu meinem wahren Spaß die Prozession an Goethe vorbeidefilieren, der mit abgezogenem Hut gebückt zur Seite stand. Ich habe ihm nachher schön den Kopf gewaschen.“
Einst tat Goethe dem bekannten Maler von Kügelgen in Dresden den Schmerz an, ihn in einem Briefe „hochwohlgeborener Herr“ anzureden, und Zelter machte ihn auf die unerwünschte Wirkung seiner Förmlichkeit aufmerksam. „Mit Kügelgen geht es mir recht wunderlich,“ erwiderte Goethe, „Ich dachte ihm das Freundlichste zu sagen ... und nun stößt sich der gute Mann an ein äußeres Höflichkeitszeichen, das man denn doch nicht versäumen soll, indem man durch Vernachlässigung desselben manche Personen verletzt. Man hat mir einen gewissen Leichtsinn in diesen Dingen oft übel genommen, und jetzt betrübe ich gute Menschen durch die Förmlichkeit. Legen Sie ja, mein lieber Freund, keinen alten Fehler ab, Sie fallen entweder in einen neuen, oder man hält Ihre neue Tugend für einen Fehler.“
Aus solchen Äußerlichkeiten darf man nicht auf eine unfreie Gesinnung schließen. Goethe hat sicherlich seinem Fürsten und Freunde sehr oft scharf und deutlich die Wahrheit gesagt, auch wenn er ihn nicht öffentlich abkanzelte. In seinen Tagebüchern finden wir Andeutungen davon. „Mit dem Herzog gegessen,“ heißt es am 19. Januar 1782, „sehr ernstlich und stark über Ökonomie geredet und wider eine Anzahl falscher Ideen, die ihm nicht aus dem Kopfe wollen.“ Und ein andermal: „Conseil. Der Herzog zu viel gesprochen. Mit dem Herzog gegessen. Nach Tische einige Erklärungen über zu viel reden fallen lassen, sich vergeben, Sachen in der Hitze zur Sprache bringen, die nicht geredt werden sollten. Auch über die militärischen Makaronis (d. h. Liebhabereien).“ Eben so offen war Goethe in Briefen und Gedichten an den Herzog. 1786 schreibt er: „Wie sich auch Ihr Geschäfte wendet, betragen Sie Sich mäßig und ziehen Sich, wenn es nicht anders ist, heraus, ohne Sich mit denen zu überwerfen, die Sie hineingeführt und kompromittiert haben.“ Namentlich kämpfte er gegen die Lust des Herzogs an Krieg und Soldaten, die so sehr ein Hemmnis für die Besserung der Staatsfinanzen und Vermehrung des Volkswohlstandes waren. „Die Kriegslust, die wie eine Art Krätze unsern Prinzen unter der Haut sitzt, fatiguiert mich wie ein böser Traum, in dem man fort will und soll und Einem die Füße versagen. Sie kommen mir wie solche Träumende vor und mir ist es, als wenn ich mit ihnen träumte. Ich habe auf dieses Kapitel weder Barmherzigkeit, Anteil, noch Hoffnung und Schonung mehr.“ Ebenso trat er dem jagdlustigen Herrn entgegen, wenn die Felder der kleinen Leute unter solcher Liebhaberei litten. Und wenn es sich um Theatersachen handelte, ärgerte sich der Herzog oft genug über seines Untergebenen „Tyrannei“ und „Herrschsucht“.
Auch sonst sind einige Beispiele dafür, daß er nicht nachgab, wo er sich im Rechte fühlte, bekannt geworden, obwohl natürlich Goethe sich nicht selber mit seinem „Mannesmut vor Königsthronen“ gegen andere brüstete.
Einmal wollte Karl August einen andern Orientalisten an die Universität Jena berufen, als Goethe für gut hielt, und suchte seinen Minister zu bereden. Dieser lehnte aber scharf ab, denn die Universität war sein Gebiet, das verstand er besser. Da rief der Herzog: „Du bist ein närrischer Kerl! Du kannst keinen Widerspruch vertragen.“ — „O ja, mein Fürst, aber er muß verständig sein.“
Eine ähnliche Scene erzählt der allerdings zu Übertreibungen neigende Architekt Zahn, der 1827 in Goethes kunstliebendem Hause antike Wandgemälde aus Pompeji vorwies. „Plötzlich erklangen hinter uns straffe Schritte, und als ich mich wandte, erblickte ich einen untersetzten Mann in Feldmütze und kurzem grünsammetnen Jagdrocke mit goldenen Schnüren besetzt. Es war der Großherzog. Er war durch den Garten gekommen und durch die Hintertür eingetreten, von der er stets den Schlüssel hatte. Goethe begrüßte ihn mit den Worten: „Kommen recht zum Gastmahl, königliche Hoheit!“ Karl August hatte eine kurze Meerschaumpfeife in der Hand, aus der er, wo es irgend anging, beständig paffte; aber jetzt ließ er sie ausgehen, denn Goethe verabscheute den Tabak. — — — Der Großherzog lud mich für den folgenden Tag zum Essen, doch Goethe erklärte statt meiner: „Nein, mittags gehört Zahn mir!“ Und Karl August widersprach nicht.“
Als Goethe in Jena ein Stück der alten Stadtmauer fortreißen ließ, um gegen die Feuchtigkeit der Bibliothek das Nötige zu tun, schickte die Stadtverwaltung an den Herzog eine Deputation mit der untertänigen Bitte, daß es doch seiner Hoheit gefallen möge, durch ein Machtwort diesem Beginnen ein Ende zu setzen. „Ich mische mich nicht in Goethes Angelegenheiten,“ erwiderte der Herzog. „Er weiß schon, was er zu tun hat, und muß sehen, wie er zurechtkommt. — Geht doch hin und sagt es ihm selbst, wenn ihr die Courage habt!“
Eckermann erzählt noch ein Geschichtchen, das hierher gehört. Er begleitete im September 1827 seinen Meister auf die Höhe des Ettersberges und Goethe blickte nach Westen, wo man über Erfurt hinaus das hochliegende Schloß Gotha entdecken konnte. Und sie sprachen darüber, warum er jetzt keine Verbindung mehr dahin habe. „Ich bin dort nicht zum besten angeschrieben,“ erzählte Goethe. „Als die Mutter des jetzt regierenden Herrn noch in hübscher Jugend war, befand ich mich dort sehr oft. Ich saß eines Abends bei ihr allein am Teetisch, als die beiden zehn- bis zwölfjährigen Prinzen, zwei hübsche blondlockige Knaben, hereinsprangen und zu uns an den Tisch kamen. Übermütig wie ich sein konnte, fuhr ich den beiden Prinzen mit meinen Händen in die Haare, mit den Worten: „Nun, ihr Semmelköpfe, was macht ihr?“ Die Buben sahen mich mit großen Augen an, im höchsten Erstaunen über meine Kühnheit — und haben mir es später nie vergessen.“
Und der Alte fuhr fort: „Ich hatte vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher, wenn nicht zugleich eine tüchtige Menschennatur dahinter steckte, nie viel Respekt. Ja, es war mir so wohl in meiner Haut, und ich fühlte mich selber so vornehm, daß, wenn man mich zum Fürsten gemacht hätte, ich es nicht eben sonderlich merkwürdig gefunden haben würde. Als man mir das Adelsdiplom gab, glaubten viele, wie ich mich dadurch möchte erhoben fühlen. Allein unter uns, es war mir nichts, gar nichts! Wir Frankfurter Patrizier hielten uns immer dem Adel gleich!“
Hatte er „vor der bloßen Fürstlichkeit als solcher nie viel Respekt,“ so mochte er doch das Feine und Gute am aristokratischen Wesen gern genießen. Gegen Boisserée rühmte er 1815, „was die Verhältnisse zu Fürsten teuer und wert macht,“ das sei: „das Beständige darin, wenn einmal ein Vertrauen entstanden.“ Und noch in seinem Todesjahre sprach er zu Eckermann einmal davon, wie sympathisch ihm ein echter Aristokrat sei, ein Mann wie Karl v. Spiegel, von dem gerade die Rede war. „Seine Abkunft kann er ebensowenig verleugnen, als jemand einen höheren Geist verleugnen könnte. Denn beides, Geburt und Geist, geben dem, der sie einmal besitzt, ein Gepräge, das sich durch kein Inkognito verbergen läßt. Es sind Gewalten wie die Schönheit, denen man nicht nahe kommen kann, ohne zu empfinden, daß sie höherer Art sind.“
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Diese aristokratischen Neigungen hinderten ihn nicht, so freundlich gegen Niedrigstehende zu sein, wie er es ohne Gefahr sein durfte. Von seinen Inkognito-Reisen war schon die Rede, so bleibt namentlich sein Verhältnis zu Untergebenen und Dienern zu prüfen. Er war sich stets bewußt, daß sie an ihrem Platze ebenso nötig sind und ebenso vollkommen sein können, wie er an dem seinen. „So göttlich ist die Welt eingerichtet, daß jeder an seiner Stelle, an seinem Orte, zu seiner Zeit alles übrige gleichwägt.“ So sagte er 1810 zu Riemer, und „wenn der Größte ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann, zieht ihn der ärmste Hallore heraus.“ Und „es ist ganz einerlei, vornehm oder gering sein: das Menschliche muß man immer ausbaden.“ Den ihm unterstellten Beamten gönnte er ziemlichen Ellbogenraum. „Ich suche jeden Untergebenen frei im gemessenen Kreise sich bewegen zu lassen, damit er auch fühle, daß er ein Mensch sei; es kommt alles auf den Geist an, den man einem öffentlichen Wesen einhaucht.“ Er wurde als junger Minister ein Vorbild des Fleißes und der Uneigennützigkeit, „das weimarische Faktotum“ nach Herders und „das Rückgrat der Dinge“ nach Knebels Ausdruck; so riß er die andern mit. „Wenn Sie es nicht machen wollen, so mache ich es selber,“ war ein Trumpf, den er gegen Untergebene gern ausspielte. „Und sie wußten, daß ich verrückt genug war, mein Wort zu halten und das Tollste zu tun,“ fügte er selber hinzu, als er von dem Schauspieler Becker erzählte, dem eine Rolle zu unbedeutend für seine hohe Persönlichkeit erschien. Als sein Diener Stadelmann immer noch keine Wischtücher zum Abstauben der Kunstmappen besorgt hatte, da schalt er: „Ich erinnere dich heute zum letztenmale! Gehst du nicht noch heute, die oft verlangten Tücher zu kaufen, so gehe ich morgen selbst, und du sollst sehn, daß ich Wort halte.“ Aus solchem Schelten hörte man schon heraus, daß Goethe es gut meinte. Er machte sich viele Gedanken um das gute Fortkommen seiner Diener und Untergebenen. Für den Bibliotheksdiener erbat er 1805 vom Herzog sogar die Erlaubnis, sich von den Personen, die die Bibliothek benützten, ein Neujahrs-Trinkgeld erbitten zu dürfen, denn „zur allgemeinen Bettelei dürfte wohl auch diese billig hinzukommen,“ und die Finanzen des Ländchens mögen in jenen Kriegszeiten ihre Verwalter nicht zu Stolz und Freigebigkeit gestimmt haben. Bei seinen eigenen Dienern wünschte er, daß sie das Rasieren, die Gartenarbeit oder dergleichen Leistungen lernten, deren er zwar nicht bedurfte, die ihnen aber später von Nutzen sein und sie jetzt schon vor Müßiggang bewahren konnten. Als er nach Karl Augusts Tode auf der Dornburg an sein eigenes Ende viel dachte, da fragte er sich auch, was aus seinen Bedienten dann werde, und er sprach darüber mit dem Gärtner und dem Barbier, den er reichlich belohnte. Ebenda war es, daß sein Sekretär John und sein Diener Friedrich Krauße mit dem Gärtner sich einen fröhlichen Nachmittag machten, wobei ihnen der Dornburger Wein so sehr zu Kopfe stieg, daß sie nach der Heimkehr sogleich in schweren Schlummer sanken. Goethe rief ein paarmal vergebens nach ihnen, als sie zu ihren gewohnten Diensten nicht kamen. Am andern Morgen erschraken sie sehr, als sie ihre Pflichtvergessenheit bemerkten. Ganz besonders war Friedrich erschrocken; er wollte sich gar nicht beruhigen lassen. Als ihn bald darauf Goethe rief und den Kaffee zu bringen befahl, wurde er totenbleich und wankte mit schlotternden Gliedern die Treppe hinauf. „Neugierig, was Goethe wohl sagen werde, schlich ich mich hinter dem Bedienten her“ — so erzählt Skell — „und blieb horchend an der Tür stehen. Als der Bediente eingetreten war, sagte Goethe: „Na, na, Friedrich! du zitterst ja wie ein armer Sünder. Setze nur das Kaffeebrett ab, sonst lassest du es noch fallen. Nicht wahr, du glaubst, ich werde dich recht auszanken? Das tue ich nicht; du hast ja deine Strafe wohl so schon bekommen? Wie sieht es denn heute hier aus?“ fuhr er fort, sich mit dem Zeigefinger über die Stirn streichend. „Setz nur ab und gehe! Es ist abgemacht!“ — Hoch erfreut, mit diesem kleinen Verweise davongekommen zu sein, verließ der Bediente das Zimmer.
„Charlotte Hoyer hat zwei Jahre in meinem Hause gedient. Für eine Köchin kann sie gelten, und ist zu Zeiten folgsam, höflich, sogar einschmeichelnd. Allein durch die Ungleichheit ihres Betragens hat sie sich zuletzt ganz unerträglich gemacht. Gewöhnlich beliebt es ihr nur nach eigenem Willen zu handeln und zu kochen; sie zeigt sich widerspenstig, zudringlich, grob, und sucht diejenigen, die ihr zu befehlen haben, auf alle Weise zu ermüden. Unruhig und tückisch verhetzt sie ihre Mitdienenden und macht ihnen, wenn sie nicht mit ihr halten, das Leben sauer. Außer andern verwandten Untugenden hat sie noch die, daß sie an den Türen horcht.“
Charlotte Hoyer hatte keine Ahnung, welchen Preis ihr von Goethe gezeichnetes Charakterbild als Autogramm später haben würde, und riß es auf der Treppe in hundert Stücke. Goethe schickte die Beweise dieser neuen Frechheit der Polizei zu, deren „einsichtsvollem Ermessen“ er „die Ahndung einer solchen Verwegenheit“ anheimgab.
Aber auch von einer wackeren Köchin wissen wir, wie sie zu Goethe als ihrem zeitweiligen Herrn stand. Henriette Hunger war seit 1817 bei dem Verleger Frommann in Jena in Stellung, ihre Erinnerungen erzählt sie am besten in eigener Sprech- und Schreibweise:
„Göhte war ein treuer Freund zu Frommanns. Alle Morgen 11 Uhr fuhr Göhte vor und machten Seinen Morgenbesuch. Wobei ich auch das Unglück hatte, Göhte mit Eine Butte Wasser zu überschitten. Göhte wollte mich die Thür halten aus Bescheidenheit und ich ebenfalls, ich versah das Tembo und war in fallen und Göhte wolte mich halten und bekam die Wasserbutte auf den Halz, ich zum Tode Erschrocken. Madam und Fräulein Frommann Kamen mit Tüchern und beseitigten das nasse Element. Göhte fuhr nach Haus um sich umzukleiden. Deßhalb gab es keine Feindschaft. Den andern Morgen war Göhte wieder da und lachte. Göhte war nachdem in den botanischen Garten gezogen wolte aber nicht lange mehr in Jena bleiben, weil Ihn das Essen aus den Speisehäusern nicht Schmeckte. Frommanns wollen Göhte gerne für sich und Jena Erhalten, der Grund war das Essen wie anfangen, die Madam Fromman Eine sehr kluge Dame sann hin und hehr. Endlich kam sie auf Ihre Köchin, das war ich. Sie ließ mich in Ihr Zimmer kommen und sagte, ich habe ein großes anliegen an Dich was G. betrift und Du die Hauptperson bist (Du die Hauptperson? dachte ich) willst Du für G. Kochen den Mittagstisch übernehmen Meine Speisekammer Steht Dir Ofen, thue Es, ich werde Dirs niemals vergessen, nach langes Zureden gab ich mein Wort. An Göhte geschriben das Ihre Köchin für Ihn den Mittags Tisch übernehmen wolte, mit Freuden Nehme ich dis An — war die Rückantwort. So kochte ich ein halbes Jahr für den Großen Mann zu danke. Göhte nahm sich gegen mich nicht als wäre ich Köchin sondern als wäre ich mehr, wenn ich mit meinen Zettel kam, lag Schon was Schönes da, anzusehn für mich, Kurz ich kam mich vor als gehörte ich der gelehrten Welt mit an.“ — —
Als Eckermann noch neu in Weimar war, traf er einmal beim Spazierengehen einen bejahrten, wohlhabenden Bürger. Sie hatten nicht viel Worte gewechselt, als das Gespräch auf Goethe kam und Eckermann den Bürger fragte, ob er Goethen auch persönlich kenne. „Ob ich ihn kenne!“ antwortete er mit einigem Behagen, „ich bin gegen zwanzig Jahre sein Kammerdiener gewesen“. Und nun ergoß er sich in Lobsprüchen über seinen frühern Herrn. Dieser selbe Philipp Seidel, der es später zum Rentamtmann brachte, hatte sich seines verehrten Herrn Gewohnheiten und Aussprüche so angeeignet, daß man ihn allgemein „Goethes vidimierte Kopie“ nannte. Wir wissen aber auch, daß Goethe allein mit diesem Diener in seinem Gartenhause den Abend verbrachte und mit ihm in der gleichen engen Kammer schlief. „Mit meinem Philipp von seiner und meiner Welt geschwätzt,“ heißt es in einem Briefe Goethes, Philipp aber berichtete an einen Frankfurter Freund, wie weit diese Gespräche gingen. „Stell dir die erschreckliche Wendung vor: von Liebesgeschichten auf die Insel Korsika, und auf dieser blieben wir in dem größten und hitzigsten Handgemenge bis morgens gegen viere. Die Frage, über die mit so viel Heftigkeit als Gelehrsamkeit gestritten wurde, war diese: ob ein Volk nicht glücklicher sei, wenn's frei ist, als wenn's unter dem Befehl eines souveränen Herrn steht. Denn ich sagte: die Korsen sind wirklich unglücklich. Er sagte: nein, es ist ein Glück für sie und ihre Nachkommen; sie werden nur verfeinert, entwildert, lernen Künste und Wissenschaften, statt sie zuvor roh und wild waren. Herr! — sagte ich — ich hätt' den Teufel von seinen Verfeinerungen und Veredelungen auf Kosten meiner Freiheit, die eigentlich unser Glück macht.“
Dieser Diener war zugleich auch Schreiber, und so kannte er Goethes Werke, die damals entstanden, gut, glaubte wohl auch, das Seine dazu getan zu haben. Als Goethe nun in Italien war, besorgte er daheim seine Aufträge, und so bekam er auch die letzte Redaktion der „Iphigenie“. Sie gefiel ihm gar nicht, und er schrieb das seinem Herrn. Dieser mag wohl über die scharfe Kritik seines um sechs Jahre jüngeren Dieners gelächelt haben, aber er antwortete menschlich-bescheiden: „Was du von meiner Iphigenie sagst, ist im gewissen Sinne leider wahr. Als ich mich um der Kunst und des Handwerkes willen entschließen mußte, das Stück umzuschreiben, sah ich voraus, daß die besten Stellen verlieren mußten, wenn die schlechten und mittleren gewannen. Du hast zwei Scenen genannt, die offenbar verloren haben. Aber wenn es gedruckt ist, dann lies es noch einmal ganz gelassen und du wirst fühlen, was es als Ganzes gewonnen hat.“ Seidel blieb dabei, daß die alte, prosaische Form die bessere gewesen sei, wie auch die „Claudine von Villabella“ durch die Jamben nicht gewonnen habe. Goethe antwortete wieder geduldig: „Du sollst auch eine Iphigenie in Prosa haben, wenn sie dir Freude macht. Der Künstler kann nur arbeiten. Beifall läßt sich, wie Gegenliebe, nur wünschen, nicht erzwingen.“
Noch in der Nacht vor seinem Tode zeigte sich Goethes gutes Herz gegen seine Diener. Er sah, daß der Mann, der immer in seiner Nähe sein mußte, sehr müde war. Da ließ er ihn in seinem eigenen Bette schlafen, während er im Lehnstuhl, wo er leichter Atem bekommen konnte, daneben saß; der Kopist mußte aufpassen, daß er nicht beim Einschlafen vornüber fiel. — —
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Goethes Grundsatz im Theater war: keine Günstlinge haben, die Gunst verteilen, damit niemand allzu nahe tritt. Und weiter: genau auf die Paragraphen der Hausgesetze halten. „Bei Schauspielern muß man in der Ordnung streng am Buchstaben halten, sie sind Meister in Ausflüchten,“ schrieb er 1798 an Kirms. Aber als jemand einmal bemerkte, es möge wohl schwer sein, ein Theater in gehöriger Ordnung zu halten, sprach er die Worte, die sich jeder Regierende ins Album schreiben sollte: „Sehr viel ist zu erreichen durch Strenge, mehr durch Liebe, das meiste aber durch Einsicht und eine unparteiische Gerechtigkeit, bei der kein Ansehn der Person gilt.“ Gegen ältere Schauspieler gab er seiner Unzufriedenheit nie strenge Worte, sein Tadel war nicht verletzend. Z. B.: „Nun, das ist ja gar nicht übel, obgleich ich mir den Moment so gedacht habe; überlegen wir uns das bis zur nächsten Probe, vielleicht stimmen dann unsere Ansichten überein“.
Widerspruch nahm er auch hier gut auf, wo er berechtigt war. Bei einer Theaterprobe las der sonst fleißige Schauspieler Unzelmann seine Worte aus der Rolle ab. Sogleich ertönte Goethes mächtige Baßstimme aus seiner Loge hinter dem Parterre: „Ich bin es nicht gewohnt, daß man seine Aufgaben abliest.“ Unzelmann entschuldigte sich, seine Frau liege seit mehreren Tagen krank danieder, deshalb hätte er nicht zum Lernen kommen können. „Ei was!“ rief Goethe, „der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet.“ Unzelmann trat bis ins Proszenium vor und sagte: „Euer Exzellenz haben vollkommen recht, der Tag hat vierundzwanzig Stunden, die Nacht mit eingerechnet. Aber ebenso gut wie der Staatsmann und der Dichter der Nachtruhe bedarf, ebenso gut bedarf ihrer der arme Schauspieler, der öfter Possen reißen muß, wenn ihm das Herz blutet. Euer Exzellenz wissen, daß ich stets meiner Pflicht nachkomme, aber in solchem Falle bin ich wohl zu entschuldigen.“
Diese kühne Rede erregte allgemeines Erstaunen, und jeder stand erwartungsvoll, was nun kommen würde. Nach einer Pause rief Goethe mit kräftiger Stimme: „Die Antwort paßt! Weiter!“
Als der Kanzler v. Müller ein halbes Jahr nach Goethes Tode vor der Erfurter Akademie gemeinnütziger Wissenschaften eine Vorlesung über seinen großen Freund hielt, betonte er auch Goethes gutes Verhältnis zu seinen Schauspielern. „Nirgends vermochte Goethe den Zauber seiner imposanten Persönlichkeit freier zu üben und geltend zu machen, als unter seinen dramatischen Jüngern; streng und ernst in seinen Forderungen, unabwendlich in seinen Beschlüssen, rasch und freudig jedes Gelingen anerkennend, das kleinste wie das größte beachtend, und eines Jeden verborgenste Kraft hervorrufend, wirkte er im gemessenen Kreise, ja meist bei geringen Mitteln, oft das Unglaubliche; schon sein ermunternder Blick war reiche Belohnung, sein wohlwollendes Wort unschätzbare Gabe, Jeder fühlte sich größer und kräftiger an der Stelle, wo Er ihn hingestellt, und der Stempel seines Beifalls schien dem ganzen Leben höhere Weihe zu gewähren. Man muß es selbst gesehen und gehört haben, wie die Veteranen aus jener Zeit des heitersten Zusammenwirkens von Goethe und Schiller noch jetzt mit heiliger Treue jede Erinnerung an diese ihre Heroen bewahren, mit Entzücken einzelne Züge ihres Waltens wiedergeben, und schon bei Nennung ihrer Namen sich leuchtenden Blickes gleichsam verjüngen, wenn man ein vollständiges Bild der liebevollen Anhänglichkeit und des Enthusiasmus gewinnen will, die jene großartigen Naturen einzuflößen vermochten.“
Voilà un homme! sagte Napoleon, als Goethe in Erfurt von ihm ging. Und diesen Eindruck hatten alle, die ihm auf den Grund sahen: ein menschlicher Mensch, ein männlicher Mann!
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