> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Morphologie-XIV. Bildung der zusammengesetzten Blüten und Fruchtstände (18)

2020-01-28

J.W.v.Goethe: Morphologie-XIV. Bildung der zusammengesetzten Blüten und Fruchtstände (18)





XIV. Bildung der zusammengesetzten Blüten und Fruchtstände 

 94. Wir haben bisher die einfachen Blütenstände, ingleichen die Samen, welche in Kapseln befestigt hervorgebracht werden, durch die Umwandlung der Knotenblätter zu erklären gesucht, und es wird sich bei näherer Untersuchung finden, daß in diesem Falle sich keine Augen entwickeln, vielmehr die Möglichkeit einer solchen Entwickelung ganz und gar aufgehoben wird. Um aber die zusammengesetzten Blütenstände sowohl, als die gemeinschaftlichen Fruchtstände, um Einen Kegel, Eine Spindel, auf Einem Boden, und so weiter, zu erklären, müssen wir nun die Entwickelung der Augen zu Hülfe nehmen. 

 95. Wir bemerken sehr oft, daß Stengel, ohne zu einem einzelnen Blütenstande sich lange vorzubereiten und aufzusparen, schon aus den Knoten ihre Blüten hervortreiben, und so bis an ihre Spitze oft ununterbrochen fortfahren. Doch lassen sich die dabei vorkommenden Erscheinungen aus der oben vorgetragenen Theorie erklären. Alle Blumen, welche sich aus den Augen entwickeln, sind als ganze Pflanzen anzusehen, welche auf der Mutterpflanze ebenso wie diese auf der Erde stehen. Da sie nun aus den Knoten reinere Säfte erhalten, so erscheinen selbst die ersten Blätter der Zweiglein viel ausgebildeter, als die ersten Blätter der Mutterpflanze, welche auf die Kotyledonen folgen; ja es wird die Ausbildung des Kelches und der Blume oft sogleich möglich. 

 96. Ebendiese aus den Augen sich bildenden Blütenwürden, bei mehr zudringender Nahrung, Zweige geworden sein, und das Schicksal des Mutterstengels, dem er sich unter solchen Umständen unterwerfen müßte, gleichfalls erduldet haben. 

 97. Sowie nun von Knoten zu Knoten sich dergleichen Blüten entwickeln, so bemerken wir gleichfalls jene Veränderung der Stengelblätter, die wir oben bei dem langsamen Übergange zum Kelch beobachtet haben. Sie ziehen sich immer mehr und mehr zusammen, und verschwinden endlich beinahe ganz. Man nennt sie alsdann Bracteas, indem sie sich von der Blattgestalt mehr oder weniger entfernen. In eben diesem Maße wird der Stiel verdünnt, die Knoten rücken mehr zusammen, und alle oben bemerkten Erscheinungen gehen vor, nur daß am Ende des Stengels kein entschiedener Blütenstand folgt, weil die Natur ihr Recht schon von Auge zu Auge ausgeübt hat. 

 98. Haben wir nun einen solchen an jedem Knoten mit einer Blume gezierten Stengel wohl betrachtet; so werden wir uns gar bald einen gemeinschaftlichen Blütenstand erklären können: wenn wir das, was oben von Entstehung des Kelches gesagt ist, mit zu Hülfe nehmen. 

 99. Die Natur bildet einen gemeinschaftlichen Kelch aus vielen Blättern, welche sie aufeinanderdrängt und um Eine Achse versammlet; mit ebendiesem starken Triebe des Wachstums entwickelt sie einen gleichsam unendlichen Stengel, mit allen seinen Augen in Blütengestalt, auf einmal, in der möglichsten aneinandergedrängten Nähe, und jedes Blümchen befruchtet das unter ihm schon vorbereitete Samengefäß. Bei dieser ungeheuren Zusammenziehung verlieren sich die Knotenblätter nicht immer; bei den Disteln begleitet das Blättchen getreulich das Blümchen, das sich aus den Augen neben ihnen entwickelt. Man vergleiche mit diesem Paragraph die Gestalt des Dipsacus laciniatus. Bei vielen Gräsern wird eine jede Blüte durch ein solches Blättchen, das in diesem Falle der Balg genannt wird, begleitet.  

100. Auf diese Weise wird es uns nun anschaulich sein, wie die um einen gemeinsamen Blütenstand entwickelten Samen wahre, durch die Wirkung beider Geschlechter ausgebildete und entwickelte Augen seien. Fassen wir diesen Begriff fest, und betrachten in diesem Sinne mehrere Pflanzen, ihren Wachstum und Fruchtstände, so wird der Augenschein bei einiger Vergleichung uns am besten überzeugen. 

 101. Es wird uns sodann auch nicht schwer sein, den Fruchtstand der in der Mitte einer einzelnen Blume, oft um eine Spindel versammleten, bedeckten oder unbedeckten Samen zu erklären. Denn es ist ganz einerlei, ob eine einzelne Blume einen gemeinsamen Fruchtstand umgibt, und die zusammengewachsenen Pistille von den Antheren der Blume die Zeugungssäfte einsaugen und sie den Samenkörnern einflößen, oder ob ein jedes Samenkorn sein eigenes Pistill, seine eigenen Antheren, seine eigenen Kronenblätter um sich habe. 

 102. Wir sind überzeugt, daß mit einiger Übung es nicht schwer sei, sich auf diesem Wege die mannigfaltigen Gestalten der Blumen und Früchte zu erklären; nur wird freilich dazu erfordert, daß man mit jenen oben festgestellten Begriffen der Ausdehnung und Zusammenziehung, der Zusammendrängung und Anastomose wie mit algebraischen Formeln bequem zu operieren, und sie da, wo sie hingehören, anzuwenden wisse. Da nun hierbei viel darauf ankommt, daß man die verschiedenen Stufen, welche die Natur sowohl in der Bildung der Geschlechter, der Arten, der Varietäten, als in dem Wachstum einer jeden einzelnen Pflanze betritt, genau beobachte und miteinander vergleiche: so würde eine Sammlung Abbildungen, zu diesem Endzwecke nebeneinandergestellt, und eine Anwendung der botanischen Terminologie auf die verschiedenen Pflanzenteile bloß in dieser Rücksicht angenehm und nicht ohne Nutzen sein. Es würden zwei Fälle von durchgewachsenen Blumen, welche der oben angeführten Theorie sehr zustatten kommen, den Augen vorgelegt, sehr entscheidend gefunden werden.



Inhalt Morphologie

Keine Kommentare: