XIV. Bildung der zusammengesetzten Blüten und Fruchtstände
94. Wir haben bisher die einfachen Blütenstände,
ingleichen die Samen, welche in Kapseln befestigt
hervorgebracht werden, durch die Umwandlung der
Knotenblätter zu erklären gesucht, und es wird sich
bei näherer Untersuchung finden, daß in diesem Falle
sich keine Augen entwickeln, vielmehr die Möglichkeit
einer solchen Entwickelung ganz und gar aufgehoben
wird. Um aber die zusammengesetzten Blütenstände
sowohl, als die gemeinschaftlichen Fruchtstände,
um Einen Kegel, Eine Spindel, auf Einem
Boden, und so weiter, zu erklären, müssen wir nun
die Entwickelung der Augen zu Hülfe nehmen.
95. Wir bemerken sehr oft, daß Stengel, ohne zu
einem einzelnen Blütenstande sich lange vorzubereiten
und aufzusparen, schon aus den Knoten ihre Blüten
hervortreiben, und so bis an ihre Spitze oft ununterbrochen
fortfahren. Doch lassen sich die dabei vorkommenden
Erscheinungen aus der oben vorgetragenen
Theorie erklären. Alle Blumen, welche sich aus
den Augen entwickeln, sind als ganze Pflanzen anzusehen,
welche auf der Mutterpflanze ebenso wie diese
auf der Erde stehen. Da sie nun aus den Knoten
reinere Säfte erhalten, so erscheinen selbst die ersten
Blätter der Zweiglein viel ausgebildeter, als die ersten
Blätter der Mutterpflanze, welche auf die Kotyledonen
folgen; ja es wird die Ausbildung des Kelches
und der Blume oft sogleich möglich.
96. Ebendiese aus den Augen sich bildenden Blütenwürden,
bei mehr zudringender Nahrung, Zweige
geworden sein, und das Schicksal des Mutterstengels,
dem er sich unter solchen Umständen unterwerfen
müßte, gleichfalls erduldet haben.
97. Sowie nun von Knoten zu Knoten sich dergleichen
Blüten entwickeln, so bemerken wir gleichfalls
jene Veränderung der Stengelblätter, die wir oben bei
dem langsamen Übergange zum Kelch beobachtet
haben. Sie ziehen sich immer mehr und mehr zusammen,
und verschwinden endlich beinahe ganz. Man
nennt sie alsdann Bracteas, indem sie sich von der
Blattgestalt mehr oder weniger entfernen. In eben diesem
Maße wird der Stiel verdünnt, die Knoten rücken
mehr zusammen, und alle oben bemerkten Erscheinungen
gehen vor, nur daß am Ende des Stengels kein
entschiedener Blütenstand folgt, weil die Natur ihr
Recht schon von Auge zu Auge ausgeübt hat.
98. Haben wir nun einen solchen an jedem Knoten
mit einer Blume gezierten Stengel wohl betrachtet; so
werden wir uns gar bald einen gemeinschaftlichen
Blütenstand erklären können: wenn wir das, was oben
von Entstehung des Kelches gesagt ist, mit zu Hülfe
nehmen.
99. Die Natur bildet einen gemeinschaftlichen
Kelch aus vielen Blättern, welche sie aufeinanderdrängt
und um Eine Achse versammlet; mit ebendiesem
starken Triebe des Wachstums entwickelt sie
einen gleichsam unendlichen Stengel, mit allen seinen
Augen in Blütengestalt, auf einmal, in der möglichsten
aneinandergedrängten Nähe, und jedes
Blümchen befruchtet das unter ihm schon vorbereitete
Samengefäß. Bei dieser ungeheuren Zusammenziehung
verlieren sich die Knotenblätter nicht immer; bei
den Disteln begleitet das Blättchen getreulich das
Blümchen, das sich aus den Augen neben ihnen entwickelt.
Man vergleiche mit diesem Paragraph die
Gestalt des Dipsacus laciniatus. Bei vielen Gräsern
wird eine jede Blüte durch ein solches Blättchen, das
in diesem Falle der Balg genannt wird, begleitet.
100. Auf diese Weise wird es uns nun anschaulich
sein, wie die um einen gemeinsamen Blütenstand
entwickelten Samen wahre, durch die Wirkung beider
Geschlechter ausgebildete und entwickelte
Augen seien. Fassen wir diesen Begriff fest, und betrachten
in diesem Sinne mehrere Pflanzen, ihren
Wachstum und Fruchtstände, so wird der Augenschein
bei einiger Vergleichung uns am besten überzeugen.
101. Es wird uns sodann auch nicht schwer sein,
den Fruchtstand der in der Mitte einer einzelnen
Blume, oft um eine Spindel versammleten, bedeckten
oder unbedeckten Samen zu erklären. Denn es ist
ganz einerlei, ob eine einzelne Blume einen gemeinsamen
Fruchtstand umgibt, und die zusammengewachsenen
Pistille von den Antheren der Blume die Zeugungssäfte
einsaugen und sie den Samenkörnern einflößen,
oder ob ein jedes Samenkorn sein eigenes Pistill,
seine eigenen Antheren, seine eigenen Kronenblätter
um sich habe.
102. Wir sind überzeugt, daß mit einiger Übung es
nicht schwer sei, sich auf diesem Wege die mannigfaltigen
Gestalten der Blumen und Früchte zu erklären;
nur wird freilich dazu erfordert, daß man mit jenen
oben festgestellten Begriffen der Ausdehnung und Zusammenziehung,
der Zusammendrängung und Anastomose
wie mit algebraischen Formeln bequem zu
operieren, und sie da, wo sie hingehören, anzuwenden
wisse. Da nun hierbei viel darauf ankommt, daß man
die verschiedenen Stufen, welche die Natur sowohl in
der Bildung der Geschlechter, der Arten, der Varietäten,
als in dem Wachstum einer jeden einzelnen Pflanze
betritt, genau beobachte und miteinander vergleiche:
so würde eine Sammlung Abbildungen, zu diesem
Endzwecke nebeneinandergestellt, und eine Anwendung
der botanischen Terminologie auf die verschiedenen
Pflanzenteile bloß in dieser Rücksicht angenehm
und nicht ohne Nutzen sein. Es würden zwei
Fälle von durchgewachsenen Blumen, welche der
oben angeführten Theorie sehr zustatten kommen, den
Augen vorgelegt, sehr entscheidend gefunden werden.
Inhalt Morphologie
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