Meine Herrn! Wir haben in der letzten Vorlesung den Lebensgang des Naturforschers Goethe kennen gelernt und wollen nun dazu übergehen, seine einzelnen Forschungsgebiete gesondert zu besprechen und das von ihm Geleistete eingehender zu würdigen. Wir beginnen dabei mit seinen Arbeiten auf dem Gebiet der organischen Naturwissenschaften, zunächst der Zoologie und Botanik. Goethe hat die hierher gehörigen Schriften nach dem Jahre 1817 zusammenfassend veröffentlicht in seinen Heften »zur Morphologie". Dieses Wort stammt von Goethe und bezeichnet auch heute noch denjenigen Zweig des Wissens, für den er ihn geprägt hat Als Motto ist diesen Heften ein Spruch aus Hiob vorangesetzt: „Siehe er geht vor mir über ehe ich's gewahr werde, und verwandelt sich ehe ich's merke." Aufs Verwandeln ist dabei der größte Nachdruck zu legen, und Goethe definiert selbst die Morphologie durch den von ihm gewählten Untertitel: Bildung und Umbildung organischer Naturen. Zeitlich haben auf diesem Gebiete Goethes vergleichend anatomische Untersuchungen zuerst zu einem wichtigen Resultate geführt Wir aber wollen mit den botanischen Studien beginnen, weil hier die Probleme einfacher liegen, und wir daher leichter eine Vorstellung davon gewinnen können, wie Goethe die Morphologie auffaßte und wie er Bildung und Umbildung organischer Naturen zu erforschen suchte.
Als Goethe seine botanischen Studien begann, herrschte auf diesem Gebiete als Alleinherrscher Linnes. Während man noch im 17. Jahrhundert über Anatomie und Physiologie der Pflanzen manche wertvolle Untersuchungen angestellt und auch den Pflanzenbau mikroskopisch studiert hatte, waren alle diese Bestrebungen durch Linnes Einfluß vollständig unterbrochen worden. Er hatte die Mikroskopiker und Physiologen geradezu als Dilettanten bezeichnet, und so kommt es, daß bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Interesse der damaligen Botaniker sich fast ausschließlich der Systematik zuwandte. Linne brachte die Bestrebungen seiner Vorgänger, zu einer brauchbaren Einteilung des gesamten Pflanzenreichs zu kommen, zu einem vorläufigen Abschluß. Sein System gehört zu den sogenannten künstlichen, d. h. es wird das gesamte Pflanzenreich nach einzelnen äußeren Merkmalen eingeteilt. Linnes benutzte dazu die Anordnung und Zahl der Staubwerkzeuge und Griffel und gelangte auf diese Weise dazu, ein bis ins feinste durchgearbeitetes System zu liefern, in das sich alle Pflanzenformen ohne großen Zwang einreihen ließen. Linne selber, und seine nächsten Nachfolger sahen nun die Anwendung und Durchführung dieses Systems als die Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Botanik an. Linnes erklärte geradezu denjenigen für den besten Botaniker, der die meisten Arten kennen und unterscheiden gelernt habe.
Das war der Zustand der Botanik, als Goethe sich mit ihr zu beschäftigen begann. Wie schon erzählt wurde, hatte er als Student botanische Vorlesungen gehört, aber sein eigentliches Interesse für die Pflanzenwelt wurde erst in Weimar wach, als er auf der Jagd in nähere Berührung mit Wäldern und Wiesen kam und sich als leitender Minister unter der Mitwirkung von Skell und v. Wedel mit Forstkultur zu beschäftigen hatte. So studierte er das Wachstum der Bäume, Moose und Wurzeln in der freien Natur, wie immer die praktischen Bedürfnisse zum Ausgang nehmend. Er hat uns überliefert, daß das Geschlecht der Enziane deshalb sein besonderes Interesse erregt hat, weil aus seinen Wurzeln sich so heilsame und so wohlschmeckende Tränke bereiten ließen. Praktische Erfahrungen sammelte er auch, als er im eigenen Garten, den ihm 1776 der Herzog schenkte, selbst eifrig zu pflanzen begann. Weitere Fortschritte in der Botanik brachte der Verkehr mit Buchholz, der in seinem Apothekergarten die offizinellen Gewächse und neue seltene Pflanzen zog. Sobald Karl Augusts naturwissenschaftliche Interessen wach geworden waren, äußerten sie sich unter andrem auch in der Anlage größerer Gärten bei Weimar und Jena. Alle diese botanischen Studien wurden unter den Gesichtspunkten Linnes vorgenommen. Goethe führte die Linneschen Schriften auf seinen Exkursionen bei sich und bemühte sich redlich, alles was er fand, mit größter Gewissenhaftigkeit nach dem Linneschen System zu bestimmen. Dabei fand er Unterstützung durch die Botaniker in Jena, mit denen er in näheren Verkehr trat. So kam er auch in Berührung mit einer interessanten Familie in der Nähe von Jena. Die Dietrichs in Ziegenhain hatten schon seit mehreren Generationen das Privileg ausgeübt, für die botanischen Vorlesungen das Demonstrationsmaterial zu besorgen, die Studenten mit den in der Vorlesung zu besprechenden Pflanzen zu versehen. In jenen Jahren, wo Goethes botanische Neigungen erwachten, war besonders ein junger Sohn hierbei tätig und dieser hatte sich im Laufe der Jahre eine ganz umfassende Kenntnis der Flora des Jenenser Gebietes zugelegt. Das ging so weit, daß der einfache Bauernjunge schließlich alle Pflanzen nicht nur mit ihren deutschen, sondern auch mit ihren lateinischen Namen nach dem Linneschen System zu bezeichnen wußte. Goethe nahm nun diesen jungen Dietrich mit sich nach Karlsbad. Er schildert uns aufs Anschaulichste, wie er in seinem Reisewagen durch die Landschaft fährt und der junge Mann, nebenher gehend, alle interessanten Pflanzen und Blumen am Wege sammelt und ihm mit der richtigen lateinischen Bezeichnung in den Wagen reicht In Karlsbad wird diese Tätigkeit fortgesetzt Des Morgens, wenn die Kurgäste sich am Brunnen versammeln, hat Dietrich gewöhnlich schon einen ganzen Strauß von Pflanzen gesucht Nach kurzer Zeit nimmt die ganze Brunnengesellschaft an Goethes Bestrebungen teil, und es wird nun eifrig von allen Seiten botanisiert, Dietrich hat nachher den Doktorgrad erworben und ist als großherzoglicher Gartendirektor in Eisenach gestorben.
Kam so Goethe allmählich in die praktische Anwendung des botanischen Systems hinein, so blieben ihm auch theoretische Arbeiten nicht fremd. Das Linnesche System war wie erwähnt ein künstliches, in dem ein einzelnes Merkmal der Pflanzen zur Unterscheidung benutzt wurde. Schon Linn^ hatte demgegenüber die Notwendigkeit eines natürlichen Systems betont, in welchem die Gruppierung der Pflanzen nach der Gesamtheit ihrer Eigenschaften vorgenommen wird, wobei also die Gruppen des Systems den natürlichen Pflanzengruppen möglichst entsprechen. Diese Bestrebungen waren von französischen Botanikern zunächst fortgesetzt Von Goethes Bekannten bemühte sich Doktor Batsch ein solches natürliches Pflanzensystem aufzustellen. Ähnliche Versuche machte damals Hofrat Büttner in Jena, ein Sonderling und Polyhistor, mit dem Goethe noch in vielfache Berührung kam. An diesen Arbeiten nahm unser Dichter nun den aller lebhaftesten Anteil und konnte sich so ein eigenes Urteil über Wert oder Unwert dieser und andrer Systeme bilden. In diesen Jahren las er auch die botanischen Schriften eines andern Dichters, Jean Jacques Rousseaus, der bei seinem Bestreben, sich an die Natur anzuschließen, auf das Studium der Pflanzenwelt gekommen war. Auch diesen Schriften verdankt Goethe nach seiner Angabe manche Anregungen.
Je weiter er nun in der Kenntnis der Botanik fortschritt, desto größere Bedenken kamen ihm gegen die Anwendung des Linneschen Systems. Zunächst eine technische Schwierigkeit. Es erwies sich für ihn als vollkommen unmöglich, die komplizierte Terminologie vollständig zu beherrschen. Es ist bekannt, welches vorzügliche Gedächtnis Goethe besessen hat, und welche Fülle von Tatsachen er in seinem Geiste bewahrte, um sie im Bedarfsfall hervorholen zu können. Das waren aber alles Dinge, die irgend welchen Bezug für ihn hatten. Dagegen die einfach äußerliche Terminologie des Systems, bei der sich nichts denken und vorstellen ließ, hat er nicht auswendig lernen können. So war er denn im Linneschen Sinne kein guter Botaniker. Dazu kam aber noch ein schwerwiegender sachlicher Einwand. Linne hatte gelehrt und alle folgenden hatten ihm darin beigepflichtet, daß die verschiedenen Arten seines Systems unabänderlich seit der Schöpfung bestehende, in sich abgeschlossene und durch keine Übergänge vermittelte Gruppen von Pflanzen seien. Goethe wurde durch seine Beobachtungen dagegen zu andren Anschauungen geführt. Er konnte allerdings feststellen und er hat das späterhin noch des Näheren ausgeführt, daß es einzelne Geschlechter, wie die Gentianen, gibt, bei denen jedes Pflanzenindividuum immer wieder genau dieselben äußeren Merkmale besitzt, so daß über seine Zugehörigkeit zu einer der Linneschen Arten kein Zweifel bestehen kann. Daneben aber gibt es Pflanzengruppen, wie z. B. die Rosen, die man nach Goethe als charakterlose bezeichnen kann, weil die einzelnen Individuen bei ihnen außerordentlich große Abweichungen zum Teil auch in den entscheidenden Merkmalen voneinander zeigen, so daß es ganz unmöglich ist, festzustellen, zu welcher Art gerade dieses Einzelindividuum gehört. Goethe findet also schon damals, daß zwischen den abgeschlossenen Linneschen Arten alle möglichen Übergänge vorkommen können. Er findet eine außerordentlich große Variabilität bei einzelnen Pflanzenspezies. Dadurch mußte natürlich sein Glaube an die Möglichkeit erschüttert werden, überhaupt fest begrenzte, unveränderliche Arten bei den Pflanzen unterscheiden zu können.
Dazu kam nun noch etwas Weiteres. Während die damaligen Botaniker in der Mehrzahl eine Wissenschaft des Herbariums trieben, d. h. die Pflanzen losgelöst von der Natur bestimmten und aufbewahrten, studierte Goethe ihr Wachstum unter freiem Himmel. Hier drängte sich ihm immer mehr die Erkenntnis auf, daß die Ausbildung der äußeren Form einer bestimmten Pflanze wesentlich mit bedingt werde durch äußere Einflüsse. Er fand, daß ein und dieselbe Art im Tiefland und auf der Höhe des Gebirges, des Harzes, Thüringer Waldes oder der Alpen, ein ganz verschiedenes Aussehen hatte. Er beobachtete, daß eine Pflanze wesentlich andere Wuchsformen zeigte, je nachdem sie im Schatten oder an einer sonnigen Stelle stand. Er fand eine starke Abhängigkeit des Pflanzenwachstums von der Bewässerung, von der Wärme, dem Klima, von Frostschäden u. v. a. Durch fortgesetzte Beobachtung wurde es ihm allmählich klar, daß durch diesen Wechsel der äußeren Bedingungen sich Varietäten der einzelnen Pflanzenarten schaffen ließen. Er wurde also immer mehr dazu gedrängt, die Unveränderlichkeit der Linneschen Pflanzenspezies nicht mehr anzuerkennen.
Das war der Stand seiner botanischen Studien, als er den engen Verhältnissen in Weimar entfloh und sich südwärts nach Italien wandte. Wenn er nun in diesem Lande die endgültigen Fortschritte seiner Erkenntnis des Pflanzenwachstums gewann, so ist dabei nicht zu vergessen, daß ein zehnjähriges genaues Studium in der Heimat vorherging, durch das er die Pflanzenwelt kennen gelernt hatte und durch das er schon seit längerer Zeit den Linneschen Lehren allmählich entfremdet worden war. „Das Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das mannigfaltige Leben hervorbringt," wie er kurz vor der Reise an Frau von Stein schreibt, sollte ihm nun gelingen.
Wie Goethe nun über den Brenner nach Norditalien herabsteigt, tut sich in überwältigender Fülle eine ganz neuartige Vegetation vor seinen Augen auf; er selbst schildert uns, daß dieser Eindruck am gewaltigsten beim Besuch des botanischen Gartens in Padua auf ihn gewirkt habe. Hier sah er eine Pflanzenpracht und einen Blumenflor, wie er ihn in der Heimat niemals erblickt hatte, und es gewann so der schon Im Norden, wie wir wissen, allmählich entstandene Gedanke, daß das Pflanzenwachstum von äußeren Einflüssen abhängig sei, in Padua die endgültige Gewißheit. Hier war unter den veränderten Bedingungen des Klimas, der südlichen Sonne und der milderen Winter eine ganz andere Flora entstanden, als sie im rauhen Norden wuchs. Dazu kam nun noch eine zweite Beobachtung, die er in Padua machte. An einer Fächerpalme, die im botanischen Garten stand, konnte er sehen, daß die Blätter von verschiedener Ausbildung ihrer Form waren. Von der einfachsten Blattgestalt bis zum vollentwickelten komplizierten Fächerblatt waren eine ganze Reihe von Übergängen vorhanden. Goethe ließ sie sich vom Gärtner abschneiden und bewahrte sie auf als Beweisstücke für die allmähliche Entwicklung der komplizierten Blattform bei ein und derselben Pflanze. Die Palme stand gleichzeitig in Blüte. Aber daß sich auch die Blume ebenso in den Kreis dieser Betrachtungen einbeziehen ließ, war ein Gedanke, der Goethe hier noch nicht gekommen ist. So gewann er gleich bei seinem Eintritt in Italien die sichere Erkenntnis, daß die Pflanzenteile sich unter verschiedenen äußeren Bedingungen verschieden ausbilden können, und daß es auf diese Weise zur Entstehung verschiedener Formen kommen könne. Er gewann aber gleichzeitig die Einsicht, daß es möglich sein müsse, auch die aller verschiedensten Pflanzenarten untereinander zu vergleichen und dadurch zu einer einheitlichen Auffassung der Pflanzengestalt zu gelangen. Um dies durchzuführen, suchte Goethe zunächst eine möglichst einfache Pflanzenform zu finden, die so elementar gebaut sei, daß man alle andern Wuchsformen auf sie zurückzuführen könne. Er suchte eine „Urpflanze". Da uns dieser Ausdruck hier zum ersten Male entgegentritt, wollen wir uns klar machen, was Goethe darunter verstanden hat. Er suchte nämlich nicht eine Pflanze, von der alle andern abstammen sollten, in dem Sinne, wie man heute davon spricht, daß der Mensch vom Affen abstamme, sondern er suchte nur eine möglichst übersichtliche, einfache und primitiv konstruierte Pflanze, bei der sich die Art ihres Aufbaues durch die bloße Anschauung ohne weiteres erkennen ließ, und auf die er dann die Bauart aller übrigen Pflanzen, mochte sie auch noch so kompliziert und unübersichtlich sein, schließlich durch Vergleichung zurückführen konnte. Diese Idee begleitete ihn nun auf seiner Wanderung durch die italienische Halbinsel und sie tauchte in konkreter Gestalt wieder auf, als er auf dem südlichsten Punkt seiner Reise, in Palermo, angelangt war. Hier suchte er den Plan einer Nausikaa, zu der uns einzelne ausgearbeitete Szenen erhalten sind, weiter auszuführen und ging zu diesem Zwecke in den öffentlichen Garten: „Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes, fiel mir die alte Grille wieder ein, ob ich nicht unter dieser Schar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es denn doch geben: woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach Einem Muster gebildet wären? — Ich bemühte mich, zu untersuchen, worin denn die vielen abweichenden Gestalten voneinander unterschieden seien. Und ich fand sie immer mehr ähnlich als verschieden, und wollte ich meine botanische Terminologie anbringen, so ging das wohl, aber es fruchtete nicht, es machte mich unruhig, ohne daß es mir weiter half. Gestört war mein guter poetischer Vorsatz; der Garten des Alcinous war verschwunden, ein Weltgarten hatte sich aufgethan. Warum sind wir Neueren doch so zerstreut! Warum gereizt zu Forderungen, die wir nicht erreichen noch erfüllen können!" Von nun an lassen ihn die botanischen Gedanken nicht mehr los. Noch in Sizilien findet er, daß man das Rätsel dadurch lösen könne, daß man alle Pflanzenteile als ursprünglich identisch ansieht. Nun sucht er die Urpflanze nicht mehr in der Natur, sondern sie ist ihm jetzt nur noch ein Schema, auf das er alle in der Natur vorkommenden Pflanzenformen ohne Zwang beziehen kann. Vier Wochen später, am 17. Mai 1787, ist er bereits so weit, daß er von Neapel an Herder schreibt: „Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll. Mit diesem Modell und dem Schlüssel dazu kann man alsdann noch Pflanzen ins Unendliche erfinden, die konsequent sein müssen, das heißt, die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten, und nicht etwa mahlerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Nothwendigkeit haben. Dasselbe Gesetz wird sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen." Jetzt glaubt er also, die endgültige Verallgemeinerung gefunden zu haben, und ist sich darüber klar, daß sich dieselbe dann auch auf das Tierreich übertragen lassen müsse. In der Weimarer Goetheausgabe sind zum ersten Male die botanischen Notizen und Beobachtungen abgedruckt, welche Goethe auf der italienischen Reise gesammelt hat. Hier findet sich mitten unter einer Reihe andrer Notizen plötzlich bemerkt: „Hypothese Alles ist Blatt und durch diese Einfachheit wird die größte Mannigfaltigkeit möglich." Das ist die entscheidende Konzeption und alles fernere, was Goethe noch in Italien und Deutschland zur Pflanzenmetamorphose geforscht hat, ist nur Ausführung dieses einen Gedankens.
Man bezeichnet diejenige Stelle, wo ein Blatt aus der Achse dem Stamm, dem Zweig oder dem Stengel der Pflanze hervorsprießt, als Knoten, und wenn Goethe nun alle Seitenteile der Pflanze mit Ausnahme der Achse als Blatt oder blattähnliches Gebilde ansieht, so kann er diese Regel auch mit den Worten zusammenfassen: „von Knoten zu Knoten ist der ganze Kreis der Pflanze im wesentlichen geendet". Er betrachtet von nun an die Pflanze als aufgebaut aus lauter Teilstücken, welche ein Stück der Achse von einem Knoten bis zum nächsten, und die aus diesem Knoten entspringenden blattähnlichen Gebilde tragen. So ist für ihn das entscheidende Gesetz jetzt klar geworden und er kann schreiben: „Ferner glaubte ich in Italien der Natur abgemerkt zu haben, wie sie gesetzlich zu Werke gehe, um lebendiges Gebild als Muster alles künstlichen hervorzubringen." Sein „Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären", beruht für ihn darauf, „die mannigfaltigen Erscheinungen des herrlichen Weltgartens auf ein allgemeines einfaches Prinzip zurückzuführen".
Aus dem Süden Italiens kehrt er nach Rom zurück und benutzt seinen zweiten Aufenthalt in der ewigen Stadt, um die gewonnene Erkenntnis nach Möglichkeit zu vertiefen. Es ist Goethe besonders von Botanikern zum Vorwurf gemacht worden, daß seine Lehre von der Pflanzenmetamorphose im wesentlichen auf die Betrachtung der fertigen Pflanze basiert sei und nicht die Entstehung der Pflanzenform berücksichtige. Das ist insofern richtig, als er allerdings nur wenige mikroskopische Untersuchungen angestellt hat, aber die jetzt veröffentlichten Papiere aus Italien und der nachfolgenden Weimarer Zeit beweisen aufs schlagendste, daß er der Entwicklung der Pflanzenform aus den einfachsten Anfängen eingehende Aufmerksamkeit geschenkt hat Schon in Rom sehen wir ihn zahlreiche Beobachtungen über das Keimen von Samen machen, und er verfolgt das Auswachsen der kleinen Pflänzchen bis zur Ausbildung ihrer entschiedenen Form. In Rom und Weimar hat er Notizen und Zeichnungen gemacht von der Keimung des Mais, der Bohne, des Kürbis, der Wicke, des Nasturtium, der Pinie, Dattelpalme, ja selbst des Kaktus, und gewann so einen umfassenden Einblick nicht nur in die endgültige Pflanzenform, sondern auch in deren allmähliche Entstehung. Diese entwicklungsgeschichtlichen Studien sind auch für seine spätere Darstellung der Pflanzenmetamorphose mit maßgebend gewesen. Auf andere Untersuchungen wurde er von dem in Rom lebenden Deutschen Reiffenstein hingewiesen. Dieser verfocht die These, daß eigentlich jeder abgeschnittene Pflanzenteil, in die Erde gesteckt, Wurzel schlage und weiter wachse. Er und Goethe stellten außerordentlich zahlreiche Versuche hierüber an und konnten sich in der Tat von der Möglichkeit überzeugen, sehr viele Pflanzen durch Stecklinge weiter zu züchten. Für Goethe resultierte daraus eine erweiterte Kenntnis von der Wachstumsfähigkeit der einzelnen Teile. Auch abnorm ausgebildete Pflanzen wurden studiert und gezeichnet. Die Beobachtung der später zu erwähnenden durchgewachsenen Nelken fällt in diese Zeit. So gewinnen seine Anschauungen an Umfang und Tiefe. Sein „Pflanzensystem" rundet sich immer mehr ab. Im Anschluß an den Versuch, seinem Freunde Moritz die neuen Ideen zu dozieren, werden die ersten zusammenhängenden Aufzeichnungen in Rom gemacht.
Dann kehrte Goethe nach Deutschland zurück. Aber es dauerte noch über zwei Jahre, bis die botanischen Entdeckungen, die er in Italien gemacht hatte, so weit gereift waren, daß er sie für publikationsfähig hielt. Es wurden noch vielfach Einzelbeobachtungen angestellt, Notizen gesammelt, Zeichnungen angefertigt und das Ganze immer und immer wieder durchdacht bis zur ausführlicheren schriftlichen Formulierung geschritten wurde. Aber auch hier blieb es nicht bei der ersten Form, mannigfach wurde umgeschrieben, Hypothesen wurden aufgestellt und verworfen, bis endlich die Pflanzenmetamorphose die uns heute überlieferte Gestalt erhielt. 1790 erschien dann: „J. W. v. Goethe Herzoglich Sachsen-Weimarischen Geheimrats Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären"; ein Heft von 86 Seiten, das die Resultate von Goethes Forschungen enthielt. Wir sehen aus der Vorgeschichte dieses Werkchens, daß Goethe recht hatte, wenn er schrieb: „Nicht also durch eine außerordentliche Gabe des Geistes, nicht durch eine momentane Inspiration, noch unvermutet und auf einmal, sondern durch ein folgerechtes Bemühen bin ich endlich zu einem so erfreulichen Resultate gelangt."
Wir wollen jetzt den Inhalt von Goethes Abhandlung kurz entwickeln, um dann später ihre Bedeutung besser würdigen zu können. Die These, welche bewiesen werden soll, ist, daß alle Pflanzenteile außer dem Stamm (der Achse) als umgewandelte Blätter anzusehen sind. Der Gegenstand, auf den sich dieser Goethesche Satz bezieht, sind nicht die niedern Pflanzen (Kryptogamen), sondern nur die Phanerogamen, also die Blütenpflanzen im eigentlichen Sinn, und auch bei diesen handelt es sich für Goethe im wesentlichen nur um die oberirdischen Pflanzenteile. Die Wurzel fällt fast ganz aus dem Kreis seiner Betrachtungen heraus. Die Methode, mit der er nun alle Seitenorgane der Pflanze als umgewandelte Blätter nachweist, beruht darauf, daß er überall Übergänge zwischen den ausgebildeteren Laubblättern und den andern Seitenorganen aufdeckt, und zwar findet er solche Übergangsformen zunächst bei normalen Pflanzen (normale Metamorphose), dann aber auch zweitens bei abnormen, ja sogar bei pathologischen Wuchsformen, wie sie in der Natur vorkommen, oder durch künstliche Züchtung erzielt werden, (unregelmäßige oder regressive Metamorphose) und drittens bei Pflanzen, die durch äußere Ursachen, z. B. Insektenstiche, verändert worden sind (zufällige Metamorphose).
Goethes Darstellung beginnt mit den Keimblättern, den Kotyledonen. Er findet diese in der Ein- oder Zweizahl von den verschiedensten Formen, kann sie aber alle in eine Reihe ordnen, so daß von der ungestaltetsten abenteuerlichsten Form bis zur einfachen blattähnlichen alle Übergänge vorhanden sind. Er findet weiter, daß die Keimblätter beim weiteren Wachsen der Pflanze allmählich immer mehr eine blattähnliche Form und grüne Farbe gewinnen; sie bleiben aber stets einfacher gestaltet wie die vollausgebildeten Blätter. Diesen wendet sich nun der Autor zu und weist darauf hin, daß beim Wachstum vieler Pflanzen zuerst nach den Kotyledonen Blätter hervorsprossen, welche noch relativ einfach gebaut sind, keinen Stiel haben, einen ungezackten Rand besitzen usw. |e mehr die Pflanze wächst, desto mehr Blätter werden produziert und diese werden bei zahlreichen Pflanzen nun stufenweise immer komplizierter, bis die endgültige Blattform erreicht ist. Die Mittelrippen werden allmählich länger, Nebenrippen werden ausgebildet, der Blattrand gekerbt oder eingeschnitten, der Blattstiel immer mehr entwickelt. Goethe weist an dieser Stelle auf das Beispiel der Dattelpalme hin. Im Goethehause fand sich eine Folge von Aquarellen, welche die allmähliche Ausbildung der komplizierten Blattform veranschaulicht und von Goethe wahrscheinlich zur Illustration seines „zweiten Versuchs über die Metamorphose der Pflanzen" bestimmt war. Fig. 1 gibt die Abbildungen in verkleinertem Maßstabe wieder. Von Wichtigkeit für die Gestaltung der Blattform sind ferner äußere Bedingungen, Belichtung, Luftzug, Höhe des Standortes. Ein Beispiel sind die Ranunkelblätter, welche verschieden gebildet werden, je nachdem sie unter Wasser oder in freier Luft auswachsen. So gelangt Goethe stufenweise zu der voll ausgebildeten Blattform.
Daran schließt sich die Erörterung des Blütenstandes, der entweder unvermittelt von der Pflanze hervorgebracht wird oder durch Übergänge mit den Laubblättern verbunden ist. Diese letzteren werden nun ausführlich dargelegt. Zwischen Kelchblättern und Laubblättern finden sich zahlreiche Zwischenformen; bei einzelnen Pflanzen werden unterhalb des Kelches die Laubblätter kleiner und vermitteln so den Übergang; der Kelch kann aus einzelnen getrennten Blättern bestehen oder ringsum verwachsen. Danach wird die Blumenkrone besprochen. Von dieser zu den Kelchblättern werden ebenfalls Zwischenformen beobachtet, z. B. bei der Nelke, wo noch grün gefärbte Kronenblätter vor- kommen. Bei einzelnen Blumen fehlt der Kelch ganz und es kommen dann direkte Übergänge zwischen BILDER Stengelblättern und Kronenblättern vor, wie z. B. bei der Tulpe, wo manchmal ein Blumenblatt noch zur Hälfte grün sein und die Form eines richtigen Stengelblattes zeigen kann (siehe Fig. 2 nach einem im Goethehaus befindlichen Aquarell). Das nächste Glied in der Reihe bilden die Staubwerkzeuge. Auch bei diesen kommen normale und unregelmäßige Übergangsformen vor. Normale z. B. bei der Canna, wo ein Blumenblatt direkt den Staubbeutel trägt. Unregelmäßige lassen sich zahlreich bei gefüllten Blumen, z. B. Rosen auffinden; bei halbgefüllten Rosen sieht man einerseits ausgebildete Blumenblätter, andrerseits richtige Staubgefäße, dazwischen aber Blumenblätter, welche in der Mitte einen Staubbeutel tragen , oder Gebilde , welche zur einen Hälfte die Gestalt eines halben Rosenblattes, zur andern die eines halben Staubbeutels haben. Hieran schließt Goethe die Besprechung der Nektarien, derjenigen Blütenorgane, die den Honigsaft produzieren, welcher die Insekten anlockt. Er gibt auch bei diesen zahlreiche Beispiele, welche deren Blattähnlichkeit illustrieren. Danach folgt die Besprechung des Griffels. Normale Übergänge zu den Blumenblättern sind zahlreich. Bei gefüllten Blumen kann der Griffel geradezu durch solche ersetzt werden. Auch die Frucht führt Goethe auf die Blattform zurück. Er findet Übergänge zwischen den Samenkapseln und kelchähnlichen Blättern bei der Nelke; er demonstriert die Zusammensetzung aus blattähnlichen Gebilden bei Hülsen, Schoten und Kapseln, bei denen dies besonders deutlich wird, wenn sie aufspringen und so selbst in ihre natürlichen Bestandteile zerfallen. Durch schrittweise Stufenfolge der Darstellung gelangt Goethe dazu, auch schließlich die eigenartig geformten Früchte, wie den Apfel oder die Kastanie, mit der Blattform zu vergleichen. Daran schließt sich dann noch eine Besprechung der Samenhüllen.
Die bisherige Darstellung bezog sich hauptsächlich auf einfach gebaute einjährige krautartige Pflanzen, bei denen Blätter und Blüte im wesentlichen nur um eine Achse geordnet sind. Das Verständnis des Baues bei den vielfach verzweigten Sträuchern und Bäumen ergibt sich für Goethe aus der Betrachtung der Augen. In vielen Fällen sitzt in dem Winkel, in welchem der Blattstiel von der Achse entspringt, ein Auge, d. h. ein Vegetationspunkt, der im günstigen Falle zu einem neuen Zweig auswächst. Diesen betrachtet der Autor einfach als eine neue kleine Pflanze, welche auf dem alten Stamm wächst und nun ihrerseits wieder Laubblätter, Blume und Frucht produzieren kann. Auf diese Weise gelingt es ihm, auch die kompliziertest verzweigten Gewächse auf sein einfaches Schema zurückzuführen. Es werden dann noch kurz die zusammengesetzten Blütenstände diskutiert. Dann weist Goethe noch auf zwei abnorme Beispiele hin, welche er zu beobachten Gelegenheit hatte: eine durchgewachsene Rose und eine ebensolche Nelke. Es waren das Blüten, welche nicht den Abschluß des sie tragenden Stengels bildeten, sondern aus denen wieder ein Stengel herauswuchs, der bei der Rose zuerst noch gefärbte, dann grüne Blätter trug und schließlich an seinem Ende eine zweite Rose ent- stehen ließ. Aus der Nelke waren sogar mehrere weitere Blüten hervorgesproßt. Diese Fälle sind für Goethe ein Beweis dafür, daß der Blütenstand nicht notwendigerweise das Ende des Wachstums der Achse bedeutet, sondern daß diese wenigstens die Möglichkeit besitzt, weiter zu wachsen und wieder Blüten hervorzubringen.
Den ganzen Kreis der Erscheinungen, die im vorstehenden kurz skizziert worden sind, faßt Goethe nun in eine einfache Regel zusammen, indem er von einem dreifachen Auseinander- und Wiederzusammenziehen spricht. Den kleinen und unscheinbaren Keimblättern folgen zunächst durch Auseinanderziehen der Form die ausgebildeten Laubblätter, dann findet ein Zusammenziehen zum Kelch, eine Wiederentfaltung zur Blumenkrone, ein drittes Zusammenziehen zu Staubgefäßen und Griffel und eine endliche letzte Entfaltung in der Frucht statt. Im Anschluß hieran legt sich nun der Dichter die Frage vor, durch welche Ursachen ein derartiges abwechselndes vollständiges Ausbilden der Seitenorgane und Zusammenziehen ihrer Form veranlaßt werde, und gibt zur Erklärung dieser Erscheinung eine Hypothese, welche für Goethes ganze Auffassungsweise von größtem Interesse ist. Er nimmt an, daß mit dem Wachstum der Pflanze die Säfte auch in ihre höheren Teile eindringen und dabei in den Saftbahnen allmählich immer feiner filtriert und verändert werden. Durch diese veränderten Säfte werde dann die Ausbildung der Blattform modifiziert und deshalb käme es zur Produktion von Blumenblättern, Staubwerkzeugen usw. Die fortschreitende Kenntnis der Pflanzenphysiologie hat allerdings gezeigt, daß die Stoffwechselvorgänge lange nicht so einfach liegen, wie Goethe vor über 100 Jahren noch voraussetzen konnte. Es ist aber von größter Wichtigkeit, daß er schon damals angenommen hat, daß die Formbildungsprozesse bei der Pflanze abhängig seien von Stoffwechselvorgängen und daß ein veränderter Chemismus im Pflanzeninnern die Ursache sein könne von veränderter Ausbildung der Blattform. Wir werden das prinzipiell Wichtige dieser Annahme noch weiter unten zu erörtern haben.
Das ist in Kürze der Inhalt von Goethes Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären. Er hat später daran gedacht, das dem Werke zugrunde liegende Tatsachenmaterial zu einem Teil wenigstens zur Anschauung zu bringen, und ließ kolorierte Tafeln anfertigen, welche zahlreiche Beispiele für seine Behauptungen brachten. Die Veröffentlichung ist aber bis jetzt unterblieben. Die Tafeln ruhen heute noch im Goethemuseum. Zwei von ihnen konnten zur Illustration dieses Vortrages verwendet werden. Wie Prof. Hansen im Goethejahrbuch mitteilt, wird er demnächst diese Abbildungen veröffentlichen.
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