[Zur Morphologie. Ersten Bandes zweites Heft. 1820]
Als ich die Kantische Lehre, wo nicht zu durchdringen, doch möglichst zu nutzen suchte, wölke
mir manchmal dünken, der köstliche Mann verfahre
schalkhaft-ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen
aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete. Er mochte freilich bemerkt haben,
wie anmaßend und naseweis der Mensch verfährt, wenn
er behaglich, mit wenigen Erfahrungen ausgerüstet, sogleich unbesonnen abspricht und voreilig etwas festzusetzen, eine Grille, die ihm durchs Gehirn läuft, den
Gegenständen aufzuheften trachtet. Deswegen beschränkt unser Meister seinen Denkenden auf eine reflektierende diskursive Urteilskraft, untersagt ihm eine bestimmende
ganz und gar. Sodann aber, nachdem er uns genugsam
in die Enge getrieben, ja zur Verzweiflung gebracht, entschließt er sich zu den liberalsten Äußerungen und überläßt uns, welchen Gebrauch wir von der Freiheit machen
wollen, die er einigermaßen zugesteht. In diesem Sinne war mir folgende Stelle höchst bedeutend:
"
Wir können uns einen Verstand denken, der, weil er nicht wie der unsrige diskursiv, sondern intuitiv ist, vom
synthetisch Allgemeinen, der Anschauung eines Ganzen als eines solchen, zum Besondern geht, das ist, von dem
Ganzen zu den Teilen. —Hierbei ist gar nicht nötig zu beweisen, daß ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur, daß wir in der Dagegenhaltung unseres dis- kursiven, der Bilder bedürftigen Verstandes (vitellectus eciypus) und der Zufälligkeit einer solchen Beschaffenheit auf jene Idee eines intellectus archetypus geführt werden,
diese auch keinen Widerspruch enthalte."
Zwar scheint der Verfasser hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern
sollen, so dürft es wohl im Intellektuellen derselbe Fall
sein, daß wir uns durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten. Hatte ich doch erst unbewußt
und aus innerem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische
rastlos gedrungen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstellung aufzubauen, so konnte mich nunmehr
nichts weiter verhindern, das "Abenteuer der Vernunft",
wie es der Alte vom Königsberge selbst nennt, mutig zu
bestehen.
Gespräche Eckermann
Goethes philosophische Schriften
Goethe auf meiner Seite
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