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2020-02-22

J.W.v.Goethe: Aphorismen- Beobachten und Denken




Beobachten und Denken

Der Mensch, wo er bedeutend auftritt, verhält sich gesetzgebend, vorerst im Sittlichen durch Anerkennung der Pflicht, ferner im Religiösen, sich zu einer besondern innern Überzeugung von Gott und göttlichen Dingen bekennend, sodann auf derselben analoge bestimmte äußere Zeremonien beschränkend. Im Regiment, es sei friedlich oder kriegerisch, geschieht das gleiche: Handlung und Tat sind nur von Bedeutung, wenn er sie sich selbst und andern vorschrieb; in Künsten ist es dasselbe: wie der Menschengeist sich die Musik unterwarf, sagt Vorstehendes; wie er auf die bildende Kunst in den höchsten Epochen, durch die größten Talente wirkend, seinen Einfluß betätigte, ist zu unserer Zeit ein offenbares Geheimnis. In der Wissenschaft deuten die unzähligen Versuche zu systematisieren, zu schematisieren dahin. Unsere ganze Aufmerksamkeit muß aber daraufgerichtet sein, der Natur ihr Verfahren abzulauschen, damit wir sie durch zwängende Vorschrift nicht widerspenstig machen, aber uns dagegen auch durch ihre Willkür nicht vom Zweck entfernen lassen.

Wenn der Naturforscher sein Recht einer freien Beschauung und Betrachtung behaupten will, so mache er sich zur Pflicht, die Rechte der Natur zu sichern; nur da, wo sie frei ist, wird er frei sein, da, wo man sie mit Menschensatzungen bindet, wird auch er gefesselt werden.

Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue Antwort auf redliche Frage ist: Ja! Ja! Nein! Nein! Alles Übrige ist vom Übel.

Die Fehler der Beobachter entspringen aus den Eigenschaften des menschlichen Geistes.
Der Mensch kann und soll seine Eigenschaften weder ablegen noch verleugnen.
Aber er kann sie bilden und ihnen eine Richtung geben.
Der Mensch will immer tätig sein.
Ein Phänomen an und vor sich scheint ihm nicht wichtig genug.
Wenn es nicht eigentlich auf ihn wirkt, steht er zwar als Beobachter da, allein er behandelt es schnell als einen Minor.
Eilig sucht er sich einen Major dazu, um so geschwind als möglich eine Konklusion machen zu können.
Er findet dabei einen doppelten Vorteil.
Er ist tätig gewesen, und er hat ein Objekt sich zugeeignet, in sein Ganzes verschlungen, oder die Anforderung eines schwachen Interesses beiseite geschafft.
Zum Beobachter gehört natürliche Anlage und zweckmäßige Bildung.
Der Beobachter muß mehr das Ordnen als das Verbinden und Knüpfen lieben.
Wer zur wahren Ordnung geneigt ist, wird, sobald etwas Fremdes erscheint, das in seine Einrichtung nicht paßt, lieber die ganze Zusammenstellung verändern, als das Eine auslassen oder wissentlich falsch stellen.
Wer zum Verknüpfen geneigt ist, wird seine Verbindung nicht gerne auflösen; er wird etwas Neues lieber ignorieren oder künstlich mit dem Alten verbinden.
Die Ordnung ist mein: objektiv.

Die Verknüpfung mehr subjektiv.
Wir lieben das Objekt nicht so sehr als unsere Meinung; wir bilden uns weniger darauf ein und lassen es lieber fahren.
Die erste von allen Eigenschaften ist die Aufmerksamkeit, wodurch das Phänomen sicher wird. Verwandlung des Phänomens in einen Versuch.
Möglichkeit, dadurch viele Phänomene in eine Rubrik zu bringen.
Ordnung dieser Rubriken.
Subjektives in dieser Ordnung.
Methode der Ordnung.
Besonders bei elementarischen Gegenständen.
Unterschied der Behandlung bestimmter und besonders organischer Körper. Ordnung die beste, wodurch die Phänomene gleichsam ein großes Phänomen werden, dessen Teile sich aufeinander beziehn.
Terminologie.
Übrige theoretische Handhaben.
Hypothesen.
Gründlichkeit im Beobachten.
Versatilität in der Vorstellungsart.

Die gegenständliche Welt ist für uns darum da, um unsere Fähigkeiten daran zu üben. Manches an ihr ist widerwärtig genug, manches aber erlaubt uns eine freie liebevolle Teilnahme.

Es ist ein angenehmes Geschäft, die Natur zugleich und sich selbst zu erforschen, weder ihr noch seinem Geiste Gewalt anzutun, sondern beide durch gelinden Wechseleinfluß miteinander ins Gleichgewicht zu setzen.

Die höhere Empirie verhält sich zur Natur wie der Menschenverstand zum praktischen Leben.

Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an Naturgeschichte beruht auf Vergleichung.

Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, was für Theorie gelten könnte.

Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.

Wer sich mit reiner Erfahrung begnügt und darnach handelt, der hat Wahres genug. Das heranwachsende Kind ist weise in diesem Sinne.

Die Theorie an und für sich ist nichts nütze, als insofern sie uns an den Zusammenhang der Erscheinungen glauben macht.

Theorie und Erfahrung
Phänomenen  .. stehen gegeneinander in beständigem Konflikt.
Alle Vereinigung in der Reflexion ist eine Täuschung; nur durch Handeln können sie vereinigt werden.

Theorien sind gewöhnlich Übereilungen eines ungeduldigen Verstandes, der die Phänomene gern los.sein möchte und an ihrer Stelle deswegen Bilder, Begriffe, ja oft nur Worte einschiebt. Man ahnet, man sieht auch wohl, daß es nur ein Behelf ist; liebt sich nicht aber Leidenschaft und Parteigeist jederzeit Behelfe.- Und mit Recht, da sie ihrer so sehr bedürfen.

Ein großes Übel in den Wissenschaften, ja überall, entsteht daher, daß Menschen, die kein Ideenvermögen haben, zu theoretisieren sich vermessen, weil sie nicht begreifen, daß noch so vieles Wissen hiezu nicht berechtigt. Sie gehen im Anfange wohl mit einem löblichen Menschenverstand zu Werke, dieser aber hat seine Grenzen, und wenn er sie überschreitet, kommt er in Gefahr, absurd zu werden. Des Menschenverstandes angewiesenes Gebiet und Erbteil ist der Bezirk des Tuns und Handelns. Tätig wird er sich selten verirren; das höhere Denken, Schließen und Urteilen jedoch ist nicht seine Sache.

Gewöhnliches Anschauen, richtige Ansicht der irdischen Dinge ist ein Erbteil des allgemeinen Menschenverstandes; reines Anschauen des Äußern und Innern ist sehr selten.

Es äußert sich jenes im praktischen Sinn, im unmittelbaren Handeln; dieses symbolisch, vorzüglich durch Mathematik, in Zahlen und Formeln, durch Rede, uranfänglich, tropisch, als Poesie des Genies, als Sprichwörtlichkeit des Menschenverstandes.

Alles Abstrakte wird durch Anwendung dem Menschenverstand genähert, und so gelangt der Menschenverstand durch Handeln und Beobachten zur Abstraktion.

Im Betrachten wie im Handeln ist das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dies läßt sich im Leben wie im Wissen wenig leisten.

Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen.

Begreiflich ist jedes Besondere, das sich auf irgendeine Weise anwenden läßt. Auf diese Weise kann das Unbegreifliche nützlich werden.

Wie wir Menschen in allem Praktischen auf ein gewisses Mittlere gewiesen sind, so ist es auch im Erkennen. Die Mitte, von da aus gerechnet, wo wir stehen, erlaubt wohl auf- und abwärts mit Blick und Handeln uns zu bewegen; nur Anfang und Ende erreichen wir nie, weder mit Gedanken noch Tun, daher es rätlich ist, sich zeitig davon loszusagen.

Der Gemeinverstand, der als Genie der Menschheit gelten soll, muß vorerst in seinen Äußerungen betrachtet werden. Forschen wir, wozu ihn die Menschheit benutzt, so finden wir folgendes:
Die Menschheit ist bedingt durch Bedürfnisse. Sind diese nicht befriedigt, so erweist sie sich ungeduldig; sind sie befriedigt, so erscheint sie gleichgültig. Der eigentliche Mensch bewegt sich also zwischen beiden Zuständen, und seinen Verstand, den sogenannten Menschenverstand, wird er anwenden, seine Bedürfnisse zu befriedigen; ist es geschehen, so hat er die Aufgabe, die Räume der Gleichgültigkeit auszufüllen. Beschränkt sich dieses in die nächsten und notwendigsten Grenzen, so gelingt es ihm auch. Erheben sich aber die Bedürfnisse, treten sie aus dem Kreise des Gemeinen heraus, so ist der Gemeinverstand nicht mehr hinreichend, er ist kein Genius mehr, die Region des Irrtums ist der Menschheit aufgetan.

Denken ist interessanter als wissen, aber nicht als anschauen.

Die Natur auffassen und sie unmittelbar benutzen, ist wenig Menschen gegeben; zwischen Erkenntnis und Gebrauch erfinden sie sich gern ein Luftgespinst, das sie sorgfältig ausbilden und darüber den Gegenstand zugleich mit der Benutzung vergessen.

Hypothesen sind Gerüste, die man vor dem Gebäude aufführt, und die man abträgt, wenn das Gebäude fertig ist; sie sind dem Arbeiter unentbehrlich; nur muß er das Gerüste nicht für das Gebäude ansehn.

Hypothesen sind Wiegenlieder, womit der Lehrer seine Schüler einlullt; der denkende treue Beobachter lernt immer mehr seine Beschränkung kennen; er sieht, je weiter sich das Wissen ausbreitet, desto mehr Probleme kommen zum Vorschein.

Wenn man den menschlichen Geist von einer Hypothese befreit, die ihn unnötig einschränkte, die ihn nötigte, falsch zu sehen, falsch zu kombinieren, anstatt zu schauen zu grübeln, anstatt zu urteilen zu sophistisieren, so hat man ihm schon einen großen Dienst erzeigt. Er sieht die Phänomene freier, in andern Verhältnissen und Verbindungen an, er ordnet sie nach seiner Weise, er erhält wieder die Gelegenheit, selbst und auf seine Weise zu irren, eine Gelegenheit, die unschätzbar ist, wenn er in der Folge bald dazu gelangt, seinen Irrtum selbst wieder einzusehen.

Läßliche Hypothese nenn ich eine solche, die man gleichsam schalkhaft aufstellt, um sich von der ernsthaften Natur widerlegen zu lassen.

Die Konstanz der Phänomene ist allein bedeutend; was wir dabei denken ist ganz einerlei.

Alle Hypothesen hindern den (griech.??)  das Wiederbeschauen, das Betrachten der Gegenstände, der fraglichen Erscheinung von allen Seiten.

In der Geschichte der Naturforschung bemerkt man durchaus, daß die Beobachter von der Erscheinung zu schnell zur Theorie hineilen und dadurch unzulänglich, hypothetisch werden.

Wer den Unterschied des Phantastischen und Ideellen, des Gesetzlichen und Hypothetischen nicht zu fassen weiß, der ist als Naturforscher in einer üblen Lage.

Es gibt Hypothesen, wo Verstand und Einbildungskraft sich an die Stelle der Idee setzen.

Wir möchten nicht gern gleich von Anfang unsre Leser durch irgendeine Paradoxie scheu machen, wir können uns aber doch nicht enthalten, zu behaupten, daß sich durch Erfahrungen und Versuche eigentlich nichts beweisen läßt. Die Phänomene lassen sich sehr genau beobachten, die Versuche lassen sich reinlich anstellen, man kann Erfahrungen und Versuche in einer gewissen Ordnung aufführen, man kann eine Erscheinung aus der andern ableiten, man kann einen gewissen Kreis des Wissens darstellen, man kann seine Anschauungen zur Gewißheit und Vollständigkeit erheben, und das, dächte ich, wäre schon genug. Folgerungen hingegen zieht jeder für sich daraus; beweisen läßt sich nichts dadurch, besonders keine Ibilitäten und Keiten. Alles, was Meinungen über die Dinge sind, gehört dem Individuum an, und wir wissen nur zu sehr, daß die Überzeugung nicht von der Einsicht, sondern von dem Willen abhängt; daß niemand etwas begreift, als was ihm gemäß ist und was er deswegen zugeben mag. Im Wissen wie im Handeln entscheidet das Vorurteil alles, und das Vorurteil, wie sein Name wohl bezeichnet, ist ein Urteil vor der Untersuchung. Es ist eine Bejahung oder Verneinung dessen, was unsre Natur anspricht oder ihr widerspricht; es ist ein freudiger Trieb unsres lebendigen Wesens nach dem Wahren wie nach dem Falschen, nach allem was wir mit uns im Einklang fühlen.

Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genauste physikalische Apparat, den es geben kann; und das ist eben das größte Unheil der neuern Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will.

Ebenso ist es mit dem Berechnen. — Es ist vieles wahr, was sich nicht berechnen läßt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt.

Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was ist denn eine Saite und alle mechanische Teilung derselben gegen das Ohr des Musikers; ja man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modifizieren muß, um sie sich einigermaßen assimilieren zu können.

Es ist von einem Experiment zu viel gefordert, wenn es alles leisten soll. Konnte man doch die Elektrizität erst nur durch Reiben darstellen, deren höchste Erscheinung jetzt durch bloße Berührung hervorgebracht wird.

Es ist ein unabweisbarer Glaube des Naturforschers, daß einer jeden Modifikation des Subjektiven innerhalb der Sinnensphäre jedesmal eine im Objektiven entspreche. Gewiß sind die Sinne die feinsten und erregbarsten Messer und Reagenten der ihnen gehörigen Qualitäten und Verhältnisse der Materie, und wir müssen innerhalb des individuellen Kreises des Organismus ebenso die Gesetze der materiellen Welt erforschen, wie der Physiker äußerlich durch mannigfaltigen Apparat.
Könnte das Subjektive alle Materie so innig oder noch inniger durchdringen, wie es die Nervenmasse durchdrungen hält, so würden wahrscheinlich unzählbare neue, höchst zarte Modifikationen derselben zur Erscheinung kommen, von denen man es jetzt kaum wagen möchte eine Ahnung zu fassen.

Da diejenigen, welche wissenschaftliche Versuche anstellen, selten wissen, was sie eigentlich wollen und was dabei herauskommen soll, so verfolgen sie ihren Weg meistenteils mit großem Eifer; bald aber, da eigentlich nichts Entschiedenes entstehen will, lassen sie die Unternehmung fahren und suchen sie sogar andern verdächtig zu machen.

Die Gefahr, durch Versuche irgendeine Voraussetzung beweisen zu wollen, ist so groß, und es hängt so viel davon ab, ob meine Leser sie so klar wie ich einsehen, daß ich mich gedrungen fühle, noch einiges hierüber nachzubringen.
Was würden wir zu einem Taschenspieler sagen, der durch seine Kunststücke etwas beweisen wollte.' Er kann einem ehrlichen Manne einen fremden Beutel in die Tasche bringen; aber er beweist dadurch nicht, daß jener ein Dieb sei. Er kann eine verbrannte Karte wieder sehen lassen, er beweist aber dadurch die Palingenesie jener Karte nicht. Seine Kunst besteht darinne, daß er durch Geschicklichkeit und Geschwindigkeit unsern Augen die Mittel entzieht, wodurch er zu seinem Zwecke gelangt. Wären diese Mittel dem Zwecke nicht proportioniert, so würde es ein Wunder sein. Aber der Taschenspieler ahmt in seinem beschränkten Kreise die große Natur nach. Sie tut ebensowenig Wunder als er. Alle ihre Mittel sind ihrem Zwecke proportioniert, oder, um reiner zu sprechen: alle Resultate, die wir gewahr werden, sind Wirkungen höchst konsequenter, obgleich unsern Augen oft verborgner Ursachen. Sind wir nun geneigt, unsre Seele vom Anstaunen zur Bewunderung zu erheben, so müssen wir die Natur geradezu wie den Taschenspieler behandeln, und wie wir bei jenem Kunststücke, wobei Geschicklichkeit und Geschwindigkeit zwei sehr widersprechende Dinge, einen fremden Beutel und eines ehrlichen Mannes Tasche, zu verbinden gewußt, die Mittel hiezu und die Operationen Schritt vor' Schritt aufsuchen und es endlich doch noch bewundernswürdig finden, daß das Kunstwerk auf diesem Wege hat vollbracht werden können, so haben wir sorgfältig die Mittel aufzusuchen, wodurch die Natur in großer Nähe beieinander widersprechende Phänomene hervorzubringen weiß, so wie wir oft sehr harmonische Phänomene in anscheinender großer Entfernung voneinander mit Verwunderung bemerken.

Sehr interessant ist es, die Kunststücke der Taschenspieler aus ihren Elementen hergeleitet und ihre einfachsten Versuche bis zu den kompliziertesten in einer klaren Methode vorgelegt zu sehen. Es wird niemand gereuen, den kleinen Aufsatz hierüber im fünften Teile der Wiegleb-Rosenmüllerischen natürlichen Magie zu lesen, und ich wünsche, daß man sich dabei meiner Vergleichung erinnern möge.

Es ist offenbar, daß eine jede Entdeckung irgendeines Mittels, dessen sich die Natur bedient, um ein Resultat hervorzubringen, die Wissenschaften mehr vorwärts bringt, als die Bemühung, ein Resultat mit unserer Vorstellung zu verbinden.

Zwar ist dieses ein sehr feiner Punkt, und ich werde mich in der Folge bemühen, auch darüber meine Gedanken so deutlich als möglich darzulegen.
Denn da die einfacheren Kräfte der Natur sich oft unsern Sinnen verbergen, so müssen wir sie freilich durch die Kräfte unsers Geistes zu erreichen suchen und ihre Natur in uns darstellen, da wir sie außer uns nicht erblicken können. Und wenn wir dabei recht rein zu Werke gehen, so können wir zuletzt wohl sagen, daß, so wie unser Auge mit den sichtbaren Gegenständen, unsre Ohren mit den schwingenden Bewegungen erschütterter Körper völlig harmonisch gebaut sind, daß auch unser Geist mit den tiefer liegenden einfachem Kräften der Natur in Harmonie steht und sich solche ebenso rein vorstellen kann, als in einem klaren Auge sich die Gegenstände der sichtbaren Welt abbilden.

Man sehe die Physik genau durch, und man wird finden, daß die Phänomene, so wie die Versuche worauf sie gebaut ist, verschiedenen Wert haben.

Auf die primären, die Urversuche, kommt alles an, und das Kapitel, das hierauf gebaut ist, steht sicher und fest; aber es gibt auch sekundäre, tertiäre usw. Gesteht man diesen das gleiche Recht zu, so verwirren sie nur das, was von den ersten aufgeklärt war.

Induktion habe ich mir nie selbst erlaubt; wollte sie ein anderer gegen mich gebrauchen, so wüßt ich solche sogleich abzulehnen.

Induktion

Hab ich mir nie, auch gegen mich selbst nicht erlaubt.
Ich ließ die Facta isoliert stehen.
Aber das Analoge sucht ich auf. Und auf diesem Wege z. B. bin ich zum Begriff der Metamorphose der Pflanzen gelangt.
Induktion ist bloß demjenigen nütze, der überreden will.
Man gibt zwei, drei Sätze zu, auch einige Folgerungen, und man ist sogleich verloren.

Hier sind die Paralogismen eigentlich zu Hause, die Sub-und Obreptionen, und wie das Gezücht alles heißt, das ein Dialektiker viel besser bezeichnen und bestimmen wird, als ich es kann.
Auf einem solchen Gerüste von Stufenleitern verirrt der leidenschaftliche Mensch sich selbst.
Und wenn es Lebenshandlungen, Parteiungen, Meinungen, Vorteile des Mein und Dein, Neigungen gilt, so sind solche Verkettungen unauflöslich.
Es ist schwer, sich selbst davor zu hüten, andere aus solchen Banden loszulösen und zurückzuführen. Die Skepsis muß erst dogmatisch werden, dann findet sie auch wieder bereite Gegner.
Denn auch sie muß Probleme entweder ruhen lassen oder auf eine Weise lösen, die den Menschenverstand in Alarm setzt.

Induktion habe ich zu stillen Forschungen bei mir selbst nie gebraucht, weil ich zeitig genug deren Gefahr empfand.

Dagegen aber ist mirs unerträglich, wenn ein anderer sie gegen mich brauchen, mich durch eine Art Treibejagen mürbe machen und in die Enge schließen will.

Nach Analogien denken ist nicht zu schelten: die Analogie hat den Vorteil, daß sie nicht abschließt und eigentlich nichts Letztes will; dagegen die Induktion verderblich ist, die einen vorgesetzten Zweck im Auge trägt und, auf denselben losarbeitend, Falsches und Wahres mit sich fortreißt.

Mitteilung durch Analogien halt ich für so nützlich als angenehm; der analoge Fall will sich nicht aufdringen, nichts beweisen; er stellt sich einem andern entgegen, ohne sich mit ihm zu verbinden. Mehrere analoge Fälle vereinigen sich nicht zu geschlossenen Reihen; sie sind wie gute Gesellschaft, die immer mehr anregt als gibt.

Jedes Existierende ist ein Analogon alles Existierenden; daher erscheint uns das Dasein immer zu gleicher Zeit gesondert und verknüpft. Folgt man der Analogie zu sehr, so fällt alles identisch zusammen; meidet man sie, so zerstreut sich alles ins Unendliche. In beiden Fällen stagniert die Betrachtung, einmal als überlebendig, das andere Mal als getötet.

Die Analogie hat zwei Verirrungen zu fürchten: einmal sich dem Witz hinzugeben, wo sie in Nichts zerfließt; die andere, sich mit Tropen und Gleichnissen zu umhüllen, welches jedoch weniger schädlich ist.

Analogien. Gleichnisse taugen nichts zum Erklären: der Brot- und Ziegelteig durchs Feuer gebacken setzen ein schon Erzeugtes voraus; Bilden und Umbilden sind zwei mit- und nacheinander zu betrachtende Handlungen; setzt doch das Brot das Mehl, dieses den Weizen voraus. Hierauf wird wenig geachtet, wenn man von Uranfängen spricht; man glaubt erklärt zu haben und hat das Problem nur weiter hinausgeschoben.

Es ist eine Eigenheit dem Menschen angeboren und mit seiner Natur innigst verwebt: daß ihm zur Erkenntnis das Nächste nicht genügt; da doch jede Erscheinung, die wir selbst gewahr werden, im Augenblick das Nächste ist, und wir von ihr fordern können, daß sie sich selbst erkläre, wenn wir kräftig in sie dringen.

Das werden aber die Menschen nicht lernen, weil es ge- gen ihre Natur ist; daher die Gebildeten es selbst nicht lassen können, wenn sie an Ort und Stelle irgendein Wahres erkannt haben, es nicht nur mit dem Nächsten, sondern auch mit dem Weitesten und Fernsten zusammenzuhängen, woraus denn Irrtum über Irrtum entspringt. Das nahe Phänomen hängt aber mit dem fernen nur in dem Sinne zusammen, daß sich alles auf wenige große Gesetze bezieht, die sich überall manifestieren.

Das Einfache durch das Zusammengesetzte, das Leichte durch das Schwierige erklären zu wollen, ist ein Unheil, das in dem ganzen Körper der Wissenschaft verteilt ist von den Einsichtigen wohl anerkannt, aber nicht überall eingestanden.

Die Menschen verdrießts, daß das Wahre so einfach ist; sie sollten bedenken, daß _sie noch Mühe genug haben, es praktisch zu ihrem Nutzen anzuwenden.

Aber so muß es allen ergehen, die von der Natur abweichen, welche das Hinterste zuvörderst stellen, das Abgeleitete zum Ursprünglichen erheben, das Ursprüngliche zum Abgeleiteten erniedrigen, das Zusammengesetzte einfach, das Einfache zusammengesetzt nennen. Alles muß bei ihnen verkehrt werden, weil das Erste verkehrt war; und doch finden sich Geister vorzüglicher Art, die sich auch am Verkehrten erfreuen.

Es ist das eigne zu bemerken, daß der Mensch sich mit dem einfachen Erkennbaren nicht begnügt, sondern auf die verwickelteren Probleme losgeht, die er vielleicht nie erfassen wird. Jenes einfache Faßliche ist durchaus anwendbar und nützlich und kann uns ein ganzes Leben durch beschäftigen, wenn es uns genügt und belebt.

Merkwürdiger ist nichts in der Welt der Meinung, als daß man, um Phänomene zu erklären, die gewaltsamsten Mittel zu Hülfe ruft, anstatt daß man bei ruhiger Umsicht das nächste Natürliche bei der Hand gehabt hätte . . . Aber der mechanischen Erklärungsart ist nichts zu absurd, was sie nicht ganz natürlich fände.

Die nächsten faßlichen Ursachen sind greiflich und eben deshalb am begreifhchsten; weswegen wir uns gern als mechanisch denken, was höherer Art ist.

Wie manches Bedeutende sieht man aus Teilen zusammensetzen; man betrachte die Werke der Baukunst; man sieht manches sich regel- und unregelmäßig anhäufen; daher ist uns der atomistische Begriff nah und bequem zur Hand, deshalb wir uns nicht scheuen, ihn auch in organischen Fällen anzuwenden.

Fall und Stoß. Dadurch die Bewegung der Weltkörper erklären zu wollen, ist eigentlich ein versteckter Anthropomorphismus, es ist des Wanderers Gang über Feld. Der aufgehobene Fuß sinkt nieder, der zurückgebliebene strebt vorwärts und fällt; und immer so fort, vom Ausgehen bis zum Ankommen.

Wie wäre es, wenn man auf demselben Wege den Vergleich von dem Schrittschuhfahren hernähme wo das Vorwärtsdringen dem zurückbleibenden Fuße zukommt, indem er zugleich die Obliegenheit übernimmt, noch eine solche Anregung zu geben, daß sein nunmehriger Hintermann auch wieder eine Zeitlang sich vorwärts zu bewegen die Bestimmung erhält.

Der Begriff von Entstehen ist uns ganz und gar versagt; daher wir, wenn wir etwas werden sehen, denken, daß es schon dagewesen sei. Deshalb kommt das System der Einschachtelung uns begreiflich vor.

Alles ist einfacher, als man denken kann, zugleich verschränkter, als zu begreifen ist.

Wer zu viel verlangt, wer sich am Verwickelten erfreut, der ist den Verirrungen ausgesetzt.


Zeitgenossen und Nachfahren

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