Wissen und Wissenschaft
In der Naturforschung bedarf es eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen; nur bedenke man, daß man dadurch nicht am Ende, sondern erst am Anfang ist.
Wissenschaften entfernen sich im ganzen immer vom Leben
und kehren nur durch einen Umweg wieder dahin zurück.
Denn sie sind eigentlich Kompendien des Lebens; sie bringen die äußern und innern Erfahrungen ins Allgemeine, in einen Zusammenhang.
Das Interesse an ihnen wird im Grunde nur in einer besondern Welt, in der wissenschaftlichen erregt; denn daß man auch die übrige Welt dazu beruft und ihr davon Notiz
gibt, wie es in der neuern Zeit geschieht, ist ein Mißbrauch und bringt mehr Schaden als Nutzen.
Nur durch eine erhöhte Praxis sollten die Wissenschaften
auf die äußere Welt wirken: denn eigentlich sind sie alle esoterisch und können nur durch Verbessern irgendeines
Tuns exoterisch werden. Alle übrige Teilnahme führt zu
nichts.
Die Wissenschaften, auch in ihrem innern Kreise betrachtet,
werden mit augenblicklichem jedesmaligem Interesse behandelt. Ein starker Anstoß, besonders von etwas Neuem
und Unerhörtem oder wenigstens mächtig Gefördertem,
erregt eine allgemeine Teilnahme, die Jahre lang dauern
kann, und die besonders in den letzten Zeiten sehr fruchtbar geworden ist.
Ein bedeutendes Faktum, ein geniales Apercu beschäftigt eine sehr große Anzahl Menschen , erst nur um es zu kennen,
dann um es zu erkennen, dann es zu bearbeiten und weiterzuführen.
Die Menge fragt bei einer jeden neuen bedeutenden Erscheinung, was sie nutze, und sie hat nicht unrecht; denn
sie kann bloß durch den Nutzen den Wert einer Sache
gewahr werden.
Die wahren Weisen fragen, wie sich die Sache verhalte
in sich selbst und zu andern Dingen, unbekümmert um
den Nutzen, d. h. um die Anwendung auf das Bekannte
und zum Leben Notwendige, welche ganz andere Geister,
scharfsinnige, lebenslustige, technisch geübte und gewandte, schon finden werden.
Die Afterweisen suchen von jeder neuen Entdeckung nur
so geschwind als möglich für sich einigen Vorteil zu ziehen,
indem sie einen eitlen Ruhm bald in Fortpflanzung, bald
in Vermehrung, bald in Verbesserung, geschwinder Besitznahme, vielleicht gar durch Präokkupation zu erwerben
trachten und durch solche Unreifheiten die wahre Wissenschaft unsicher machen und verwirren, ja ihre schönste
Folge, die praktische Blüte derselben, offenbar verkümmern.
Weder Mythologie noch Legende sind in der Wissenschaft
zu dulden. Lasse man diese den Poeten, die berufen sind,
sie zu Nutz und Freude der Welt zu behandeln. Der wissenschaftliche Mann beschränke sich auf die nächste klarste Gegenwart. Wollte derselbe jedoch gelegentlich als Rhetor
auftreten, so sei ihm jenes auch nicht verwehrt.
In den Wissenschaften ist viel Gewisses, sobald man sich von den Ausnahmen nicht irremachen läßt und die Probleme zu ehren weiß.
Man tut nicht wohl, sich allzulange im Abstrakten aufzuhalten. Das Esoterische schadet nur, indem es exoterisch zu werden trachtet. Leben wird am besten durchs Lebendige belehrt.
Es ist mit den Ableitungsgründen wie mit den Einteilungsgründen, sie müssen durchgehen, oder es ist gar nichts dran.
Auch in Wissenschaften kann man eigentlich nichts wissen,
es will immer getan sein.
Die Wissenschaft hilft uns vor allem, daß sie das Staunen, wozu wir von Natur berufen sind, einigermaßen erleichtere; sodann aber, daß sie dem immer gesteigerten Leben neue
Fertigkeiten erwecke zu Abwendung des Schädlichen und
Einleitung des Nutzbaren.
Das Wissen beruht auf der Kenntnis des zu Unterscheidenden, die Wissenschaft auf der Anerkennung des nicht zu Unterscheidenden.
Das Wissen wird durch das Gewahrwerden seiner Lücken,
durch das Gefühl seiner Mängel zur Wissenschaft geführt,
welche vor, mit und nach allem Wissen besteht.
Wir würden unser Wissen nicht für Stückwerk erklären, wenn wir nicht einen Begrifif von einem Ganzen hätten.
Die Wissenschaften zerstören sich auf doppelte Weise
selbst: durch die Breite, in die sie gehen, und durch die
Tiefe, in die sie sich versenken.
Die Wissenschaft wird dadurch sehr zurückgehalten, daß man sich abgibt mit dem, was nicht wissenswert, und mit dem, was nicht wißbar ist.
Alles was man (in Wissenschaften) fordert, ist so ungeheuer, daß man recht gut begreift, daß gar nichts geleistet wird.
Wenn in Wissenschaften alte Leute retardieren, so retrogredieren junge. Alte leugnen die Vorschritte, wenn sie nicht mit ihren früheren Ideen zusammenhängen; junge, wenn sie der Idee nicht gewachsen sind und doch auch
etwas Außerordentliches leisten möchten.
Was die Wissenschaften am meisten retardiert, ist, daß diejenigen, die sich damit beschäftigen, ungleiche Geister sind.
Es ist ihnen wohl Ernst; aber sie wissen nicht, was sie mit
dem Ernst machen sollen.
Was ich recht weiß, weiß ich nur mir selbst; ein ausgesprochenes Wort fördert selten, es erregt meistens
Widerspruch, Stocken und Stillstehen.
Man weiß eigentlich das, was man weiß, nur für sich
selbst. Spreche ich mit einem andern von dem, was ich zu wissen glaube, unmittelbar glaubt ers besser zu wissen,
und ich muß mit meinem Wissen immer wieder in mich
selbst zurückkehren.
Wenn wir ein Phänomen vorzeigen, so sieht der andre
wohl, was wir sehen; wenn wir ein Phänomen aussprechen, beschreiben, besprechen, so übersetzen wir es schon in unsere Menschensprache. Was hier schon für Schwierigkeiten sind, was für Mängel uns bedrohen, ist offenbar. Echte Terminologie paßt auf ein beschränktes isoliertes Phänomen: wird auch angewendet auf ein weiteres. Zuletzt wird das nicht mehr Passende doch noch fortgebraucht.
Autorität, daß nämlich etwas schon einmal geschehen,
gesagt oder entschieden worden sei, hat großen Wert; aber nur der Pedant fordert überall Autorität.
Altes Fundament ehrt man, darf aber das Recht nicht aufgeben, irgendwo wieder einmal von vorn zu gründen.
Beharre, wo du stehst! —Maxime, notwendiger als je, indem einerseits die Menschen in große Parteien gerissen
werden; sodann aber auch jeder Einzelne nach individueller Einsicht und Vermögen sich geltend machen will.
Man tut immer besser, daß man sich grad ausspricht wie man denkt, ohne viel beweisen zu wollen: denn alle Beweise, die wir vorbringen, sind doch nur Variationen unserer
Meinungen, und die Widriggesinnten hören weder auf das
eine noch auf das andere.
Nach unserm Rat bleibe jeder auf dem eingeschlagenen
Wege und lasse sich ja nicht durch Autorität imponieren,
durch allgemeine Übereinstimmung bedrängen und durch
Mode hinreißen.
Wenn zwei Meister derselben Kunst in ihrem Vortrag voneinander differieren, so liegt wahrscheinlicherweise das
unauflösliche Problem in der Mitte zwischen beiden.
Die Erscheinung ist vom Beobachter nicht losgelöst, viel- mehr in die Individualität desselben verschlungen und verwickelt.
Was nicht originell ist, daran ist nichts gelegen. Und was
originell ist, trägt immer die Gebrechen des Individuums.
Es ist das Beste, wenn wir bei Beobachtungen so viel als möglich uns der Gegenstände und beim Denken darüber
so viel als möglich uns unsrer selbst bewußt sind.
Man braucht nicht alles selbst gesehen noch erlebt zu haben;
willst du aber dem andern und seinen Darstellungen vertrauen, so denke, daß du es nun mit dreien zu tun hast: mit dem Gegenstand und zwei Subjekten.
Es gibt wohl zu diesem oder jenem Geschäft von Natur
unzulängliche Menschen; Übereilung und Dünkel jedoch
sind gefährliche Dämonen, die den Fähigsten unzulänglich machen, alle Wirkung zum Stocken bringen, freie Fortschritte lähmen. Dies gilt von weltlichen Dingen, besonders auch von Wissenschaften.
Nicht die Sprache an und für sich ist richtig, tüchtig, zierlich, sondern der Geist ist es, der sich darin verkörpert;
und so kommt es nicht auf einen jeden an, ob er seinen Rechnungen, Reden oder Gedichten die wünschenswerten
Eigenschaften verleihen will; es ist die Frage, ob ihm die Natur hiezu die geistigen und sittlichen Eigenschaften verliehen hat. Die geistigen: das Vermögen der An- und Durchschauung; die sittlichen: daß er die bösen Dämonen ablehne, die ihn hindern könnten, dem Wahren die Ehre zu geben.
Am widerwärtigsten sind die kricklichen Beobachter und
grilligen Theoristen; ihre Versuche sind kleinlich und kompliziert, ihre Hypothesen abstrus und wunderlich.
Es gibt Pedanten, die zugleich Schelme sind, und das sind
die allerschlimmsten.
Zuerst belehre man sich selbst, dann wird man Belehrung von andern empfangen.
Alle Individuen und, wenn sie tüchtig sind und auf andre
wirken, ihre Schulen sehen das Problematische in den Wissenschaften als etwas an, wofür oder wogegen man streiten
soll, eben als wenn es eine andere Lebenspartei wäre, anstatt daß das Wissenschaftliche eine Auflösung, Ausgleichung oder eine Aufstellung unausgleichbarer Antinomien
fordert.
Bei wissenschaftlichen Streitigkeiten nehme man sich in acht, die Probleme nicht zu vermehren.
Allein kann der Mensch nicht wohl bestehen, daher schlägt
er sich gern zu einer Partei, weil er da, wenn auch nicht Ruhe, doch Beruhigung und Sicherheit findet.
Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht
aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen die sich akkomodieren, aus Schwachen die sich assimilieren, und
der Masse die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen was sie will.
Jeder Forscher muß sich durchaus ansehen als einer, der
zu einer Jury berufen ist. Er hat nur darauf zu achten, inwiefern der Vortrag vollständig sei und durch klare Belege auseinandergesetzt. Er faßt hiernach seine Überzeugung zusammen und gibt seine Stimme, es sei nun, daß
seine Meinung mit der des Referenten übereintreffe oder
nicht.
Dabei bleibt er ebenso beruhigt, wenn ihm die Majorität
beistimmt, als wenn er sich in der Minorität befindet; denn
er hat das Seinige getan, er hat seine Überzeugung ausgesprochen, er ist nicht Herr über die Geister noch über
die Gemüter.
In der wissenschaftlichen Welt haben aber diese Gesinnungen niemals gelten wollen; durchaus ist es auf Herrschen und Beherrschen angesehen; und weil sehr wenige
Menschen eigentlich selbständig sind, so zieht die Menge
den Einzelnen nach sich.
So wie es keine Glaubensgenossen geben kann ohne Entsagung beschränkter Eigenheit, ob gleich jeder seine Individualität beibehält, ebensowenig kann in der höheren
Wissenschaft lebendig zusammengewirkt und die eigentliche Verfassung der Natur- Stadt Gottes erkannt und, insoferne wir darin eingreifen, geregelt werden, wenn wir
nicht als Bürger unsern Eigenheiten patriotisch entsagen
und uns ins Ganze dergestalt versenken, daß unser tätigster einzelner Anteil innerhalb dem Wohl des Ganzen völlig
verschwinde und nur künftig wie verklärt in Gesellschaft mit tausend andern der Nachwelt vorschwebe.
Männer vom Fach bleiben im Zusammenhange; dem Liebhaber dagegen wird es schwerer, wenn er die Notwendigkeit fühlt nachzufolgen.
Deswegen sind Bücher willkommen, die uns sowohl das neu Empirisch-Aufgefundene als die neubeliebten Methoden darlegen.
Vor zwei Dingen kann man sich nicht genug in acht nehmen:
beschränkt man sich in seinem Fache—vor Starrsinn; tritt man heraus—vor Unzulänglichkeit.
Das Unzulänghche widerstrebt mehr, als man denken sollte, dem Auslangenden.
Die Menschen, da sie zum Notwendigen nicht hinreichen,
bemühen sich ums Unnütze.
Alle Männer vom Fach sind darin sehr übel dran, da ihnen nicht erlaubt ist, das Unnütze zu ignorieren.
Wie wollte einer als Meister in seinem Fach erscheinen, wenn er nichts Unnützes lehrte!
Das Närrischste ist, daß jeder glaubt überliefern zu müssen, was man gewußt zu haben glaubt.
Weil zum didaktischen Vortrag Gewißheit verlangt wird,
indem der Schüler nichts Unsicheres überliefert haben will, so darf der Lehrer kein Problem stehen lassen und sich etwa in einiger Entfernung da herumbewegen. Gleich muß
etwas bestimmt sein (bepaalt sagt der Holländer), und nun
glaubt man eine Weile den unbekannten Raum zu besitzen,
bis ein anderer die Pfähle wieder ausreißt, und sogleich enger oder weiter abermals wieder bepfählt.
Lehrbücher sollen anlockend sein ; das werden sie nur. wenn
sie die heiterste, zugänglichste Seite des Wissens und der
Wissenschaft darbieten.
Zweierlei Arten der Darstellung
Die wissenschaftliche nach Innen hat sich zu hüten, daß
sie das allgemeine Interesse sich nicht nach und nach selbst verscherze.
Die Wissenschaft nach außen hat sich zu hüten, daß sie ihren Wert, ihr Gründliches, ihren Gehalt nicht verliere.
Die Wissenschaft nach Innen kann deskriptiv sein; und bloß
auf wörtlicher Mitteilung und Überlieferung beruhen.
Die Wissenschaft nach Außen muß vorzeigend sein.
Jene sucht den Gegenstand bis ins Unendliche zu teilen. Diese unter allgemeine Gesichtspunkte zu bringen.
Jene hält die Eingeweihten fest.
Diese lockt den Fremden und Unwissenden.
Beide widersprechen einander nicht, sondern bieten einander die Hände,
sobald beide Behandlungsarten im rechten Sinn geführt werden.
Es sind dieses bekannte Wahrheiten, die man aber, wenn
von Wissen und Wissenschaft die Rede ist, manchmal wieder
dem Gedächtnis und der Überlegung auffrischen muß . . .
Es steht also hier die Bemerkung wohl am rechten Platze,
daß man zwar irgendein durch Erfahrung ausgemitteltes
allgemeines Naturgesetz linearsymbolisch ausdrücken und
dabei gar wohl die Umstände, wodurch das zum Grunde
liegende Phänomen hervorgebracht wird, voraussetzen könne; daß man aber von solchen Figuren auf dem Papiere nicht gegen die Natur weiter operieren dürfe, daß man bei Darstellung eines Phänomens, das bloß durch die bestimmtesten Bedingungen hervorgebracht wird, eben
diese Bedingungen nicht ignorieren, verschweigen, beseitigen dürfe; sondern sich Mühe zu geben habe, diese
gleichfalls im allgemeinen auszusprechen und symbolisch
darzustellen.
Gespräche Eckermann
Alle Schriften Goethes zur Wissenschaften
Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen-
Gespräche Eckermann
Alle Schriften Goethes zur Wissenschaften
Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen-
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