> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Aphorismen-Wissenschaftsgeschichte

2020-02-18

J.W.v.Goethe: Aphorismen-Wissenschaftsgeschichte




Wissenschaftsgeschichte

Jede Veränderung theoretischer Ansichten über Naturgegenstände muß auf einer höheren philosophischen Ansicht beurteilt werden. 

Erfahrung kann sich ins Unendliche erweitern, Theorie nicht in eben dem Sinne reinigen und vollkommener werden. Jener steht das Universum nach allen Richtungen offen, diese bleibt innerhalb der Grenze der menschlichen Fähigkeiten eingeschlossen. Deshalb müssen alle Vorstellungsarten wiederkehren, und der wunderliche Fall tritt ein, daß bei erweiterter Erfahrung eine bornierte Theorie wieder Gunst erwerben kann. 

Die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften, der Religion, alles zeigt, daß die Meinungen massenweis sich verbreiten, immer aber diejenige den Vorrang gewinnt, welche faßlicher, d. h. dem menschlichen Geiste in seinem gemeinen Zustande gemäß und bequem ist. Ja derjenige, der sich in höherem Sinne ausgebildet, kann immer voraussetzen, daß er die Majorität gegen sich habe. 

Bei Betrachtung der Natur im Großen wie im Kleinen hab ich unausgesetzt die Frage gestellt: Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht: Und in diesem Sinne betrachtete ich auch Vorgänger und Mitarbeiter. 

Die Geschichte der Wissenschaften zeigt uns bei allem, was für dieselben geschieht, gewisse Epochen, die bald schneller bald langsamer aufeinander folgen. Eine bedeutende Ansicht, neu oder erneut, wird ausgesprochen; sie wird anerkannt, früher oder später; es finden sich Mitarbeiter; das Resultat geht in die Schüler über; es wird gelehrt und fortgepflanzt, und wir bemerken leider, daß es gar nicht darauf ankommt, ob die Ansicht wahr oder falsch sei; beides macht denselben Gang, beides wird zuletzt eine Phrase, beides prägt sich als totes Wort dem Gedächtnis ein. 

Zur Verewigung des Irrtums tragen die Werke besonders bei, die enzyklopädisch das Wahre und das Falsche des Tages überliefern. Hier kann die Wissenschaft nicht bearbeitet werden; sondern was man weiß, glaubt, wähnt, wird aufgenommen; deswegen sehen solche Werke nach fünfzig Jahren gar wunderlich aus. 

In der Geschichte der Wissenschaften hat der ideale Teil ein ander Verhältnis zum realen als in der übrigen Weltgeschichte. 

Geschichte der Wissenschaften 
Der reale Teil sind die Phänomene. 
Der ideale die Ansichten der Phänomene. 

Die Wissenschaften so gut als die Künste bestehen in einem überlieferbaren (realen), erlernbaren Teil und in einem unüberlieferbaren (idealen), unlernbaren Teil. 

Der gemeine Wissenschaftler hält alles für überlieferbar und fühlt nicht, daß die Niedrigkeit seiner Ansichten ihn sogar das eigentlich Überlieferbare nicht fassen läßt. 

Das Jahrhundert ist vorgerückt; jeder Einzelne aber fängt doch von vorne an. 

Das längst Gefundene wird wieder verscharrt; wie bemühte sich Tycho, die Kometen zu regelmäßigen Körpern zu machen, wofür sie Seneca längst anerkannt! 

Unwissende werfen Fragen auf, welche von Wissenden vor tausend Tahren schon beantwortet sind.

Zu allen Zeiten sind es nur die Individuen, welche für die Wissenschaft gewirkt, nicht das Zeitalter. Das Zeitalter wars, das den Sokrates durch Gift hinrichtete, das Zeitalter, das Hussen verbrannte: die Zeitalter sind sich immer gleichgeblieben. 

Man kann von verschiedenen Seiten in eine Wissenschaft herein- oder auch zu einem einzelnen Phänomen herankommen, und von dieser ersten Ansicht hängt sehr oft die ganze Behandlung des Gegenstandes ab. Gibt man hierauf in der Geschichte des Wissens wohl acht, bemerkt man genau, wie gewisse Individuen, Gesellschaften, Nationen, Zeitgenossen an eine Entdeckung, an die Bearbeitung eines Entdeckten herankommen: so klärt sich manches auf, was außerdem verborgen bliebe oder uns verwirrt machte. 

Eine Idee, wie sie ausgesprochen ist, wird ein wundersames Gemeingut; wer sich ihrer zu bemächtigen weiß, gewinnt ein neues Eigentum, ohne jemanden zu berauben; er bedient sich dessen nach eigner Art und Weise folgerecht, auch wohl ohne immer daran zu denken. Dadurch aber beweist sich eben der inwohnende kräftig-lebendige Wert des erworbenen Gutes. 

Eine Schule ist als ein einziger Mensch anzusehen, der hundert Jahre mit sich selbst spricht und sich in seinem eigenen Wesen, und wenn es auch noch so albern wäre, ganz außerordentlich gefällt. 

Da ich mit der Naturwissenschaft, wie sie sich von Tag zu Tag vorwärts bewegt, immer mehr bekannt und verwandt werde, so dringt sich mir gar manche Betrachtung auf: über die Vor- und Rückschritte, die zu gleicher Zeit geschehen. Eines nur sei hier ausgesprochen: daß wir sogar anerkannte Irrtümer aus der Wissenschaft nicht loswerden. Die Ursache hievon ist ein oftenbares Geheimnis.

Gespräche Eckermann

Alle Schriften Goethes zur Wissenschaften

Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen-

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