Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik
Zugabe
[Januar 1775. -— Lavaters , Physiogn. Fragmente I. 21]
Nun noch einige Worte von der Gleichgültigkeit
gegen die Physiognomik, denn diese und nicht sowohl Verachtung und Haß werden wir bei den
meisten Menschen antreffen. Es ist ein Glück für die Welt,
daß die wenigsten Menschen zu Beobachtern geboren
sind. Die gütige Vorsehung hat jedem einen gewissen Trieb
gegeben, so oder anders zu handeln, der denn auch einem
jeden durch die Welt hilft. Eben dieser innere Trieb kombiniert auch mehr oder weniger die Erfahrungen, die der Mensch macht, ohne daß er sich dessen gewissermaßen
selbst bewußt ist. Jeder hat seinen eigenen Kreis von
Wirksamkeit, jeder seine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine gewisse Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog ist, und so wird er nach und nach im
Lieben und Hassen auf das festeste bestätigt. Und so ist sein Bedürfnis erfüllt; er empfindet auf das deutlichste, was die Dinge für ein Verhältnis zu ihm haben, und daher kann es ihm einerlei sein, was für ein Verhältnis sie untereinander haben mögen. Er fühlt, daß dies und jenes
so oder so auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es so auf ihn wirkt, vielmehr läßt er sich dadurch auf ein oder
die andre Weise bestimmen. Und so begierig der Mensch
zu sein scheint, die wahre Beschaffenheit eines Dings und
die Ursachen seiner Wirkungen zu erkennen, so selten wirds doch bei ihm unüberwindliches Bedürfnis. Wie viel tausend Menschen, selbst die sich einbilden, zu denken
und zu untersuchen, beruhigen sich mit einem qui pro quo
auf einem ganz beschränkten Gemeinplatze. Also wie der Mensch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß
er einen Magen hat, also sieht er, vernimmt er, handelt und verbindet seine Erfahrungen, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein. Ebenso wirken auch die Züge und
das Betragen anderer auf ihn; er fühlt, wo er sich nähern
oder entfernen soll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder stößt ihn weg, und so bedarf er keiner Untersuchung,
keiner Erklärung.
Auch hat ein großer Teil Menschen vor der Physiognomik
als einer geheimnisvollen Wissenschaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hören von einem wunderbaren Physiognomisten
mit ebensoviel Vergnügen erzählen als von einem Zauberer
oder Tausendkünstler, und obgleich mancher an der Untrüglichkeit seiner Kenntnisse zweifeln mag, so ist doch
nicht leicht einer, der nicht was dran wendete, um sich von so einem moralischen Zigeuner die gute Wahrheit
sagen zu lassen.
Lassen wir nun Hasser, Verächter und Gleichgültige, jeden
in seiner Art und Wesen, wie viele sind nicht wieder,
denen dieses Buch als das, was es ist, willkommen sein
wird. Es wäre ein törichtes Beginnen, alle Menschen auf einen Punkt, und wenn dieser Punkt die Menschheit selbst wäre, aufmerksam machen zu wollen. Wem es ein Bedürfnis ist, täglich an der menschlichen Natur nähern und
innigem Anteil zu nehmen, wer nicht not hat, sich in eine kalte Beschränktheit zu verstecken, nicht durch eine anhaltende Verachtung anderer sich emporzuhalten nötig
hat, der wird mit viel Freude seinen eigenen Gesinnungen
begegnen und seine innern Gefühle manchmal in Worte
ausgebildet sehen.
Epigramme, Sprüche, Xenien usw.
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