> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik

2020-02-08

J.W.v.Goethe: Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik




Einige Gründe der Verachtung und Verspottung der Physiognomik

Zugabe

[Januar 1775. -— Lavaters , Physiogn. Fragmente I. 21]

Nun noch einige Worte von der Gleichgültigkeit gegen die Physiognomik, denn diese und nicht sowohl Verachtung und Haß werden wir bei den meisten Menschen antreffen. Es ist ein Glück für die Welt, daß die wenigsten Menschen zu Beobachtern geboren sind. Die gütige Vorsehung hat jedem einen gewissen Trieb gegeben, so oder anders zu handeln, der denn auch einem jeden durch die Welt hilft. Eben dieser innere Trieb kombiniert auch mehr oder weniger die Erfahrungen, die der Mensch macht, ohne daß er sich dessen gewissermaßen selbst bewußt ist. Jeder hat seinen eigenen Kreis von Wirksamkeit, jeder seine eigene Freude und Leid, da er denn durch eine gewisse Anzahl von Erfahrungen bemerkt, was ihm analog ist, und so wird er nach und nach im Lieben und Hassen auf das festeste bestätigt. Und so ist sein Bedürfnis erfüllt; er empfindet auf das deutlichste, was die Dinge für ein Verhältnis zu ihm haben, und daher kann es ihm einerlei sein, was für ein Verhältnis sie untereinander haben mögen. Er fühlt, daß dies und jenes so oder so auf ihn wirkt, und er fragt nicht, warum es so auf ihn wirkt, vielmehr läßt er sich dadurch auf ein oder die andre Weise bestimmen. Und so begierig der Mensch zu sein scheint, die wahre Beschaffenheit eines Dings und die Ursachen seiner Wirkungen zu erkennen, so selten wirds doch bei ihm unüberwindliches Bedürfnis. Wie viel tausend Menschen, selbst die sich einbilden, zu denken und zu untersuchen, beruhigen sich mit einem qui pro quo auf einem ganz beschränkten Gemeinplatze. Also wie der Mensch ißt und trinkt und verdaut, ohne zu denken, daß er einen Magen hat, also sieht er, vernimmt er, handelt und verbindet seine Erfahrungen, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein. Ebenso wirken auch die Züge und das Betragen anderer auf ihn; er fühlt, wo er sich nähern oder entfernen soll, oder vielmehr, es zieht ihn an, oder stößt ihn weg, und so bedarf er keiner Untersuchung, keiner Erklärung. 

Auch hat ein großer Teil Menschen vor der Physiognomik als einer geheimnisvollen Wissenschaft eine tiefe Ehrfurcht. Sie hören von einem wunderbaren Physiognomisten mit ebensoviel Vergnügen erzählen als von einem Zauberer oder Tausendkünstler, und obgleich mancher an der Untrüglichkeit seiner Kenntnisse zweifeln mag, so ist doch nicht leicht einer, der nicht was dran wendete, um sich von so einem moralischen Zigeuner die gute Wahrheit sagen zu lassen. 

Lassen wir nun Hasser, Verächter und Gleichgültige, jeden in seiner Art und Wesen, wie viele sind nicht wieder, denen dieses Buch als das, was es ist, willkommen sein wird. Es wäre ein törichtes Beginnen, alle Menschen auf einen Punkt, und wenn dieser Punkt die Menschheit selbst wäre, aufmerksam machen zu wollen. Wem es ein Bedürfnis ist, täglich an der menschlichen Natur nähern und innigem Anteil zu nehmen, wer nicht not hat, sich in eine kalte Beschränktheit zu verstecken, nicht durch eine anhaltende Verachtung anderer sich emporzuhalten nötig hat, der wird mit viel Freude seinen eigenen Gesinnungen begegnen und seine innern Gefühle manchmal in Worte ausgebildet sehen.

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