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2020-02-03

J.W.v.Goethe: Gebirgsgestaltung im Ganzen und Einzelnen




Gebirgsgestaltung im Ganzen und Einzelnen

Ehe wir auf unsern bezeichneten Wege nunmehr weiter schreiten, fassen wir in einem Rückblick dasjenige zusammen, wovon bisher gehandelt worden. Große anorganische Massen gestalten sich solideszierend und zwar regelmäßig. Wir gebrauchten ein Gitterwerk als Gleichnis und gaben den Katalog einer Sammlung von Zeichnungen, zu diesem Zwecke vor vielen Jahren aufgenommen und bis jetzt sorgfältig aufbewahrt.

Den Augenblick der Solideszenz hat man als höchst bedeutend zu betrachten. Solideszenz ist der letzte Akt des Werdens, aus dem Flüssigen durchs Weiche zum Festen hingeführt, das Gewordene abgeschlossen darstellend. Im Solideszieren, im Übergang aus dem Weichen in das Starre, ergibt sich eine Scheidung, sie sei nun dem Ganzen angehörig oder sie ereigne sich im Innersten der Massen. Jene Urdurchgitterung, wie wir, das Obgesagte ins kurze zu fassen, die Erscheinung actu die Vermutung potentiä nennen wollen, geschah niemals ohne Sonderung: denn alle Gebirgsmassen sind mehr oder weniger zusammengesetzt; daher entstanden gleichzeitige Gänge (dieses unzulängliche Wort müssen wir einstweilen gebrauchen), Gänge, die mit Gesteinabteilungen parallel gehen, diese mögen nun vertikal aufgerichtet stehen und deshalb als Wände gelten oder, unter verschiedenen Winkeln geneigt, bald mit dem Namen Bänke, und endlich wohl gar Lager bezeichnet werden. Diese Gänge sprechen wir als gleichzeitig mit der Gebirgsmasse an. Wer einen Schriftgranitgang in einer Granitmasse eingeschlossen, ihrem Fallen und Streichen genau folgend, mit Augen gesehen hat, der wird den Sinn begreifen, den wir in diese Worte legen. Jene Scheidung wird also von der Hauptgestaltung mit fortgerissen und fügt sich in die Richtungen jenes Gitterwerks.

So viel sei vorläufig von einer Angelegenheit gesagt, die schon tausendfach mit mehr oder weniger Glück ausgesprochen worden. Man erinnere sich der Füllungstheorie, welche so überhand nahm, daß eines werten Mannes, von Charpetiers, verständige Bemühungen abgelehnt, beseitigt, mißgeachtet, vergessen und zuletzt gar nur durch Hohnrede wieder zur Erinnerung gebracht wurden. Eine Wiederaufnahme der Arbeiten eines höchst sinnigen Vorfahrs würde gerade jetzt einen guten Eindruck machen und vielleicht von erfreulichen Folgen sein.

Aber gleichzeitig mit jener Scheidung, die dem Ganzen folgen muß, geht im Innersten der Massen noch eine besondere vor, welche den eigentlichen Charakter der Gebirgsart ausspricht, und dieses ist, was wir porphyrartig nennen. Auch hier wie dort sondert sich das Reinste, oder vielmehr Homogenste, nicht sowohl vom Unreinen als vielmehr vom Fremdartigen, das Einfachere vom Zusammengesetzten, das Enthaltene vom Enthaltenden, und zwar so, daß man oft die Identität beider nachweisen kann. Unzählige Beispiele, von Granit bis zum letzten Gips und Kalkstein, sind den Freunden dieses Wissens bekannt. Sehr oft ist das Enthaltene dem Enthaltenden nahe verwandt. Die Karlsbader und Ellbogner Zwillingskristalle sind eigentlich kristallisierter Granit; die großen Granaten oder Almandine von Tirol sind offenbar kristallisierter Glimmerschiefer, die Eisengranaten kristallisierter Eisenglimmer.

Wie nun diese Gestaltungen sich selbst in beengender Masse hervortun, so werden noch mehr die durch geistige Auflösung befreiten, aufleeren Gebirgsklüften und Schluchten herumgeführten Ur-Teilchen sich noch reiner abtrennen und die gleichartigen sich einander zugesellen. Hier haben wir alsdann die ganz reinen Kristallbildungen, an denen wir uns höchlich erfreuen, unser Wissen daran bilden und ordnen können.

Auch jene porphyrartigen Erscheinungen habe ich sorgfältig gesammelt, und wie sich das oben Behauptete in einzelnen Beispielen ausspricht, verdient wohl eine besondere Behandlung. Jedoch finde eine chemische Erfahrung hier einstweilen Platz.

Ich erhielt ein Glas Opodeldok von gleichartiger trüb- durchscheinender Masse, worin aber runde weiße kristallisierte Körperchen in kleiner Erbsengröße schwebend gehalten werden. Bei einer nähern Erkundigung vernahm ich, daß dieses Glas erst vor drei Wochen bereitet worden. Schon am zweiten und dritten Tage zeigen sich Pünktchen, die sich nach und nach vergrößern und eine kristallinische Form annehmen, an welchen jedoch im Verlauf der Zeit kein weiterer Wachstum zu bemerken ist. Ferner hat sich gefunden, daß in kleineren Gläsern die Kriställchen häufiger und kleiner als Hirsenkörner entstehen, wodurch wir belehrt werden, daß sogar das Maß der Räumlichkeiten auf die Kristallbildung entschiedenen Einfluß hat, und zugleich auf manches oryktognostische Vorkommen hingewiesen sind.

Auf diesem Wege jedoch begegnen wir einem andern Phänomen, das uns bei seiner Unerforschlichkeit nicht losläßt. Solideszenz ist mit Erschütterung verbunden. Nur selten kommt dies Ereignis, seiner Zartheit wegen, zur unmittelbaren entschiedenen Anerkennung.

"Derjenige, welcher bei dem Versuch, das Quecksilber gefrieren zu machen, die Glasröhre in der Hand hielt, fühlte in dem Augenblick, als das Metall seinen flüssigen Zustand verlor, eine plötzliche Erschütterung; und eine ganz ähnliche Erscheinung findet beim Festwerden des Phosphors statt."

So zeigt sich auch Solideszenz durch Erschütterung. Ein Glas Wasser nahe am Gefrieren durch einen Schlag erschüttert, kristallisiert sogleich.

Gedenken wir an dieser Stelle, wenn sie auch weit abzuliegen scheinen, der Chladnischen Versuche, wo die Erschütterung, regelmäßig geleitet, zugleich mit dem Ton eine Gestalt hervorbringt. Auf Glastafeln ist das Phänomen jedermann bekannt, vielleicht nicht allen Folgendes:

Wasser, auf flachen gerändeten Glastellern, mit Semen lycopodii bestreut und durch einen Violinbogen angeregt, gibt, in vielfältigen Abteilungen, die Erscheinung gegitterter Flächen und eines entschiedenen Gewebes, so daß der

umsichtig tätige Heusinger dessen in seiner Hyphologie gedenken konnte. Purkinje, ein merkwürdiger Forscher unsrer Zeit, hat mir solches Gewebe durch eine scharfsinnige Vorrichtung auf Glastäfelchen fixiert und freundlichst mitgeteilt.

Die entoptischen Erscheinungen lassen sich gleichfalls hier anschließen; durch schnelle Veränderung der Temperatur solidesziert ja in den Glastäfelchen eine sonst vorüberfliegende Gestaltung.

Bedeutend hab ich immer die Betrachtung gefunden, die uns das makro-mikromegische Verfahren der Natur einzusehen fähig macht: denn diese tut nichts im Großen, was sie nicht auch im Kleinen täte, bewirkt nichts im Verborgenen, was sie nicht auch am Tageslicht offenbarte.

Daß der Tonschiefer im Großen von Quarzgängen häufig durchsetzt werde, ist bekannt; nun aber traf ich eine dergleichen Gebirgsart, deren mäßige tragbare Massen nach einem gewissen Streichen von Quarzgängen durchzogen waren, indessen schiefrige Ablösungen diese Massen rechtwinkelig auf die Richtung der Gänge zu schmalen Täfelchen trennten und so natürliche Durchschnitte vor Augen legten.

Ich lege ein solches Tonschiefertäfelchen vor mich, so daß der darauf sich zeigende etwa sechs Linien starke Quarzgang in horizontaler Richtung sei; ein schmälerer etwa eine Linie breiter Gang kommt auf dem ersteren im Winkel von etwa 45 Graden an, wird sogleich nach dem Perpendikel zu gebrochen, geht sichtlich durch den stärkeren hindurch, kehrt unterwärts in die erste Richtung zurück und setzt parallel mit der Eintrittslinie seinen Weg weiter fort. Hier gebrauche ich, wie man sieht, eine bekannte Terminologie, deren man sich bedient, um das Phänomen anzuzeigen, wenn das Licht, oder dessen sogenannter Strahl, aus dem dünneren Mittel ins dichtere und von da wieder ins dünnere übergeht.

Und fürwahr, wären unsere Täfelchen in Linearzeichnungen auf eine Kupferplatte gebracht, so würde jedermann glauben, es seien aus einem physikalischen Kompendium jene auf die Lehre von Brechung des Lichts bezüglichen Figuren kopiert worden.

Doch wollen wir die Analogie nicht weitertreiben, sondern nur erzählen, was wir vor uns sehen: der schwächere Gang auf dem stärkeren, vertikal im rechten Winkel anlangend, scheint von seinem Wege nicht abgelenkt; doch gehen genau betrachtet zwei Gänge niemals durcheinander, ohne daß sie einigermaßen in ein Schwanken gerieten und eine leise Wirkung solches Zusammentreffens andeuteten. Der Fall, welcher selten vorkommt, daß der schwächere Gang den stärkeren verschiebt, deutet auf die Erfahrung, daß ein ganz leeres Klüftchen den Gang aus seiner Richtung bringt, ihn aber nicht rückwärts lenkt, sondern vorwärts zu schieben die Eigenschaft hat.

Einen einzigen Fall hab ich gefunden, wo der schwächere Gang den stärkeren vertikal durchkreuzend ihn beinahe um seine Breite niederdrückt.

Im Tonschiefer finden wir durchaus die reinsten Beispiele zu dieser Lehre; der Kieselschiefer hingegen ist so vielfach durchzogen und durchklüftet, daß bedeutende Beispiele nicht herauszuheben sind. Der Marmor bietet uns ähnliche Betrachtungen dar, nur ist alles leichtfertiger und unsicherer; doch fehlt es auch hier nicht an einer gewissen konsequenten Bestimmtheit.

Ein merkwürdiges Beispiel, wodurch die Erschütterung bei der Solideszenz uns vor Augen gebracht wird, ist der allbekannte Florentinische Ruinenmarmor. Wahrscheinlich entsprang er aus einer eingesinterten Gangart, die an einer Seite sich bandartig zu bilden im Begriff war, als ein gewisses Zucken die zarten Streifen mit vertikalen Klüftchen durchschnitt und die horizontalen Linien bedeutend verrückte, daß die einen höher gehoben, die andern niedergehalten wurden, wodurch uns denn die Gestalt einer lückenhaften Mauer vor Augen tritt. Indessen war am entgegengesetzten Salband die Masse breiartig in Bewegung; diese, von jenen Erklüftungen wenig erleidend, erscheint nun bei geschnittenen und polierten Tafeln über der Landschaft als Bewölkung, wer es dafür will gelten lassen; doch gleicht diese Stelle bei vorzüglichen Exemplaren ganz deutlich dem sogenannten orientalischen Alabaster, einem buntgestreiften durchscheinenden Kalkspat.

Ferner besitz ich andere Beispiele desselben Marmors, wie sie mir nur einmal vorgekommen. Die Masse nämlich, wie sie aus hellerem Grunde zu mehr oder weniger heilem Bestandteilen sich sondert, hatte nicht die Tendenz wie vorige, sich bandartig zu bilden, sondern mag unbestimmt durch Scheidung nebeneinander schwimmend, bei der Solideszenz von Erschütterung ergriffen, durch unzählige sichtbare Klüftchen durchkreuzt worden sein.

Nun sieht man die verschiedenfarbigen gesonderten Bestandteile geradlinig in bestimmte Räumchen eingefaßt, in Dreiecken, Vierecken, alles meist rhombisch spitz- und stumpfwinklig.

Ähnliche Erscheinungen finden wir im Großen: denn man darf den erstbenannten Ruinenmarmor und dessen Durchschnittstäfelchen mit einem Durchschnitt vom Riegelsdorfer Flöz vergleichen, so wird man die große Ähnlichkeit bewundern.

Alles dieses ist nur gesagt, daß die Natur nicht später gewaltsame Mittel anzuwenden braucht, um dergleichen Erscheinungen mechanisch hervorzubringen, sondern daß sie in ihren ersten Anlagen ewige, aber ruhende Kräfte besitzt, die, in der Zeit hervorgerufen, bei genügsamer Vorbereitung das Ungeheure so wie das Zarteste zu bilden vermögen.

Der bei Ilmenau vorkommende Bandjaspis gibt uns von einer gleichen Naturwirkung schöne Beispiele. Die einzelnen drei finger breiten Stücke zeigen eine sehr regelmäßige Streifenbildung, graubräunlich dunkel auf hellerem Grunde. An vielen Stücken ist diese Linearzeichnung unverrückt, an anderen aber bleibt zwar das parallele Verhältnis durchaus rein, allein die Linien sind wie durch einen kleinen Schreck im Augenblicke der Solideszenz verschoben und also erstarrt, daß sie nunmehr ein gelindes treppenartiges Steigen und Fallen vorweisen. Was wir also vorher an einem leicht determinablen Kalkgestein gesehen haben, erblicken wir nunmehr an einem festen quarzigen Tongestein.

Von einer heftigem Erschütterung in einem solchen Augenblicke gibt uns der Trümmerachat einen bedeutenden Beleg. Hier ist auch die erste Tendenz zum Bandartigen unverkennbar; durch eine Störung jedoch ward sie aufgehoben und in einzelne Stücke zerteilt; die Chalcedon-Masse jedoch, die allen Achaten zum Grunde liegt, in dem Augenblicke noch weich, erstarrte zugleich mit den Trümmern, die sie enthielt, und so ist uns ein schönes Mineral vorbereitet worden.

Ich besitze eine Tafel Altdorfer Marmor, drei Fuß lang, zwei breit, deren ausgeschweifte Form darauf hindeutet, daß sie früher fürstliche Gemächer verziert hat, und sie verdiente diese Ehre wohl; denn auf einem grauen Grunde liegt Ammonshorn an Ammonshorn; die Schale des Ganzen ist noch deutlich sichtbar, der vordere Teil von der Grundmasse ausgefüllt, der hintere reiner weißer Kalkspat. Jedem Naturfreund ist dieser Marmor von Altdorf bekannt, mir aber wurde an diesem Stücke zuerst Folgendes bedeutend. Es gehen zarte Klüfte quer durch das Ganze durch, die, wenn sie auf ein Schneckengehäuse treffen, solches um einige Linien verschieben; an anderen einzelnen Musterstücken fand sich auch wohl der Fall, daß die Schnecke auf vier Zwölfteile eines Pariser Zolls verschoben war.

Das was wir also am Bandjaspis, am Florentiner Marmor erblickten, fordert uns hier abermals zur Betrachtung auf; hier liegt es dem Anblick deutlich vor, daß das Ganze noch weich, noch determinabel in einem gewissen Grade von Erharschung muß gewesen sein, als die schmalen mit einer gelblichen Masse ausgefüllten Klüfte in grader Richtung, obgleich wellenförmig, durch das Ganze hindurch liefen und alles, was sie durchschnitten, von der Stelle schoben. Außer dieser Haupttafel gebe fünf kleinere, die ich durch Vermittlung des Herrn Professor Schweigers einer alten wackern Freundin, der Frau Burgemeisterin Baureis in Nürnberg verdanke, mit welcher, wie früher mit ihrem Gatten, durch manche Zeit hindurch ein naturwissenschaftlicher Verkehr stattgefunden.

Von einem solchen Halbgewordenen, Gestörten und wieder zum Ganzen Gefügten haben die Geognosten schon manche Beispiele angeführt, und man wird mit einiger Aufmerksamkeit noch viel mehrere finden, und manches sogenannte Breccienartige wird hierher zu zählen sein. Die Quarzfelsen am Rheinufer, unmittelbar unter der Rochuskapelle, gehören hierher; scharfkantige Quarztrümmer sind durch eine frische, flüssige, kräftige Quarzmasse zu dem festesten Gestein verbunden, wie wir ja auch im Organischen ersehen, daß ein geheilter Knochen vor einem Bruche an derselben Stelle sicherer ist als am benachbarten Gesunden.


Zeitgenossen und Nachfahren


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