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2020-02-03

J.W.v.Goethe: Gestaltung grosser anorganischer Massen




Gestaltung grosser anorganischer Massen

Von einer geringen, fast unscheinbaren Naturwirkung, die wir als Experiment täglich wiederholen können, von einer partiellen Zerstörung urweltlicher Gebirgsarten gehen wir zu einer der ungeheuersten Wirkungen über, die unsern Geist erheben und durch Anschauung in die Vorzeit versetzen soll. Wir sprechen von der Gestaltung der Schneemassen auf den höchsten Gebirgen.

Fischer: Bergreisen, 2ter T. S. 153. Serac, eine große parallelepipedisch geformte Masse Schnee. In solche regelmäßige Formen teilen sich die Lawinen, wenn sie eine Zeitlang gelegen haben."

Joseph Hamel:  Beschreibung zweier Reisen auf den Montblanc. Wien 1821. "Zwanzig Minuten nach 7 Uhr erreichten wir die erste der drei Schneeebenen, welche zwischen dem Dome du Goute und dem Mont Maudit (einer Felsenreihe, welche die östliche Schulter des Montblanc bildet) eine nach der andern von Norden nach Süden folgen. Hier hat man nahe zur Rechten auf dem Dome die ungeheuren in die Luft ragenden Eismassen, Seracs genannt, welche man vom Chamounytal aus sehr gut sieht. Der Himmel, welcher dunkelblaue Farbe zeigt, erschien neben diesen blendend weißen Eistürmen fast schwarz.

Diese Benennung Serac kommt von einer Art im Tal verfertigter weißer Molkenkäse, der in parallelepipedischen Formen gepreßt wird und nachgehends beim Trocknen an den Rändern Risse bekommt, wodurch er diesen Eismassen in etwas ähnlich sieht. Vielleicht kommt der Name des Käses von Serum, Molke."

Bei diesen freilich nicht ganz hinreichenden Relationen machten wir, in Gefolg vieljähriger Gebirgsbeobachtung, nachstehende Betrachtung: Die Schneemassen, sobald sie solideszieren und aus einem staub- und flockenartigen Zustande in einen festen übergehen, trennen sich in regelmäßige Gestalten, wie es die Massen des Mineralreichs taten und noch tun. Sie stehen als große Wände auf den Berggipfeln wie die mauer-, turm- und säulenartigen Granitmassen auf den Bergreihen. Wahrscheinlich aber sind diese großen blanken Eiswände nicht in völlig ebenen ununterbrochenen Flächen eingeschlossen, sondern sie haben, gleich jenen Käsen, denen sie verglichen werden, Risse, Einschnitte, und nach unserer Vorstellungsart nicht zufällige, sondern regelmäßige.

Betrachten wir am Harze die großen emporstehenden Klippen, z. B. Arendsklint und die Wernigeröder Feuersteine, so wird eine gemeine Einbildungskraft gar nicht zu schelten sein, wenn sie solche als Käse oder Kuchen übereinander getürmt anspräche. Nicht allein alle Felsarten des Urgebirges, sondern bis herauf zum bunten Sandstein und weiter haben das Bedürfnis, sich in mannigfachen regelmäßigen Richtungen zu trennen, so daß Parallelepipeden entstehen, welche wieder in der Diagonale sich zu durchschneiden die Geneigtheit haben. Diesem allgemeinen Gesetze habe ich vor vierzig Jahren am Harze nachgespürt, und bewahre davon die schönsten Zeichnungen eines trefflichen Künstlers, und war schon damals nicht abgeneigt zu glauben, daß diese großen inneren Trennungen der Gebirgsmassen sich auf tellurische und kosmische Wirkungen beziehen möchten, wovon die südnördliche uns längst bekannt war, die westöstliche aber erst neuerlich offenbart worden ist.

Um sich aber von solcher Gestaltung der Steinmassen den Begriff zu erleichtern, so fingiere man, daß ein Gitterwerk durch sie durchgehe, und zwar sechsseitig, wodurch so viele einzelne Körper abgeschnitten werden, kubisch, parallelepipedisch, rhombisch, rhomboidisch, säulen- oder plattenförmig, welcher Art es auch wäre.

Hiebei muß man sich aber sagen: diese Trennung sei anzusehen als ideell, als potentiä, der Möglichkeit nach, und sei daher teilweise sowohl an eine ewige Ruhe gebunden als einer früheren oder späteren Erscheinung anheimgegeben; da denn nicht alle intentionierten Sonderungen jedesmal zur Wirklichkeit gelangen und man sie vielleicht nur hie und da acht in der Gegenwart vorzeigen kann, indem an großen Gebirgskörpem oben angedeutete Formen bald einzeln ausgebildet hervortreten, bald aber in große Massen verschlungen und darin versteckt gedacht werden müssen.

Durch diesen Begriff kommt auch der Zeichner ganz allein zur Fähigkeit, Felsenwände und Gipfel richtig und wahrhaft darzustellen, indem er das Unsichtbare durch das Sichtbare sich verdeutlicht und den allgemeinen Charakter im Kleinen wie im Ungeheuren durchzuführen vermag. Die Urgestaltung wird ihm klar; er begreift, wie dasselbe Gestein bald als Platte, Säule und doch auch als Wand erscheinen könne, und wie allen diesen Phänomenen eine verwandte Form zum Grunde liege.

Eine solche hypothetische Gebirgsdarstellung haben wir auf einer Tafel versucht, deren Raum mit gegitterten Linien durchzogen, ein landschaftliches Bild aber, dem man diese Grundzüge kaum anmerkt, in dieses Gewebe hinein gezeichnet ist.

Von der oben erwähnten 1784 sorgfältig, mit manchen Aufopferungen, durchgeführten Harzreise haben wir sehr schöne, noch jetzt wohlerhaltene schwarze Kreidezeichnungen, meist in groß Folio -Blättern mitgebracht. Verkleint können sie nicht werden; der Aufwand, sie in Kupfer stechen zu lassen, war abschreckend; nun aber wären sie lithographisch vielleicht eher mitzuteilen, nur wird ein sehr gewandter, mit charakteristischem Geiste begabter Künstler, der Sache kundig, liebevoll sich damit zu beschäftigen haben.

Einstweilen stehe das Verzeichnis hier an passender Stelle.

1 ) Teufelskanzel und Hexenaltar auf dem Brocken; meisterhaft charakteristischer Umriß, hinreichend schattiert.

2) Arendsklint, eine Felsgruppe vom Brocken nordwestwärts, hievon stellt diese Nummer mit den drei folgenden einzelne Klippen vor Augen. Umriß einer großen Felsmasse, mit wenig vertikalen und vielen horizontalen Abteilungen.

3) Desgleichen, doch von ganz anderer Naturkonstruktion als die vorhergehende; die Hauptmasse mit Aufmerksamkeit ausgeführt.

4) Kleinere Zeichnung, den Granit kugel- und säulenförmig zugleich vorstellend.

5) Abermals eine Felsmasse von Arendsklint; sorgfältiger Umriß und zur nötigen Deutlichkeit schattiert.

6) Ein Schnarcher, einer der schönen Granitfelsen, die auf dem Barenberge in der Nähe von Schierke stehen. Der Punkt ist bemerkt, wo dieser Fels die Magnetnadel verändert. Genauer Umriß, durch Schattierung hervorgehoben.

7) Wernigeröder Feuerstein; der Hauptgegenstand von oben herein charakteristisch ausgeführt.

8) Bei der Susenburg an der Bude, quarzreiches porphyrartiges Gestein; sorgfältiger Umriß der Hauptpartien.

9 ) Der Punkt, wo die Bude von oben herab aus dem Schiefergebirg auf den Granit stößt und durch denselben hindurchdringt. Kleine Zeichnung, auf der Grenze beider Gesteinarten genommen, wenig koloriert. Der sehr quarzhaltige Tonschiefer ist blaulich, der Granit rötlich angewaschen.

10) Aus der Höhe in der Schlucht weiter abwärts, wo die Bude sehr gedrängt ein Becken macht. Man bemerkt den bei hohem Wasser durch das vorbeiströmende Floßholz ausgewaschenen Granit.

11) Granitfelsen, vom linken Ufer der Bude, unter dem Roßtrapp; gehörig schattierte Zeichnung.

12) Desgleichen. In der Höhe der Felsen des Roßtrapps selbst, Umriß; der Vordergrund charakteristisch schattiert.

13) Ein desgleichen, aus dem Budetal emporsteigender Granitfelsen; vollkommen ausgeführte Zeichnung.

14) Granitklippe im Ockertal, zum Begriff von verborgenen und offenbaren Zerklüftungen sehr dienlich.

15) Kieselschieferklippe an der Ocker, merkwürdig wegen der horizontalen und vertikalen Ablösungen. Charakteristische Skizze.

16) Marmor mit Quarz durchzogen, die Kalkteile wittern aus, der Quarz bleibt stehen; dies gibt dem Fels ein ganz eigen ausgefressenes Ansehen. Aus der Innern, unangegriffenen Masse lassen sich bedeutende Tafeln schneiden und schön polieren. Ockertal?

17) Der Hübichenstein, Kalkfelsen am Iberge in der Nähe der Bergstadt Grund, eigentlich ein Korallenfels, an wel- chem auch die tellurischen Trennungen, obgleich unregelmäßig, zu bemerken sind. Vollkommen ausgeführte Zeichnung. Die zweite Vignette in dem wichtigen Werke unseres abgeschiedenen Freundes von Trebra (Erfahrungen vom Innern der Gebirge. Dessau und Leipzig 1785. Fol.) ist eine leichte Skizze nach der mit der größten Sorgfalt voll- kommen ausgeführten Zeichnung.

18) Hans-Kühnenburg; Sandstein, völlig ausgeführte charakteristische Zeichnung.

19) Graue Wacke, in der Nähe von Wildemann, flözartig gelagert; sorgfältigst ausgeführte Zeichnung.

20) Eingang zu der Baumannshöhle; klein Querfolio, angetuscht, die Marmormassen in ihrem charakterlosen Charakter wohl ausgedruckt.

21) Eisengrube in Tonschiefer vom Tage herein; Eisenstein und Gebirgsart sind so vermischt, daß gewissermaßen nur ein Raubbau stattfindet.

22) Festung auf dem Regenstein, in den Sandstein eingegraben; das Ganze zerstört und verwittert, klein Querfolio.

23) Höhlen auf dem Regenstein; skizziert, nicht sonderlich charakteristisch.

24) Die alte Burg bei Langenstein; flüchtige, aber klare Zeichnung, die Gebirgsart nicht charakteristisch.

25) Die Klause bei Goslar; Sandstein; charakteristisch.

26) Teufelsmauer bei Thale gegen Quedlinburg; so merkwürdig als schön gezeichnet, die Notwendigkeit des Einstürzens mancher Gebirgsarten unter gewissen Umständen vor Augen gestellt.

27) Gipswände bei Osterode; reinlich umrissen und angetuscht, den schwachen Charakter dieser Gesteinart glücklich aussprechend. Vorgemeldete Sammlung ist, wie man sieht, nach einer gewissen Ordnung gereiht; sie führt vom Granit des Brockens bis zum Gipsfelsen von Osterode, freilich weder vollkommen in geologischer noch geographischer Folge. Doch würde sie in beiden Rücksichten schon vollständiger werden, wenn man eine vorrätige doppelte Anzahl von kleineren weniger ausgeführten Umrissen, Skizzen und manchen flüchtigen Entwurf dazwischenlegen wollte, welches um so instruktiver sein würde, weil jedes dieser Blätter, wenn auch mit weniger Zeitaufwand doch immer zu jenem aus- gesprochenen Zwecke mit Überlegung gefertigt worden. Ein lakonisches, gleichfalls übrig gebliebenes Tagebuch würde dabei noch weiter behülflich sein.

Von jenen kleineren Zeichnungen bemerke folgende:

a) Hexenaltar auf dem Brocken, in geschichteter Lage; noch vor fünfzig Jahren glaubte man hier eine durch Menschenhände aufgerichtete Mauer zu erblicken.

b) Arendsklint; eine auf regelmäßigem Natur-Piedestal aufgerichtete Felsensäule.

c) Unter dem Roßtrapp an der Bude; flüchtige Skizze, die steilaufstrebenden Felsenpartien sehr gut ausdrückend.

d) Treppenstein, an der Ocker; regelmäßig rechtwinklig getrennte Granitmasse.

e) Unter dem Treppensteig am Wasser; an unförmliche Granitmassen anstoßende sanftgeneigte regelmäßige Bänke desselben Gesteins.

f) Ziegenrücken im Ockertale; beinahe vertikale Bänke, horizontal und diagonal durchschnitten.

g) Kalkhöhle von oben erleuchtet; malerischer Effekt.

h) Versteinerungslagen unter Grauwackebänken, am Schulenberg auf dem Oberharz.

i) Küttelstaler Gipsbrüche; kleines Musterstück, die horizontale und vertikale schwankende Durchklüftung dieser Gesteinart darstellend.

k) Klause bei Goslar; in den Sandstein gegraben, merkwürdig wegen regelmäßiger doch schwankender Zerklüftung.

1) Rammeisberg bei Goslar; meisterhafte kleine Zeichnung, den ödesten trostlosesten Zustand, auf der Oberfläche metallischer Naturschätze, vergegenwärtigend.


Zeitgenossen und Nachfahren


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