[Handschriftlich, 1788, 1789]
I
Da unsre Vorstellung von den Wirkungen der Natur immer unvollkommen bleibt, so müssen wir mancherlei Mittel ergreifen, um sie zu erweitern, um
uns, wenn wir etwas gesehen, bemerkt, entdeckt haben,
einigermaßen auszudrücken. Indem nun jeder Mensch gewöhnlich nur die Sachen von einer Seite ansieht, so sind daraus die verschiedenen Hypothesen entstanden, welche
mehr oder weniger brauchbar waren, die Geheimnisse der Natur auszudrücken, und länger oder kürzer brauchbar
blieben.
Da meine Absicht ist, einige Verhältnisse und Wirkungen
der Natur in ein helleres Licht zu setzen, so kann mir
nicht um eine Hypothese zu tun sein; man wird mir also erlauben, daß ich mich aller, als verschiedener Vorstellungsarten, bediene, je nachdem das, was ich denke, sich durch
eine oder die andere besser ausdrücken läßt. Es scheint
dieses ein gefährlicher Weg zu sein, auf welchem man
teils undeutlich zu werden, teils alle Parteien gegen sich aufzubringen fürchten muß.
Allein ich gebe zu bedenken, daß diejenigen, welche einen Gegenstand nach verschiedenen, oft entgegengesetzten
Hypothesen betrachten, doch redliche und Wahrheit liebende Männer sind, welch beiden um die Erkenntnis
der Sache zu tun ist und von welchen jeder glaubt, daß
sie sich von seiner Seite am besten und wichtigsten fassen
ließe.
Daraus schließe ich, daß beide Hypothesen Vorstellungsarten sind, welche im Grunde kompatible sind, ob es gleich schwerer ist, mit beiden als Mittel die Natur zu erkennen,
in seinem Geist zu wirtschaften und bald diesen, bald jenen
Standpunkt zu wählen, als beschränkt und eigensinnig auf diesem oder jenem Platze stehen zu bleiben.
So werde ich die Vorstellungsart der Evolutionisten so gut als der Epigenesisten, die bestimmte sowohl als die
freiere Zeugung, wie ich hier voraus sage, bloß als Wort und Mittel brauchen, je nachdem ich mich besser dadurch
zu erklären denke.
Jedes der bekannten Dinge, die wir im weitsten Sinn lebendig nennen, hat die Kraft, seinesgleichen hervorzubringen. Ebenso kann man sagen: Wir nennen lebendig, was vor unseren Sinnen die Kraft äußert, seinesgleichen
hervorzubringen.
Wenn wir diese Kraft geteilt gewahr werden, nennen wir
sie die beiden Geschlechter.
An denen Körpern, welche wir Pflanzen nennen, bemerken
wir die doppelte Kraft, ihresgleichen hervorzubringen: einmal ohne sichtbare Wirkung der Geschlechter, einmal durch
ihre sichtbare Wirkung.
Was wir Wachstum der Pflanzen nennen, ist nur eine Hervorbringung ihresgleichen ohne Geschlechtswirkung.
Durch diese Hervorbringung ihresgleichen geschieht keine Absonderung wie durch die Zeugung und Geburt. Es ist aber ebenso gut eine Hervorbringung ihresgleichen.
Wenn ein Samenkorn Wurzel geschlagen hat und seine Kotyledonen ihre Bestimmung erfüllt haben, so treibt die Pflanze
weiter, das heißt, sie wiederholt sich,
sie bringt sich selbst wieder hervor. Im Samenkorn ist das ganze System
der Pflanze vollendet und fängt nun
aufs neue wieder an. Vom Knoten c entfernt sich eine Fortsetzung, die
sich bald oft ohne merklichen Zwischenraum in einem
Knoten, abermals schließt, sowohl nach d in die Luft, als nach e unter der Erde weg oder an der Erde hin und von
da weit fort nach und g und so in infinitum, wenn die Pflanze eine Jahres-Revolution überdauert. Die Knoten e, g
schlagen wieder Wurzel und treiben nach, i wieder Fortsetzungen.
Trennt man den Raum einer Fortsetzung unter der Erde,
z. B. e g, so dauert die Wurzel g dennoch fort, und der Knoten setzt sich weiter in k fort; der Knoten g setzt sich in l fort.
Trennen wir den Raum g i voneinander und bringen sie unter die Erde, so schlagen Wurzeln aus dem Knoten i; es treiben Fortsetzungen unter der Erde weg; der Knoten k
treibt weiter in die Höhe.
Man wird mir nicht einwenden, daß nicht alle Pflanzen
diese Eigenschaft haben. Wir betrachten so die Pflanzen
in ihrem wichtigsten und durch Beispiele bekannten Ausbreiten und Fortsetzen.
Wie mannigfaltig sie modifiziert und eingeschränkt werden,
zeigt sich im Folgenden. Die Knoten d, h, i, welche wir
bisher gesehen haben nach , 0, k in die Höhe treiben, sind auch seitwärts nicht müßig geblieben; sie haben nach
«, p, q, r, s weiter sich fortgesetzt und allda wieder
Knoten gebildet, und so wird ein jeder in infinitum fortfahren, wenn er mehrere Jahr-Revolutionen aushält, wenn
er holzartig und dauernd wird, und die letzte Fortsetzung,
wieder in die Erde gebracht, wird von ihrem Knoten
wieder Wurzel schlagen und sich wieder« infinitum fortsetzen. Auf dieser Fortsetzung, auf dieser Hervorbringung
seinesgleichen in infinitum ohne sichtbare Mitwirkung der beiden Geschlechter beruht das ganze Pflanzenwesen. Man
werfe mir nicht ein, daß man dieses nur uneigentlich eine Hervorbringung seinesgleichen nennen könne, weil die Teile doch mehr oder weniger einander unähnlich seien. Ich muß mir gegenwärtig wünschen, daß man mir aufmerksam folge, und es muß sich erst am Ende zeigen, wenn wir den Weg zurückschauen, den wir zurückgelegt
haben, ob wir den rechten gegangen sind. Ich wiederhole nochmals: Von Knoten zu Knoten ist der ganze Kreis der
Pflanze im wesentlichen geendigt; sie bedarf nur wie in dem
Samenkorn einen Wurzelpunkt, oder einen Wurzelknoten,
einen Kotyledonknoten, eine Folge von Knoten, so ist es wieder eine vollständige Pflanze, die nach ihrer Natur
fortzuleben und fortzuwirken imstande ist. Ich gehe weiter und sage: Alle andern Veränderungen der Pflanze sind Schein- Veränderungen und sind im Grunde alle aus dem
bisher Gesagten, aus der Lehre von der Fortsetzung der Knoten und der Hervorbringung seinesgleichen ohne sichtbare Einwirkung zweier Geschlechter zu erklären. Ja die beiden Geschlechter werden uns nur zuletzt aus dieser ersten und einfachsten Hervorbringungsart erklärlich werden.
Jeder Knoten hat eine Begleitung; unter der Erde schließt
sich solche an ihn an und deckt ihn als Hülle zu, über
der Erde entfernt sie sich mehr oder weniger von ihm. Es ist das Blatt.
Wichtigkeit dieses abfälligen und doch mit der Pflanze
innig verbundenen Körpers.
(Hier ist nun einer der wichtigsten Punkte zu erörtern, vom Zusammenwachsen der Blätter nach dem einwohnenden Gesetz der Natur, einer gewissen Zahl nach, wodurch die Kelche und die Kronen entstehen. Ferner ist die Lehre vom Ausdehnen und Zusammenziehen
zu beleuchten.)
Bei der fortschreitenden Veränderung der Pflanzenteile wirkt eine Kraft, die ich nur uneigentlich Ausdehnung
und Zusammenziehung nennen darf.
Besser wäre es, ihr ein x oder i nach algebraischer Weise
zu geben, denn die Worte Ausdehnung und Zusammenziehung drücken diese Wirkung nicht in ihrem ganzen Umfange aus. Sie zieht zusammen, dehnt aus, bildet aus, bildet um, verbindet, sondert, färbt, entfärbt, verbreitet,
verlängt, erweicht, verhärtet, teilt mit, entzieht, und nur
allein wenn wir alle ihre verschiedenen Wirkungen in einem sehen, dann können wir das anschaulicher kennen, was ich durch diese vielen Worte zu erklären und auseinanderzusetzen gedacht habe. Sie tut das alles so stückweise, so sacht, so unmerklich, daß sie zuletzt uns vor unseren Augen einen Körper in den andern verwandelt,
ohne daß wir es gewahr werden.
Der Mensch kann ohne diese nur das, was gesondert ist, erkennen, eben darum weil es gesondert ist. Er muß, um
zu erkennen, dasjenige sondern, was nicht gesondert werden sollte; und hier ist kein ander Mittel, als das, was die Natur gesondert unserer Erkenntnis vorgelegt hat, wieder
zu verbinden, wieder zu einem zu machen, wenn wir achthaben, wie eine Gestalt sachte in die andre übergeht und zuletzt von der folgenden Gestalt gänzlich verschlungen
wird.
Es ist dieses schon oft und lange bemerkt worden. Es kommt nur darauf an, daß wir das, was am Einzelnen leicht zu bemerken ist, nun aufs Allgemeine ausbreiten, wo es
oft unserer Bemerkung entflieht.
Erstes Gesetz
Jeder Pflanzenknoten hat die Kraft, sich zu entwickeln und fortzusetzen und einen anderen Pflanzenknoten zu erzeugen.
Zweites Gesetz
Eine Folge von solchen Pflanzenknoten kann sich nicht nach- und auseinander entwickeln, ohne daß sie sich nach
und nach verändern und modifizieren. NB. Die Modifikation wird am
sichtbarsten durch das Blatt, welches jeden Knoten begleitet.
Diese Veränderung und Modifikation der Blätter und des Knotens selbst beruht darauf,
daß der Körper, z. B. das Blatt, aus mannigfaltigen Gefäßen besteht, welche, nachdem sie anders bestimmt, mit andern Säften angefüllt werden, ganz andre Gestalten hervorbringen.
Ich werde zu denen vielen andern von mir oben gebrauchten Worten noch eines hinzufügen, das ist:
Die Ausdehnung des einen Teils ist Ursache, daß ein andrer Teil aufgehoben wird.
Zum Grunde dieses Gesetzes liegt die Notwendigkeit, an
die jedes Geschöpf gebunden ist, daß es nicht aus seinem
Maße gelten kann. Ein Teil kann also nicht zunehmen,
ohne daß der andere abnimmt, ein Teil nicht völlig zur Herrschaft gelangen, ohne daß der andere völlig aufgehoben wird.
Bei den Pflanzen zeigt sich nur das aufs schönste und zugleich sonderbarste. Da eine Pflanze nicht eine Einheit, sondern ein aus mehreren Einheiten zusammengesetztes Geschöpf ist, so finden
wir, daß die verschiedenen Einheiten, indem sie aufein- ander folgen, ihre Gestalt und Bestimmung dadurch verändern, daß Teile derselben überwiegend modifiziert werden. Es ist aber, wie oben gesagt, nicht Ausdehnung und
Zusammenziehung allein, sondern jene x-Kraft, welche
das bewirkt.
Drittes Gesetz
Eine jede Pflanze ist in ihrer Natur dergestalt beschränkt und bestimmt, daß sie, wenn ihre Knoten die verschiednen
Stufen, deren sie fähig waren, durchgegangen sind und
es endlich an die Ausbildung des Kelchs gekommen ist, daß alsdann die verschiedenen Teile, welche sich sonst nach und nach entwickelt haben würden, sich auf einmal
und zwar in einer gewissen Gestalt und Zahl verbunden
entwickeln.
Durch diese Wirkung der Natur entsteht der Kelch. Es
gehört einige Aufmerksamkeit dazu, um solches anschaulich zu erkennen; allein es kann solches zuletzt unumstößlich dargetan werden.
Es müssen hier verschiedne Blumen, wo es besonders
sichtbar wird, vorgenommen werden, um diese Sache bis zur höchsten Wahrscheinlichkeit zu bringen; alsdann muß
man den Kelch der durchgewachsnen Rose vorzeigen, wo
sich die fünf Blätterzweige, abgesondert und entwickelt, auf das deutlichste zeigen.
Wenn wir die Art, wie die Natur den Kelch hervorbringt,
genau ansehn, so finden wir, daß sie ihn oft aus ganz geteilten Blättern bestehn läßt, wo es uns denn begreiflicher
wird, daß vier Blätter, welche sich sonst übereinander, jeder an seinem Knoten, mit denen gehörigen Zwischenräumen
entwickelt haben würden, nunmehr sich nebeneinander in einem Kreis entwickeln und aneinander anschließen.
Schwerer wird einigermaßen diese Vorstellungsart, wenn
gedachte Blätter sich an ihrer Bahn so verbinden, daß der Kelch Monophyllus wird und manchmal oben kaum gezähnelt erscheint. Dadurch werden wir auf eine andere
Eigenschaft der Natur geführt, welche wir in andern ihrer Wirkungen jedoch schon kennen.
Es ist offenbar, daß die Wurzel am meisten wäßrige
Feuchtigkeiten an sich zieht, wenn solche gleich auch mit
anderen Teilen vermischt sind. Die Pflanzenteile, welche
der Wurzel am nächsten sind, sind in die Breite und Dicke
ausgedehnt, woraus sich also schließen läßt, daß diejenigen
Gefäße, welche die Feuchtigkeit vorzüglich aufnehmen,
eigentlich in die Breite gestaltet sind. Ich vermute, daß
die Blätter die Feuchtigkeit aus dem Stamm an sich ziehn,
und wie die Wurzel an der Erde, so diese nunmehr an denen Zwischengefäßen saugen. Diese Feuchtigkeit wird
in denen Blättern durch Licht und Luft modifiziert, und
teils dunstet sie aus, teils kehrt vielleicht ein Teil davon
in den Stiel zurück, welcher immer geschmeidiger wird,
je weiter er sich von der Erde entfernt. Es scheint, als wenn eine gewisse Masse von Wasser, von Öl, Luft und
Licht in die Pflanze gebracht und von Knoten zu Knoten
filtriert werden müsse, bis sie sich zuletzt auf einmal bestimmt findet, das Zeugungswerk zu vollenden, zu welchem sie denn auch unaufhaltsam vorwärts schreitet. Diese,
als gemeine und meistenteils unbezweifelte Begriffe waren
hier vorauszusetzen, um weiter vorwärts zu anderen Behauptungen zu gehn, welche so leicht nicht zugegeben
werden dürften. Auf die Betrachtung der Blätter, die an
ein und derselben Pflanze nur zuerst von der Wurzel an
bis gegen den Kelch sich nach und nach verändern, muß
der Hauptgang unserer Betrachtung sein. Es wird nicht schwer sein zu zeigen, wie sich nach verschiedenen Modifikationen die Blätter des sogenannten Stieles zum Kelche
vereinigen, eine auf gleiche Weise vereinte Anzahl die Krone bildet und zuletzt wieder die Staubfäden hervorbringt. Es zeigen es uns verschiedene Pflanzen in ihrem
natürlichen Zustande, andere zeigen es noch besser, wenn
sie aus dem Kreise ihrer Natur geruckt werden; außerdem
ist es eine ganz bekannte Wahrheit, die keinem Botaniker
entgeht, und ich möchte nur sagen, daß, soviel ich weiß, man bisher aus dieser ganz bekannten Erscheinung nur
nicht weit genug gefolgert hat.
Sind wir durch diese Stufe bis zur Entwickelung der Staubfäden hinaufgestiegen, so bleibt uns zuletzt noch der Versuch übrig, ob uns die Entwickelung der weiblichen Teile
zugleich mit dem Eierstock gelingt, womit wir dann an
das letzte Ende des großen Zirkels, den eine Pflanze zurücklegen kann, gelangt sein mögen.
Epigramme, Sprüche, Xenien usw.
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