Um uns den Begriff organischer Wesen zu erleichtem, werfen wir einen Blick auf die Mineralkörper. Diese, in ihren mannigfaltigen Grundteilen so fest und unerschütterlich, scheinen in ihren Verbindungen, die zwar auch nach
Gesetzen geschehen, weder Grenze noch Ordnung zu
halten. Die Bestandteile trennen sich leicht, tun wieder neue Verbindungen einzugehn; diese können abermals aufgehoben werden, und der Körper, der erst zerstört schien, liegt wieder in seiner Vollkommenheit vor uns. So vereinen und trennen sich die einfachen Stoffe, zwar
nicht nach Willkür, aber doch mit großer Mannigfaltigkeit,
und die Teile der Körper, welche wir unorganisch nennen,
sind, ohngeachtet ihrer Aneignung zu sich selbst, doch
immer wie in einer suspendierten Gleichgültigkeit, indem
die nächste, nähere oder stärkere Verwandtschaft sie aus dem vorigen Zusammenhange reißt und einen neuen Körper
darstellt, dessen Grundteile, zwar unveränderlich, doch
wieder auf eine neue oder unter andern Umständen auf
eine Rückzusammensetzung zu warten scheinen.
Zwar bemerkt man, daß die mineralischen Körper, insofern
sie ähnliche oder verschiedene Grundteile enthalten, auch
in sehr abwechselnden Gestalten erscheinen; aber eben
diese Möglichkeit, daß der Grundteil einer neuen Verbindung unmittelbar auf die Gestalt wirke und sie sogleich
bestimme, zeigt das Unvollkommene dieser Verbindung,
die auch ebenso leicht wieder aufgelöst werden kann.
So sehen wir gewisse Mineralkörper bloß durch das Ein- dringen fremder Stoffe entstehen und vergehen; schöne
durchsichtige Kristalle zerfallen zu Pulver, wenn ihr Kristallisationswasser verraucht, und (ein entfernter liegendes
Beispiel sei erlaubt) die zu Borsten und Haaren durch den
Magnet vereinigten Eisenspäne zerfallen wieder in ihren einzelnen Zustand, sobald der mächtig verbindende Einfluß entzogen wird.
Das Hauptkennzeichen der Mineralkörper, auf das wir hier gegenwärtig Rücksicht zu nehmen haben, ist die Gleichgültigkeit ihrer Teile in Absicht auf ihr Zusammensein,
ihre Ko- oder Subordination. Sie haben nach ihrer Grundbestimmung gewisse stärkere oder schwächere Verhältnisse,
die, wenn sie sich zeigen, wie eine Art von Neigung aussehn, deswegen die Chemiker auch ihnen die Ehre einer Wahl bei solchen Verwandtschaften zuschreiben, und doch
sind es oft nur äußere Determinationen, die sie da oder
dorthin stoßen oder reißen, wodurch die Mineralkörper
hervorgebracht werden, ob wir ihnen gleich den zarten
Anteil, der ihnen an dem allgemeinen Lebenshauche der Natur gebührt, keineswegs absprechen wollen.
Wie sehr unterscheiden sich dagegen organische Wesen,
auch nur unvollkommene! Sie verarbeiten zu verschiedenen bestimmten Organen die in sich aufgenommene
Nahrung, und zwar, das übrige absondernd, nur einen Teil derselben. Diesem gewähren sie etwas Vorzügliches und
Eigenes, indem sie manches mit manchem auf das innigste
vereinen und so den Gliedern, zu denen sie sich hervorbilden, eine das mannigfaltigste Leben bezeugende Form
verleihen, die, wenn sie zerstört ist, aus den Überresten
nicht wieder hergestellt werden kann.
Vergleichen wir nun diese unvollkommenen Organisationen
mit den vollkommneren, so finden wir, daß jene, wenn
sie auch die elementaren Einflüsse mit einer gewissen Gewalt und Eigenheit verarbeiten, doch die daraus entstandenen organischen Teile nicht zu der hohen Determination und Festigkeit erheben können, als es von den vollkommenem Tiernaturen geschieht. So wissen wir, um
nicht tiefer herabzusteigen, daß z. B. die Pflanzen, indem
sie sich in einer gewissen Folge ausbilden, ein und dasselbe Organ unter höchst verschiedenen Gestalten darstellen.
Die genaue Kenntnis der Gesetze, wornach diese Metamorphose geschieht, wird die botanische Wissenschaft,
sowohl insofern sie nur beschreibt, als insofern sie in die innere Natur der Pflanzen einzudringen gedenkt, gewiß
weiter bringen.
Hier ist davon nur so viel zu bemerken: die uns in die Sinne fallenden organischen Teile der Pflanze, Blätter und Blumen, Staubfäden und Stempel, die verschiedensten Hüllen und was sonst an ihr bemerkt werden mag,
sind alles identische Organe, die durch eine Sukzession von vegetativen Operationen nach und nach so sehr verändert und bis zum Unkenntlichen hinangetrieben
werden.
Einerlei Organ kann als zusammengesetztestes Blatt ausgebildet und als Stipula in die größte Einfalt zurückgezogen werden. Ebendasselbe Organ kann sich nach verschiedenen Umständen zu einer Tragknospe oder zu einem
unfruchtbaren Zweige entwickeln. Der Kelch, indem er
sich übereilt, kann zur Krone werden, und die Krone
kann sich rückwärts dem Kelche nähern. Dadurch werden
die mannigfaltigsten Bildungen der Pflanzen möglich, und
derjenige, der bei seinen Beobachtungen diese Gesetze immer vor Augen hat, wird davon große Erleichterung
und Vorteil ziehen.
Daß man bei der Geschichte der Insekten auf die Metamorphose derselben genau Rücksicht zu nehmen habe
und daß man ohne diesen Begriff die Ökonomie der Natur
in diesem Reiche keineswegs übersehen könne, war auffallender und ist früher beherzigt worden. Die Verwandlung der Insekten an und für sich genau zu betrachten und mit der Pflanzenverwandlung zu vergleichen, wird
ein sehr angenehmes Geschäft sein; gegenwärtig davon
nur so viel, als zu unserm Zwecke dient.
Die Pflanze erscheint fast nur einen Augenblick als Individuum und zwar da, wenn sie sich als Samenkorn von
der Mutterpflanze loslöst. In dem Verfolg des Keimens
erscheint sie schon als ein Vielfaches, an welchem nicht
allein ein identischer Teil aus identischen Teilen entspringt, sondern auch diese Teile durch Sukzession verschieden ausgebildet werden, so daß ein mannigfaltiges, scheinbar verbundenes Ganze zuletzt vor unsern Augen
dasteht. Allein daß dieses scheinbare Ganze aus sehr unabhängigen Teilen bestehe, gibt teils der Augenschein, teils die Erfahrung: denn Pflanzen, in viele Teile getrennt und zerrissen, werden wieder als ebenso viele scheinbare Ganze
aus der Erde hervorsprossen.
An dem Insekt hingegen zeigt sich uns ein anderer Fall. Das von der Mutter losgetrennte abgeschlossene Ei manifestiert sich schon als Individuum; der herauskriechende
Wurm ist gleichfalls eine isolierte Einheit; seine Teile
sind nicht allein verknüpft, nach einer gewissen Reihe
bestimmt und geordnet, sondern sie sind auch einander
subordiniert; sie werden wo nicht von einem Willen geleitet, doch von einer Begierde angeregt. Hier ist ein ausgesprochnes Oben und Unten, ein entschiedenes Vorn
und Hinten: die sämtlichen Organe sind nach einer gewissen Reihe entwickelt, so daß keins an die Stelle des andern treten kann.
Indessen ist die Raupe ein unvollkommenes Geschöpf,
ungeschickt zur notwendigsten aller Funktionen, zur Fortpflanzung, wohin sie auf dem Wege der Verwandlung nur gelangen kann.
Bei der Pflanze bemerken wir [die] Sukzessionen der Zustände mit Zusammensein verknüpft. Die Stengel bestehen von der Wurzel auf, indem sich die Blume schon entwickelt: das Zeugangsgeschäft geht vor sich, und die früheren, vorbereitenden Organe zeigen sich noch kräftig und lebendig; nur alsdann erst, wenn der befruchtete Same seiner Reife sich nähert, welkt das Ganze zusammen.
Bei dem Insekt ist es ganz anders. Eine jede Haut, die
es abwirft, läßt es alsbald hinter sich, und aus der letzten Raupenhülle schlüpft ein entschieden abgesondertes Geschöpf; jeder folgende Zustand ist von dem vorhergehenden getrennt, kein Rückschritt möglich. Der Schmetterling kann sich nur aus der Raupe, die Blume hingegen
aus und an der Pflanze entwickeln.
Betrachten wir nun die Gestalt der Raupe gegen die Gestalt des Schmetterlings, so finden wir folgenden Hauptunterschied zwischen beiden: die Raupe besteht, wie ein anderer gegliederter Wurm, aus Teilen, die einander ziemlich ähnlich sind, wenn sich auch Kopf und Hinterteil ! einigermaßen auszeichnen. Die vorderen Füße sind wenig von den hinteren Wärzchen verschieden und die Körper
in ziemlich gleiche Ringe geteilt.
Durch das fortschreitende Wachstum wird eine Haut nach
der andern zersprengt und abgelegt. Die folgende scheint
sich erst wieder zu erzeugen, um, wenn sie, zu weit aus- gedehnt, keine Elastizität mehr hat, abermals zu zerspringen
und abzufallen. Die Raupe wird immer größer, ohne ihre Gestalt eigentlich zu verändern. Nun kömmt ihr Wachstum endlich auf den Punkt, auf dem es nicht weiter kann,
und so geht eine sonderbare Veränderung vor in dem Geschöpf. Es sucht sich eines gewissen Gespinstes zu entledigen, das zu den Systemen seines Körpers gehörte,
wobei das Ganze, wie es scheint, zugleich von allem Überflüssigen des der Verwandlung in edlere Organe Entgegenstehenden gereinigt wird.
Nach Maßgabe dieser Ausleerung nimmt der Körper an Länge ab, an Breite jedoch nicht verhältnismäßig zu, und
indem er in diesem Zustande seine Haut abwirft, befindet
sich darunter nicht wie sonst ein dem ehemaligen Tiere
ähnliches, sondern ein ganz verschiedenes Geschöpf.
Bei einer weitem Ausführung der Metamorphose der Insekten müssen nun auch die unterschiedenen Charaktere
beider Zustände umständlicher angezeigt werden. Hier
wenden wir uns, unserer Absicht gemäß, sogleich zu den
Schmetterlingen und finden einen sehr wichtigen Unterschied gegen die Raupe. Der Körper besteht nicht mehr
aus ähnlichen Teilen; die verschiedenen Ringe haben sich
in Systeme zusammengeordnet, teils sind sie völlig verschwunden, teils noch kenntlich. Wir sehen drei entschiedene Abteilungen: das Haupt mit seinen Hülfsorganen,
die Brust mit den ihrigen und den Leib, an welchem ebenfalls die Organe seiner Bestimmung sich ausgebildet haben. Ob wir nun gleich dem Wurme seine Individualität nicht absprechen konnten, so erschien er uns deswegen doch
so unvollkommen, weil seine Teile gegeneinander in einem
gleichgültigen Verhältnisse standen, einer ohngefähr an Wert und Würde so viel als der andere besaß und vermochte, woraus denn nichts als höchstens Nahrung und
Wachstum und gemeine Absonderung entsprang; dagegen jene Absonderung der Gefäße und Säfte, wodurch ein neues Individuum erst hervorspringen kann, in diesem Zustande nicht möglich war. Nur erst dann, wenn durch
eine langsame heimliche Wirkung die verwandlungsfähigen
Organe zu ihrer höchsten Vollkommenheit gediehen, wenn
bei der gehörigen Temperatur die nötige Ausleerung und
Austrocknung vor sich gegangen, dann sind die Glieder
geeignet, sich zu entscheiden, aus ihrem früheren Verhältnis tretend, sich voneinander aufs möglichste abzusondern,
ohngeachtet ihrer innerlichen Verwandtschaft bestimmte
entgegengesetzte Charaktere anzunehmen und, indem sie sich in Systeme zusammendrängen, die mannigfaltigen
energischen Operationen des Lebens möglich zu machen.
So ein unvollkommenes und vergängliches Geschöpf ein Schmetterling in seiner Art, verglichen mit den Säugetieren, auch sein mag, so zeigt er uns doch durch seine Verwandlung, die er vor unsern Augen vornimmt, den
Vorzug eines vollkommneren Tiers vor einem unvollkommneren; die Entschiedenheit ist es seiner Teile, die Sicherheit, daß keiner für den andern gesetzt noch genommen
werden kann, jeder vielmehr zu seiner Funktion bestimmt
und bei derselben auf immer festgehalten bleibt.
Nun wollen wir noch einen flüchtigen Blick auf diejenigen
Erfahrungen tun, die uns belehren, daß manche Tiere ganze verlorne Gliedmaßen wieder ersetzen können. Dieser
Fall kann jedoch nur bei Geschöpfen, deren Glieder gleichgültig sind, wo eins in die Wirkung und Würde des andern
nachrücken kann, eintreten, oder bei solchen, deren Natur,
wie der Amphibien, durch das Element, in welchem sie leben, weicher, schwebender, nachgiebiger erhalten wird. Daher entspringt aus der völligen Entschiedenheit der Glieder die Würde der vollkommensten Tiere und besonders des Menschen. Hier hat in der regelmäßigsten Organisation alles bestimmte Form, Stelle, Zahl, und was auch
die mannigfaltige Tätigkeit des Lebens für Abweichungen
hervorbringen mag, wird das Ganze sich immer wieder
in sein Gleichgewicht stellen.
Hätten wir aber nötig gehabt, uns durch die Betrachtung
der Pflanzen- und Insektenmetamorphose heraufzuwinden, wenn wir nicht hoffen könnten, dadurch auch über die Gestalt der vollkommnern Tiere einigen Aufschluß zu erhalten?
Wir haben dort gesehen, daß aller Betrachtung über Pflanzen und Insekten der Begriff einer sukzessiven Verwandlung
identischer Teile neben- oder nacheinander zum Grunde
liegen müsse, und nun wird es uns beim Untersuchen
des Tierkörpers zum größten Vorteil gereichen, wenn wir uns den Begriff einer gleichzeitigen, von der Zeugung an
schon bestimmten Metamorphose aneignen können.
So ist z. B. in die Augen fallend, daß sämtliche Wirbelknochen eines Tieres einerlei Organe sind, und doch würde, wer den ersten Halsknochen mit einem Schwanzknochen
unmittelbar vergliche, nicht eine Spur von Gestaltsähnlichkeit finden.
Da wir nun hier identische und doch so sehr verschiedene Teile vor Augen sehen und uns ihre Verwandtschaft
nicht leugnen können, so haben wir, indem wir ihren organischen Zusammenhang betrachten, ihre Berührung untersuchen und nach wechselseitiger Einwirkung forschen, sehr schöne Aufschlüsse zu erwarten.
Denn eben dadurch wird die Harmonie des organischen
Ganzen möglich, daß es aus identischen Teilen besteht, die sich in sehr zarten Abweichungen modifizieren. In ihrem Innersten verwandt, scheinen sie sich in Gestalt,
Bestimmung und Wirkung aufs weiteste zu entfernen,
ja sich einander entgegenzusetzen, und so wird es der Natur möglich, die verschiedensten und doch nahe verwandten Systeme durch Modifikation ähnlicher Organe
zu erschaffen und ineinander zu verschlingen.
Die Metamorphose jedoch wirkt bei vollkommneren Tieren
auf zweierlei Art: erstlich daß, wie wir oben bei den Wirbelknochen gesehen, identische Teile nach einem gewissen
Schema durch die bildende Kraft auf die beständigste
Weise verschieden umgeformt werden, wodurch der Typus
im allgemeinen möglich wird; zweitens daß die in dem Typus
benannten einzelnen Teile durch alle Tiergeschlechter und
Arten immerfort verändert werden, ohne daß sie doch jemals ihren Charakter verlieren können.
Zum Beispiel des ersten wiederholen wir das von den
Wirbelknochen Hergenommene, deren jeder von den Halsknochen bis zu den Schwanzknochen seinen eigenen Charakter hat. Zum Beispiel des andern führen wir an, daß
den ersten und zweiten Halsknochen jedermann durch
alle Tiere ohnerachtet der außerordentlichen Abweichung
erkennen werde, sowie der aufmerksame und fleißige Beobachter sich auch auf ebendiese Weise durch alle Wechselgestalten durchzufinden hat.
Wir wiederholen also, daß die Beschränktheit, Bestimmtheit und Allgemeinheit der durch die Fortpflanzung schon
entschiednen simultanen Metamorphose den Typus möglich macht, daß aber aus der Versatilität dieses Typus, in welchem die Natur, ohne jedoch aus dem Hauptcharakter
der Teile herauszugehen, sich mit großer Freiheit bewegen kann, die vielen Geschlechter und Arten der vollkommneren Tiere, die wir kennen, durchgängig abzuleiten
sind.
Tagebücher und Jahreshefte
Testamente, Reden, Persönlichkeiten
Goethes Schriften zur Anatomie
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