[Der Teutsche Merkur. Februar, März 1789]
Neapel, den 10. Januar 178-.
Wenn ich in diesem schönen Lande selbst mitten im Winter eines heitern Himmels, einer schönen Erde, einer fortgesetzten Vegetation genieße, so freut es mich, daß meine Freunde in Norden durch andere Naturerscheinungen wenigstens einigermaßen schadlos gehalten werden.
Sie rühmen mir, teurer Freund, die Schönheit Ihrer gefrorenen Fensterscheiben und können mir nicht genug ausdrücken, wie diese vorübergehende Erscheinungen sich bei strenger anhaltender Kälte und bei dem Zuflüsse von mancherlei Dünsten zu Blättern, Zweigen, Ranken, ja sogar zu Rosen bilden. Sie schicken mir einige Zeichnungen, die mich an das Schönste, was ich in dieser Art gesehen, erinnern und durch die besondere Zierlichkeit der Gestalten in Verwunderung setzen. Nur scheinen Sie mir diesen Wirkungen der Natur zu viel Wert zu geben; Sie möchten gern diese Kristallisationen zum Range der Vegetabilien erheben. Das, was Sie für Ihre Meinung anführen, ist sinnreich genug, und wer würde leugnen, daß alle existierende Dinge unter sich Verhältnisse haben!
Aber erlauben Sie mir zu bemerken, daß diese Art, zu betrachten und aus den Betrachtungen zu folgern, für uns Menschen gefährlich ist.
Wir sollten, dünkt mich, immer mehr beobachten, worin sich die Dinge, zu deren Erkenntnis wir gelangen mögen, voneinander unterscheiden, als wodurch sie einander gleichen. Das Unterscheiden ist schwerer, mühsamer als das Ähnlichfinden, und wenn man recht gut unterschieden hat, so vergleichen sich alsdann die Gegenstände von selbst. Fängt man damit an, die Sachen gleich oder ähnlich zu finden, so kommt man leicht in den Fall, seiner Hypothese oder seiner Vorstellungsart zulieb Bestimmungen zu übersehen, wodurch sich die Dinge sehr voneinander unterscheiden.
Verzeihen Sie mir, wenn ich in einen dogmatischen Tonfalle, und nehmen Sie den Ernst in einer ernstlichen Sache gut auf.
Das Leben, das in allen existierenden Dingen wirkt, können wir uns weder in seinem Umfange noch in allen seinen Arten und Weisen, durch welche es sich offenbart, auf einmal denken.
Es bleibt also einem Geiste, der dahin gerichtet ist, nichts übrig, als eben diese Arten und Weisen, so genau, als es ihm möglich ist, kennen zu lernen. Er sieht wohl ein, daß er alle zusammen einem einzigen Begriffe, dem Begriff von Leben im weitesten Sinne, unterzuordnen hat; aber eben desto sorgfältiger wird er die Gegenstände voneinander sondern, in welchen sich die Art zu sein und zu leben verschieden zeigt. Er wird mit Strenge, ja mit Pedantismus darauf halten, daß die großen eingeschlagenen Merkpfähle nicht verrückt werden, welche, wenn sie auch nur willkürlich eingeschlagen waren, ihm doch dazu helfen müssen, das Land zu messen und auf das genaueste zu kennen. Er wird die drei großen in die Augen fallenden Gipfel, Kristallisation, Vegetation und animalische Organisation, niemals einander zu nähern suchen, vielmehr wird er nur ihre Zwischenräume genau zu kennen trachten und mit großem Interesse an den Punkten verweilen, wo die verschiedenen Reiche zusammentreffen und ineinander überzugehen scheinen.
Dieses Letzte mag wohl Ihr besonderer Fall sein, werter Freund, und ich darf Sie deswegen nicht tadeln, weil ich mich selbst in diesen Gegenden oft aufgehalten und noch gern darin verweile. Nur mag ich nicht gerne zugeben, daß man zwei Berge, welche durch ein Tal verbunden werden, für einen Berg halte und dafür ausgebe. Denn ebenso ist es in natürlichen Dingen: die Gipfel der Reiche der Natur sind entschieden voneinander getrennt und aufs deutlichste zu unterscheiden. Ein Salz ist kein Baum, ein Baum kein Tier; hier können wir die Pfähle feststecken, wo uns die Natur den Platz selbst angewiesen hat. Wir können sodann nur desto sichrer von diesen Höhen in ihre gemeinschaftliche Täler heruntersteigen und auch diese recht genau durchsuchen und durchforschen.
So hab ich nichts dagegen, mein Freund, wenn Sie diese Beobachtungen, worauf Sie die Winterzierde Ihrer Fenster aufmerksam gemacht, weiter und genauer fortsetzen; geben Sie acht, wo Kristallisationen sich einer Ramifikation nähern, und Sie werden finden, daß es gewöhnlich dann geschieht, wenn sich ein Phlogiston zu den Salzen mischt. Sie werden alsdenn durch Hülfe kleiner chymischer Versuche angenehme Erfahrungen sammeln. Sie werden von den gefrornen Erscheinungen nach und nach bis zur künstlichen Verfertigung der Dendriten übergehen und alsdann mich selbst überraschen und belehren, wenn Sie mir den Punkt genau anzeigen, wo Sie auf diesem Wege das ganz nahe verwandt scheinende Moos zu erhaschen das Glück hatten.
Übrigens lassen Sie uns für alle Kunstwörter einen gleichen Respekt haben! Jedes zeigt von der Bemühung des Menschengeistes, etwas Unbegreifliches zu begreifen. Lassen Sie uns die Worte Aggregation, Kristallisation, Epigenese, Evolution nach unsrer Bequemlichkeit brauchen, je nachdem eins oder das andere zu unsrer Beobachtung am besten zu passen scheint.
Da wir nicht mit wenig viel tun können, so muß es uns nicht verdrießen, mit vielem wenig zu tun, und wenn der Mensch die ganze Natur nicht einmal in einem dunkeln Gefühl umfassen kann, so kann er doch vieles in ihr erkennen und wissen.
Die Wissenschaft ist eigentlich das Vorrecht des Menschen, und wenn er durch sie immer wieder auf den großen Begriff geleitet wird, daß das alles nur ein harmonisches Eins und er doch auch wieder ein harmonisches Eins sei, so wird dieser große Begriff weit reicher und voller in ihm stehen, als wenn er in einem bequemen Mystizismus ruhte, der seine Armut gern in einer respektablen Dunkelheit verbirgt.
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