J. W. von Goethe: Versuch über die Metamorphose der Pflanzen .
,
Stuttgart, in der Cottaschen Buchhandlung. 1831
Bei den Zusammenkünften deutscher Naturforscher zu München und Berlin gelang es unserm so kenntnis- als geistreichen Ritter v. Martins, durch einige wissenschaftliche Vorträge alles bisher für die Morphologie in der
Pflanzenwelt Gewonnene in sich selbst abzuschließen, indem er auf die Tendenz der Gewächse, wodurch Blüte und
Fruchtstand eigentlich gebildet und bestimmt wird, aufmerksam machte, und die wir die Spiraltendenz nennen
möchten. Erdrückt sich darüber, wie uns die Jahrgänge der
"Isis" 1828 und 1829 vermelden, folgendermaßen aus.
"Dieser Fortschritt in Kenntnis des Pflanzenlebens ist das Resultat jener morphologischen Ansicht, welche man
die Metamorphose der Pflanzen benennt.
"
Alle Organe der Blüte: Kelch, Krone, Staubfäden und
Fruchtknoten, sind umgestaltete Blätter.
"Sie sind also im Wesen gleiche, ntur durch die Potenz
ihrer Metamorphose verschiedene Blätter.
"Die Konstruktion einer Blüte beruht demgemäß auf einer
für jede Gattung eigentümlichen Stellung und Anordnung
einer gewissen Anzahl metamorphosierter Blätter.
"Diese, innerlich identisch, äußerlich vielgestaltet, lagern
sich gegen das Ende eines Zweiges oder auch Blütenstiels um eine gemeinsame Achse her, bis sie in Vereinigung und gegenseitiger Bindung Stillstand gefunden haben."
Soweit nur das Allernotwendigste mit den eigenen Worten und, wir hoffen, auch hier im Sinne des edlen Verfassers aufgestellt. Wir fügen noch soviel hinzu:
Der meisterhafte Darsteller arbeitet sodann die Angelegenheit dergestalt durch, daß er diese nach Zahl und
Maß geordneten organischen Bewegungen des an sich Gleichen und äußerlich völlig Verschiedenen organische
Umläufe nennen darf, auch ihren regelmäßigen sowohl
als imgeregelten Erscheinungen durch Bestimmungen aller Art so nahe dringt, daß er wagen kann, eine symbolische
Bezeichnung für die Einzelheiten zu unternehmen und
ein neues natürliches System darauf zu erbauen.
Das Studium der angeführten Aufsätze, eine mündliche
vertraute Unterhaltung mit dem vorzüglichen Manne, ein zü Versinnlichung dieser problematischen Naturwirkung
ausgedachtes Modell befähigten uns, diese bedeutenden
Ansichten zu verfolgen und eine Überzeugung zu gewinnen, welche wir kein Bedenken tragen hier mitzuteilen, wenn wir Nachstehendes zu besserm Verständnis eingeschaltet haben.
Dem Botaniker überhaupt, besonders dem anatomierenden,
sind die Spiralgefäße genugsam bekannt, sie werden in ihrer Mannigfaltigkeit beobachtet, unterschieden und benamt,
wenngleich ihre eigentliche Bestimmung für problematisch
gehalten wird. Wir aber betrachten sie hier als die kleinsten
Teile, welche dem Ganzen, dem sie angehören, vollkommen
gleich sind und, als Homoiomerien anzusehen, ihm ihre Eigenheiten mitteilen und von demselben wieder Eigenschaft und Bestimmung erhalten. Es wird ihnen ein Selbstleben zugeschrieben, die Kraft, sich an und für sich zu bewegen und eine gewisse Richtung anzunehmen; der vortreffliche Dutrochet nennt dieses eine vitale Inkurvation.
Indem wir nun die Betrachtung solcher konstituierenden Teile beseitigen, verfolgen wir jetzt den Gang unsres
Vortrags.
Wir mußten annehmen, es walte in der Vegetation eine allgemeine Spiraltendenz wodurch, in Verbindung mit dem
vertikalen Streben, aller Bau, jede Bildung der Pflanzen nach dem Gesetze der Metamorphose vollbracht wird.
Die zwei Haupttendenzen also oder, wenn man will, die beiden lebendigen Systeme, wodurch das Pflanzenleben
sich wachsend vollendet, sind das Vertikalsystem und das
Spiralsystem; keins kann von dem andern abgesondert
gedacht werden, weil nur eins durch das andere lebendig
wirkt. Aber nötig ist es zur bestimmteren Einsicht, besonders zu einem Vortrag, sie in der Betrachtung zu trennen und zu untersuchen: wie denn eins oder das andere waltet, bald seinen Gegensatz überwältigt, bald von ihm überwältigt wird oder sich mit ihm ins gleiche zu
stellen weiß, wodurch uns die Eigenschaften dieses unzertrennlichen Paares desto anschaulicher werden müssen.
Die Vertikaltendenz äußert sich von den ersten Anfängen
des Keimens an, sie ist es, wodurch die Pflanze in der Erde
wurzelt und zugleich sich in die Höhe hebt; sie verharrt vom Anfang bis zum Ende und manifestiert sich zugleich als solideszierend, es sei nun in langgestreckten Fasern und
Fäden oder selbst in der stracken, starr aufgerichteten Bildung des Holzes. Auch ist es dieselbe Naturkraft, welche
unaufhaltsam von Knoten zu Knoten in die Höhe oder
sonst fortschiebt, die einzelnen Spiralgefäße mit sich fortreißt und so, indem sie Leben nach Leben fördert und
steigert, eine Kontinuität des Ganzen sogar in rankenden
und kriechenden Gewächsen folgerecht hervorbringt.
Im Blütenstande zeigt sie sich jedoch am entschiedensten,
indem sie die Achse jeder Blumengestaltung bildet. Am
besten aber fällt sie in die Augen, wenn sie, im Kolben,
in der Spatha, sich als Stab und Stütze der endlichen
Erfüllung deutlich erweist; deshalb man denn auch bei den neueren Ansichten die vertikale Tendenz immer im
Auge zu behalten und sie als das männlich stützende
Prinzip anzusehen hat.
Die Spiraltendenz dagegen wollen wir als das eigentlich
produzierende Lebensprinzip ansehen; es ist mit jenem
innigst verwandt, aber vorzugsweise auf die Peripherie
angewiesen; sie kann indes auch gleich bei der ersten Keimung schon eintreten, wie wir an dem Beispiel einiger Winden wahrzunehmen haben.
Jedoch erweist sie sich am auffallendsten bei Endigungen
und Abschlüssen. Wie denn die sogenannten zusammengesetzten Blätter öfters in Girren und Vrillen auslaufen,
auch ganze Zweiglein, in welchen die saftigen Gefäße
überhandnehmen, die Solideszenz aber vermißt wird, als Gabeln, Böcklein und dgl. in schnellerer oder langsamerer Krümmung erscheinen.
Bei Monokotyledonen macht sie sich im Laufe des Wachstums seltener augenfällig. Die Vertikal oder Longitudinaltendenz scheint zu überwiegen; Blätter und Stengel
werden durch gerade Fasern in die Länge getrieben, und
so ist mir weder Cirrus noch Vrille in dieser großen Pflanzenabteilung begegnet.
Wie aber auch in dem Fortschritt des Pflanzenwachstums
die Spiraltendenz sich verbergen oder irgend merklich
hervordringen mag, so herrscht sie doch zuletzt bei aller Blüten- und Fruchtstellung, wo sie, ihren Mittelpunkt
tausendfältig umschlingend, das Wunder bewirkt, daß eine
einzelne Ptianze zuletzt befähigt wird, eine unendliche
Vermehrung aus sich selbst herauszuschöpfen.
Womit wir denn wieder zu unserm Anfange zurückkehren und die ursprünglichen Worte, die uns zuerst auf so mannigfaltige Gedanken geführt, wieder in Erinnerung
bringen.
Gibt uns nun das Vorgesagte die erwünschte Aufklärung
über das regelmäßige Pflanzengebilde, so leisten dieselben Maximen das gleiche zu Beurteilung der mannigfaltigsten, aus dem Gesetz der bestimmten Formen heraustretenden Mißwüchse, wie sich dem weiter Denkenden
und Forschenden gar wohl offenbaren wird.
Auf der nähern Untersuchung beruht nun die zugleich
tiefere und bestimmtere Kenntnis, welche zu erlangen
wir die beste Hoffnung haben, da Ritter v. Martins selbst diese wichtige Angelegenheit weiter fortzuführen nicht unterlassen kann und junge Männer kräftig und ausführlich die bemerkbaren und berechenbaren Bestimmungen
der Umläufe durchzuarbeiten bemüht sind. Wie wir denn
einen Aufsatz, welcher in dem ersten Teile des fünfzehnten Bandes der Akten der Leopoldinisch-Karolinischen
Gesellschaft erscheint, vorläufig nur im allgemeinen mit
Bewunderung anzuerkennen haben.
Die Abhandlung ist überschrieben: "Vergleichende Untersuchung über die Ordnung der Schuppen an den Tannenzapfen, als Einleitung zur Untersuchung der Blattstellung
überhaupt, von Dr. Alexander Braun."
Uns aber bleibt nur der Wunsch anzufügen: dem Wissen,
welches auf diesem Wege abermals in unendliche Einzelnheiten getrieben wird, möge es an innerer Konzentration nicht fehlen, damit die allgemeine Übersicht so
reicher Erfahrung innerhalb des Kreises einer faßlich überlieferten Wissenschaft bewirkt und erhalten werde.
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