> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Verhältnis zur Wissenschaft

2020-02-18

J.W.v.Goethe: Verhältnis zur Wissenschaft




Verhältnis zur Wissenschaft

Handschriftlich. Oktober 1820 

Man gewöhnt uns von Jugend auf, die Wissenschaften als Objekte anzusehen, die wir uns zueignen, nutzen, beherrschen können.

Ohne diesen GIauben würde niemand etwas lernen wollen. Und doch behandelt jeder die Wissenschaften nach seinem Charakter.

Der junge Mann verlangt Gewißheit, verlangt didaktischen, dogmatischen Vortrag.

Kommt man tiefer in die Sache, so sieht man, wie eigentlich das Objektive auch in der Wissenschaft waltet, und man prosperiert nicht eher, als bis man anfängt, sich selbst und seinen Charakter kennen zu lernen.

Da nun aber unser Individuum, es sei so entschieden als es wolle, doch von der Zeit abhängt, wohin es gesetzt, von dem Ort, wohin es gestellt ist, so haben diese Zufälligkeiten Einfluß auf das notwendig Gegebene.

Zu diesen Betrachtungen ward ich besonders aufgefordert, da ich aus Neigung und zu praktischen Zwecken mich in das wissenschaftliche Feld begeben, zu gewissen Überzeugungen gelangt, denselben nachgegangen bin, wodurch sich denn endlich eine gewisse Denkweise bei mir bildete und festsetzte, wonach ich die Gegenstände schätzte und beurteilte.

So nahm ich auf, was mir gemäß war, lehnte ab, was mich störte, und da ich öffentlich zu lehren nicht nötig hatte, belehrt ich mich auf meine eigene Weise, ohne mich nach irgend etwas Gegebenem oder Herkömmlichem zu richten.

Deswegen könnt ich jede neue Entdeckung freudig aufnehmen und, was ich selbst gewahr ward, ausbilden. Das Vorteilhafte kam mir zugute, und das Widerwärtige brauchte ich nicht zu achten.

Nun aber ist in den Wissenschaften ein ewiger Kreislauf; nicht daß die Gegenstände sich änderten, sondern daß bei neuen Erfahrungen jeder einzelne in den Fall gesetzt wird, sich selbst geltend zu machen, Wissen und Wissenschaften nach seiner eigenen Weise zu behandeln.

Weil nun aber die menschlichen Denkweisen auch in einen gewissen Zirkel eingeschlossen sind, so kommen die Methoden bei der Umkehrung immer wieder auf die alte Seite; atomistische und dynamische Vorstellungen werden immer wechseln, aber nur, a potiori: denn keine vertritt die andere ganz und gar, nicht einmal ein Individuum; denn der entschiedenste Dynamiker wird, ehe er sichs versieht, atomistisch reden, und so kann sich auch der Atomiste nicht dergestalt abschließen, daß er nicht hie und da dynamisch werden sollte.

Es ist wie mit der ..'..., ästhetischen Methode, wo eine nur das Umgekehrte der andern ist und bei lebendiger Behandlung der Gegenstände bald die eine, bald die andere sich zum Gebrauche darbietet.

Zur Darstellung meines geologischen Ganges werde veranlaßt, daß ich erlebe, wie eine der meinigen ganz entgegengesetzte Denkweise hervortritt, der ich mich nicht fügen kann, keineswegs sie jedoch zu bestreiten gedenke. Alles, was wir aussprechen, sind Glaubensbekenntnisse, und so werde das meinige in diesem Fache begonnen.


Zeitgenossen und Nachfahren

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