Zugabe
[Januar 1775. -- Lavaters ,Physiogn. Fragmente' I 15]
Man wird sich öfters nicht enthahen können, die Worte Physiognomie, Physiognomik in einem ganz
weiten Sinne zu brauchen. Diese Wissenschaft
schließt vom Äußern aufs Innere. Aber was ist das Äußere am Menschen? Wahrlich nicht seine nackte Gestalt, unbedachte Gebärden, die seine inneren Kräfte und deren
Spiel bezeichnen! Stand, Gewohnheit, Besitztümer, Kleider, alles modifiziert, alles verhüllt ihn. Durch alle diese Hüllen bis auf sein Innerstes zu dringen, selbst in diesen fremden Bestimmungen feste Punkte zu finden, von denen
sich auf sein Wesen sicher schließen läßt, scheint äußerst schwer, ja unmöglich zu sein. Nur getrost! Was den Menschen umgibt, wirkt nicht allein auf ihn, er wirkt auch
wieder zurück auf selbiges, und indem er sich modifizieren
läßt, modifiziert er wieder rings um sich her. So lassen Kleider und Hausrat eines Mannes sicher auf dessen Charakter schließen. Die Natur bildet den Menschen, er bildet
sich um, und diese Umbildung ist doch wieder natürlich;
er, der sich in die große weite Welt gesetzt sieht, umzäunt, ummauert sich eine kleine drein, und staffiert sie aus nach seinem Bilde.
Stand und Umstände mögen immer das, was den Menschen
umgeben muß, bestimmen, aber die Art, womit er sich bestimmen läßt, ist höchst bedeutend. Er kann sich gleichgültig einrichten wie andere seinesgleichen, weil es sich nun einmal so schickt; diese Gleichgültigkeit kann bis zur
Nachlässigkeit gehen. Ebenso kann man Pünktlichkeit und
Eifer darinnen bemerken, auch ob er vorgreift und sich der nächsten Stufe über ihm gleichzustellen sucht, oder
ob er, welches freilich höchst selten ist, eine Stufe zurück- zuweichen scheint. Ich hoffe, es wird niemand sein, der mir
verdenken wird, daß ich das Gebiet des Physiognomisten
also erweitere. Teils geht ihn jedes Verhältnis des Menschen
an, teils ist auch sein Unternehmen so schwer, daß man ihm
nicht verargen muß, wenn er alles ergreift, was ihn schneller und leichter zu seinem großen Zwecke führen kann.
Epigramme, Sprüche, Xenien usw.
Alle Bühnenwerke einschließlich Fragmente
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen