> Gedichte und Zitate für alle: Wilhelm Büchner -Fauststudien: Mephistopheles als Phorkyas-Fausts Vermählung mit Helena. (8)

2020-02-13

Wilhelm Büchner -Fauststudien: Mephistopheles als Phorkyas-Fausts Vermählung mit Helena. (8)

Fauststudien


I. Fausts Vermählung mit Helena.

Die Enttäuschung, die Faust am Kaiserhofe erlebt, geht unter in dem Streben nach einem neuen Ziel. ,, Unendliche Sehnsucht Fausts nach der einmal erkannten höchsten Schönheit." So wird schon in der ,, Skizze der Urgestalt" seine Stimmung von dem Dichter charakterisiert. Helena, für die Griechen der Inbegriff der Schönheit, soll aus dem Hades wirklich und lebendig hervortreten und sich mit ihm vermählen. Das Wunder gelingt mit Mephistos Hilfe. In der ältesten Skizze verbindet er sich mit einem Zauberer, der Kastellan eines Schlosses ist , und beobachtet als alte Schaffnerin die Ereignisse , die sich nach der Herbeizauberung der Helena in der Burg abspielen. Ein anderes Paralipomenon (84) zeigt uns Mephisto, wie er in der Maske einer ,, Ägypterin" mit der auf die Oberwelt zurückgekehrten Helena verhandelt, um ihr Interesse für Faust zu erregen. Die Szene spielt an einem freundlichen Ort des Rheintals. Da darin von Kartenschlagen und Händedeutung die Rede sein sollte, so dürfen wir im Einklang mit Goethes Sprachgebrauch unter der ,, Ägypterin" wohl eine zauberkundige Zigeunerin verstehen.

Auch in der ausgeführten Dichtung finden wir Mephisto überall geschäftig , Faust auf dem Weg zu dem neuen Ziel zu fördern. Diesem Ziel zuliebe bewirkt er, daß in Wagners Retorte ein Homunkulus entsteht.13 Solche Glasmännchen galten im Mittelalter als besonders scharfsinnig , als Werkzeuge zu großen Dingen. Berühmte Zauberer, wie Simon Magus, standen in dem Ruf einen dienstbaren Geist dieser Art in der Flasche mit sich zu führen. Der unter Mephistos Mitwirkung entstandene Homunkulus weiß alles , er weiß auch , wie Helena für Faust gewonnen werden kann. Mephisto wird nämlich von ihm darauf hingewiesen , daß gerade das Fest der klassischen Walpurgisnacht stattfinde, und dabei auch die durch ihre Zauberkraft berühmten thessalischen Hexen auf die Oberwelt zurückkämen. 

13. V. 6684, 7003 f., vgl. Eckermanns Bericht vom 16. Dezember

Mephisto, der den Wink sehr wohl versteht, macht sich einen Spaß, indem er so tut, als ob er nach den Reizen dieser gefährlichen Damen lüstern sei. In Wahrheit geht er in der Walpurgisnacht darauf aus, thessalische Hexen zu meistern und ihre Zauberkraft zur Gewinnung der Helena sich untertänig zu machen. Die Lamien, bei denen er sein Heil zuerst versucht, werden von Apuleius ausdrücklich als thessalische Hexen bezeichnet.14

 Mephisto erreicht schließlich seine Absicht durch Verwandlung in eine der Phorkyaden, die sich Goethe mit ,, nordischen Vampyren und Hexen nahe verwandt" dachte.15 Als „altthessalische Vettel",
wie der Chor sagt, übt er in der „Helena" wüsten Geisterzwang. 16 

14. Metamorphosen 1, 17.

15. Entwurf für eine Einleitung zur Helena, Pniower 450

16. Vgl. 99621". 7676. 6975. An der letzten Stelle hat „blöde" die Bedeutung ,, schwer von Begriff". Goethe sagte zu Eckermann , ein guter Kenner des Altertums werde sich bei den thessalischen Hexen etwas denken können. Ein anderes Mal, Mephistos nächste Absicht in der Walpurgisnacht sei die Phorkyaden aufzusuchen und sich von ihnen einen Zahn zu erbitten. (Tewes- Eckermann , Goethes Faust am Kaiserhotc XV.)

Die Verwandlung Mephistos in eine andere Person ist, wie erwähnt, schon in den ältesten Plänen für die Helenadichtung vorgesehen. Der Gedanke an Stelle der alten Schaffnerin oder der Zigeunerin die Phorkyas zu verwenden , ist Goethe wohl durch die Perseussage gekommen. Hier erscheinen die Phorkyaden als Hüterinnen geheimen Wissens. Perseus raubt ihnen Auge und Zahn und zwingt sie dadurch ihm den Weg zu den Nymphen zu weisen, welche die Flügelschuhe und den Tarnhut verwahren, deren er für das Gorgonenabenteuer bedarf. (Voß, Mythologische Briefe I Nr. 15.) Den Einfluß dieser Sage erkennt man bei der jetzigen Gestalt der Faustdichtung nicht mehr so deutlich wie an einem im Paralipomenon 99 mitgeteilten Entwurf: ,, — Sie gelangen endlich nach Thessalien. Sie finden die häßliche Enyo. Mephistopheles schaudert selbst. Überwirt't sich mit ihr. Doch lenkt ein wegen ihrer hohen Ahnen und wichtigen Einflusses. Er macht ein Bündnis mit ihr. Die offenbaren Bedingungen wollen nichts heißen, die geheimen Artikel desto mehr. Sie gelangen zur thessalischen Ursibylle. Wichtige Unterhandlung. Proserpina wird angegangen." — Man muß das wohl so verstehen, daß Mephisto von der Phorkyas (Enyo) , mit der er das Bündnis schließt , angewiesen wird , Faust zur Ursibylle zu führen, die dann den Verkehr mit der Unterwelt vermittelt. Bei der Herausgabe der ,, Helena" dachte Goethe noch daran, Mephisto bei der Herbeizauberung der Königin mitwirken zu lassen. In der Ankündigung der ,, Helena", welche einen Ersatz für die vorausgehenden noch fehlenden Akte bilden sollte, schreibt er: ,,wie nach mannigfaltigen Hindernissen den bekannten magischen Gesellen geglückt , die eigentliche Helena persönlich aus dem Orkus ins Leben heraufzuführen, bleibe vorderhand unausgesprochen". Aber schon damals hatte den Dichter der Gedanke beschäftigt, die Mitwirkung Mephistos auszuschalten. In einem Entwurf zu jener Ankündigung (Pniower 450) heißt es : „Dieses war nun nicht durch Blocksbergsgenossen, ebensowenig durch die häßliche, nordischen Hexen und Vampyren nahverwandte Enyo zu erreichen , sondern , wie in dem zweiten Teile alles auf einer höheren und edleren Stufe gefunden wird, in den Bergklüften Thessaliens unmittelbar bei dämonischen Sibyllen zu suchen, welche durch merkwürdige Verhandlungen es zuletzt dahin vermittelten, daß Persephone der Helena erlaubte, wieder in die Wirklichkeit zu treten." 

So ist es schließlich von dem Dichter in der klassischen Walpurgisnacht auch ausgeführt worden: Faust wird von Chiron zur Manto geführt , er bedarf weder Mephistos noch der Phorkyas. Aber die Verwandlung Mephistos in die Phorkyas ist trotzem beibehalten. Er erhält dadurch die Möglichkeit, auf die Ereignisse, die sich nach dem Erscheinen der Königin abspielen, einen maßgebenden Einfluß auszuüben. Es gilt vor allem Faust Helenas Gunst zu gewinnen, so daß sie sich zu einer Vermählung entschließt. Goethe bat in der Einleitung zur Helena darum, ,,die Art und Weise zu beachten, wie Faust es unternehmen dürfe, sich um die Gunst der weltberühmten königlichen Schönheit zu bewerben." Er kann es nicht unternehmen als Mann ohne Rang und Stand. Deshalb macht ihn Mephisto zum Herrn einer stolzen Burg und umgibt ihn mit dem entsprechenden Hofgesinde. Das ist natürlich alles Trug, Zauberblendwerk, hohler Schein und hat Realität nur in dem magischen Kreis, den zu ziehen es Mephisto beliebt. 

Wie Faust nach Griechenland kommt, zeigt uns der zweite Akt: auf Mephistos Zaubermantel, unter Führung des Homunkulus. Es kann also die in dem dritten Akte gemachte Angabe , er habe sich als Eroberer mit einem Ritterheer auf dem Peloponnes angesiedelt, nur eine Fiktion sein, die zur Täuschung Helenas gemacht wird. Der Chor deutet es auch einmal an, was von der ganzen Burgherrlichkeit zu halten ist. Er schildert die Schönheit der Knappen Fausts, das lockige Haar, die blendende Stirn, die pfirsichgleichen Wangen, und er fährt fort: 

„Gern biß ich hinein, doch ich schaudre davor. 
Denn in ähnlichem Fall, da erfüllte der Mund 
Sich gräßlich zu sagen mit Asche." 

In diese gespenstische Burg soll Helena gelockt werden, nachdem Faust ihre Rückkehr auf die Oberwelt bei Proserpina durchgesetzt hat. Sofort bei ihrer Ankunft verblendet Mephisto-Phorkyas die Königin, so daß sie glaubt, sie komme eben von Troja zurück. Ihr Gemahl Menelaus habe sie vorausgeschickt , sie weiß nicht zu welchem Los. Sein Betragen bei der Rückfahrt weissagt ihr nichts Gutes. Mephisto verstärkt diesen Wahn der Königin, indem er die Gespenster ihrer Begleiterinnen aus dem Orkus beschwört und ihnen die gleiche Vorstellung einflößt.

Die Suggestion , in deren Bann Helena und der Chor stehen , vermag die Erinnerung daran , daß sie schon einmal im Hades waren , nicht ganz zu verwischen. Die sich daraus ergebende Verwirrung der Königin steigert Mephisto mit der größten Geschicklichkeit durch die Erwähnung ihrer Entrückung nach Ägypten und der Vermählung, die sie aus dem Schattenreich herauf mit Achill gefeiert habe.17 Zu der Verwirrung gesellt er die Angst vor Menelaus : die Königin, so lügt er, soll nach der Heimkehr des Königs durch das Beil geopfert werden, den Chormädchen droht der Tod durch den Strang. Auf sein Händeklatschen erscheinen vermummte Zwerggestalten, welche die Vorbereitungen zu dem gräßlichen Opfer mit unheimlicher Behendigkeit treffen. Den entsetzten Frauen verrät Mephisto schließlich einen Ausweg. Helena soll vor Menelaus fliehen und sich dem fremden Burgherrn anvertrauen, der am oberen Eurotas eine unbezwingliche Feste hat. 

„Ich acht auf seine Großheit; ihm vertraut' ich mich."

17. Vgl. Paralip. 163) (Geist Ägypten. Geist Achill. Nichtigkeitsgefühl. Vermehrt) und Paralip. 173, 2.

 Die Königin zaudert, diesem Rat zu folgen. Aber ein im rechten Augenblick gegebenes Trompetensignal, angeblich das Zeichen von der Annäherung des Königs, gibt den Ausschlag. Zwar erklärt Helena nicht bestimmt , daß sie sich dem Burgherrn anvertraue, wie Mephisto von ihr verlangte, aber sie erklärt sich doch bereit ihm zur Burg zu folgen. 

Nachdem sie auf wunderbare Weise in die Burg entrückt ist, sucht Mephisto ihre Verbindung mit Faust zu beschleunigen. Zu diesem Zweck spiegelt er ihr einen Angriff des Menelaus auf die Burg vor. Man vernimmt Signale, Explosionen von den Türmen, Trompeten und Zinken, kriegerische Musik. Da schmiegt sich Helena ängstlich an ihren Beschützer. Das Ziel ist erreicht. 

Man hat es von jeher als einen vortrefflichen Kunstgriff bewundert, daß der Dichter die Schönheit Helenas durch die Entgegensetzung der urhäßlichen Phorkyas in ein helleres Licht stellt. Davon unabhängig ist die Frage, was Mephistopheles mit der Verwandlung in eine Phorkyas bezweckt. Denn niemand wird sagen, er verwandele sich in dieses Gespenst, um eine Kontrastfigur zu Helena abzugeben. Vielmehr hat er auch dabei, ebenso wie bei der Schaffung des Homunkulus, Fausts Verbindung mit Helena im Auge. Nachdem er durch die Verwandlung die Kräfte einer thessalischen Hexe angenommen, kann er in der Phantasmagorie des dritten Aktes den geheimen Einfluß ausüben, den der Chor als ,, wüsten Geisterzwang" empfindet. Auch ohne diesen ausdrücklichen Hinweis müßte man einen solchen Einfluß annehmen. Denn wenn Faust während der klassischen Walpurgisnacht in den Orkus hinabsteigt und Helenas Rückkehr auf die Oberwelt durchsetzt, so kann im dritten Akt der Glaube der Königin, sie komme aus dem trojanischen Krieg zurück , und alles was damit zusammenhängt, nur als ein ihr eingeflößter Wahn angesehen werden, und ebenso Fausts Eroberung des Peloponnes und seine Herrscherstellung nur als Vorspiegelung und magisches Blendwerk. 

Durch herrliche Irrtümer, reale und phantastische, soll sich Faust in dem zweiten Teile des Dramas durchwürgen. So schrieb Goethe selbst im Jahre 1820 über den Plan der Dichtung. Daß in Fausts Streben nach Helenas Besitz ein solcher Irrtum enthalten ist, lehrt das bittere Ende. Mephisto ist sich von vorn herein darüber klar. Seine skeptische Meinung über die Verbindung, die er selbst so eifrig betreibt, leuchtet aus den Worten hervor, die er dem schlafenden Faust zuruft : 

„Hier lieg', Unseliger! verführt 
Zu schwergelös'tem Liebesbande 
Wen Helena paralysiert, 
Der kommt so leicht nicht zu Verstande." 

Um zu begreifen, worin Fausts Irrtum besteht, ist es notwendig, den höheren Sinn des phantastischen Spieles festzustellen , der nach Goethes Meinung dem Eingeweihten nicht entgehen kann.18

18. Zu Eckermann 29. Jan. 1827.

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