Die Lepaden
Zur Morphologie. Zweiten Bandes zweites Heft. 1824
Die tiefgeschöpften und fruchtreichen Mitteilungen
des Herrn Dr. Carus sind mir von dem größten
Werte; eine Region nach der andern des grenzenlosen Naturreiches, in welchem ich zeit meines Lebens
mehr im Glauben und Ahnen als im Schauen und Wissen
mich bewege, klärt sich auf, und ich erblicke, was ich im
allgemeinen gedacht und gehofft, nunmehr im einzelnen,
und gar manches über Denken und Hoffen. Hierin finde ich nun die größte Belohnung eines treuen Wirkens, und
mich erheitert es gar öfters, wenn ich hie und da erinnert werde an Einzelnheiten, die ich wie im Fluge weg fing und
sie niederlegte in Hoffnung, daß sie sich einmal irgendwo lebendig anschließen würden, und gerade diese Hefte
sind geeignet, derselben nach und nach zu gedenken.
Einige Betrachtungen über die Lepaden bring ich dar,
wie ich sie in meinen Papieren angedeutet finde.
Jede zweischalige Muschel, die sich in ihren Wänden von
der übrigen Welt absondert, sehen wir billig als ein Individuum an; so lebt sie, so bewegt sie sich allenfalls, so nährt sie sich, pflanzt sich fort, und so wird sie verzehrt. Die Lepas anatifera, die sogenannte Entenmuschel, erinnert uns gleich mit ihren zwei Hauptdecken an eine
Bivalve; allein schnell werden wir bedeutet, hier sei von
einer Mehrheit die Rede: wir finden noch zwei Hülfschalen,
nötig, um das vielgliedrige Geschöpf zu bedecken; wir sehen an der Stelle des Schlosses eine fünfte Schale, um
dem Ganzen rückgratsweise Halt und Zusammenhang zu geben. Das hier Gesagte wird jedem deutlich, der Cuviers Anatomie dieses Geschöpfs:
Wir sehen aber hier kein isoliertes Wesen, sondern verbunden mit einem Stiele oder Schlauch, geschickt, sich irgendwo anzusaugen, dessen unteres Ende sich ausdehnt
wie ein Uterus, welche Hülle des wachsenden Lebendigen
sich sogleich von außen mit unerläßlichen Schaldecken
zu schützen geeignet ist.
Auf der Haut dieses Schlauches also finden sich an regelmäßigen Stellen, die sich auf die innere Gestalt, auf bestimmte Teile des Tieres beziehen, prästabilierte fünf Schalenpunkte, welche, sobald sie in die Wirklichkeit
eingetreten, sich bis auf einen bestimmten Grad zu vergrößern nicht ablassen.
Hierüber würde nun eine noch so lange Betrachtung der Lepas anatifera uns nicht weiter aufklären, dahingegen
die Beschauung einer andern Art, die zu mir unter dem
Namen Lepas polliceps gekommen, in uns die tiefsten allgemeinsten Überzeugungen erweckt. Hier ist nämlich,
bei derselben Hauptbildung, die Haut des Schlauches
nicht glatt und etwa nur runzlig wie bei jener, sondern
rauh, mit unzähligen kleinen, erhabenen, sich berührenden, rundlichen Punkten dicht besäet. Wir aber nehmen
uns die Freiheit zu behaupten, eine jede dieser kleinen Erhöhungen sei von der Natur mit Fähigkeit begabt, eine Schale zu bilden, und weil wir dies denken, so glauben
wir es wirklich bei mäßiger Vergrößerung vor Augen zu
sehen. Diese Punkte jedoch sind nur Schalen in der
Möglichkeit, welche nicht wirklich werden, solange der Schlauch sein anfängliches natürliches Engenmaß behält. Sobald aber am untern Ende das wachsende Geschöpf
seine nächste Umgebung ausdehnt, so erhalten sogleich
die möglichen Schalen einen Antrieb, wirklich zu werden;
bei Lepas anatifera in Regel und Zahl eingeschränkt.
Nun waltet zwar bei Lepas polliceps dieses Gesetz immer
noch vor, aber ohne Zahleinschränkung; denn hinter den
fünf Hauptpunkten der Schalenwerdung entstehen abermals eilige Nachschalen, deren das innere wachsende
Geschöpf bei Unzulänglichkeit und allzu früher Stockung
der Hauptschalen zu fernerer Hülfe des Zudeckens und
Sicherns bedarf.
Hier bewundern wir die Geschäftigkeit der Natur, den
Mangel der ausreichenden Kraft durch die Menge der
Tätigkeiten zu ersetzen. Denn da, wo die fünf Hauptschalen
nicht bis an die Verengerung reichen, entstehen sogleich
in allen durch ihr Zusammenstoßen gebildeten Winkeln
neue Schalreihen, die, stufenweise kleiner, zuletzt eine Art von winziger Perlenschnur um die Grenze der Ausdehnung bilden, wo sodann aller Übertritt aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit durchaus versagt ist.
Wir erkennen daran, daß die Bedingung dieses Schalwerdens der freie Raum sei, welcher durch die Ausdehnung des untern Schlauchteils entsteht, und hier, bei genauer Betrachtung, scheint es, als wenn jeder Schalpunkt
sich eile, die nächsten aufzuzehren, sich auf ihre Kosten
zu vergrößern, und zwar in dem Augenblick, ehe sie zum Werden gelangen. Eine schon gewordene, noch so kleine Schale kann von einem herankommenden Nachbar nicht aufgespeist werden, alles Gewordene setzt sich miteinander
ins Gleichgewicht. Und so sieht man das in der Entenmuschel regelmäßig gebundene, gesetzliche Wachstum
in der andern zum freiem Nachrücken aufgefordert, wo
mancher einzelne Punkt so viel Besitz und Raum sich anmaßt, als er nur gewinnen kann.
Soviel aber ist auch bei diesem Naturprodukt mit Bewunderung zu bemerken: daß selbst die gewissermaßen aufgelöste
Regel doch im ganzen keine Verwirrung zur Folge hat, sondern daß die in Lepas anatifera so löblich und gesetzlich
entschiedenen Hauptpunkte des Werdens und Wirkens sich auch am polliceps genau nachweisen lassen, nur daß man
sodann oberwärts von Stelle zu Stelle kleine Welten sieht, die sich gegeneinander ausdehnen, ohne hindern zu können, daß nach ihnen sich ihresgleichen, obgleich beengt
und im geringeren Maßstabe, bilden und entwickeln.
Wer das Glück hätte, diese Geschöpfe im Augenblick, wenn das Ende des Schlauches sich ausdehnt und die Schalenwerdung beginnt, mikroskopisch zu betrachten,
dem müßte eins der herrlichsten Schauspiele werden, die der Naturfreund sich wünschen kann. Da ich nach meiner
Art, zu forschen, zu wissen und zu genießen, mich nur an Symbole halten darf, so gehören diese Geschöpfe zu den
Heiligtümern, welche fetischartig immer vor mir stehen und durch ihr seltsames Gebilde die nach dem Regellosen strebende, sich selbst immer reglende und so im Kleinsten wie im Größten durchaus gott- und menschenähnliche Natur sinnlich vergegenwärtigen.
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