> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Nachträge z. Farbenlehre- Physiologe Farben (3)

2020-03-13

J.W.v.Goethe: Nachträge z. Farbenlehre- Physiologe Farben (3)




Physiologe Farben 

Diese sind es, die als Anfang und Ende aller Farbenlehre bei unserm Vortrag vorangestellt worden, die auch wohl nach und nach in ihrem ganzen Wert und Würde anerkannt und, anstatt daß man sie vorher als flüchtige Augenfehler betrachtete, nunmehr als Norm und Richtschnur alles übrigen Sichtbaren festgehalten werden. Vorzüglich aber ist darauf zu achten, daß unser Auge weder auf das kräftigste Licht noch auf die tiefste Finsternis eingerichtet; jenes blendet, diese verneint im Übermaß. Das Organ des Sehens ist, wie die übrigen, auf einen Mittelstand angewiesen. Hell, Dunkel und die zwischen beiden entspringenden Farben sind die Elemente, aus denen das Auge seine Welt schöpft und schafft. Aus diesem Grundsatz fließt alles übrige, und wer ihn auffaßt und anwenden lernt, wird sich mit unserer Darstellung leicht befreunden.



Hell und Dunkel im Auge bleibend 

Hell und Dunkel, welche, eins oder das andere, auf das Auge wirkend, sogleich ihren Gegensatz fordern, stehn vor allem voran. Ein dunkler Gegenstand, sobald er sich entfernt, hinterläßt dem Auge die Nötigung, dieselbe Form hell zu sehen. In Scherz und Ernst führen wir eine Stelle aus Faust an, welche hierher bezüglich ist. Faust und Wagner auf dem Felde, gegen Abend, spazierend bemerken einen Pudel.

Faust
Siehst du den schwarzen Hund durch Saat und Stoppel streifen'?
Wagner
Ich sah ihn lange schon, nicht wichtig schien er mir.
Faust
Betracht ihn recht! Für was hältst du das Tier?
Wagner
Für einen Pudel, der auf seine Weise
Sich auf der Spur des Herren plagt.
Faust
Bemerkst du, wie in weitem Schneckenkreise
Er um uns her und immer näher jagt?
Und irr ich nicht, so zieht ein Feuerstrudel
Auf seinen Pfaden hinterdrein.
Wagner
Ich sehe nichts als einen schwarzen Pudel;
Es mag bei Euch wohl Augentäuschung sein.

Vorstehendes war schon lange, aus dichterischer Ahnung und nur im halben Bewußtein geschrieben, als, bei gemäßigtem Licht, vor meinem Fenster auf der Straße, ein schwarzer Pudel vorbeilief, der einen hellen Lichtschein nach sich zog: das undeutliche, im Auge gebliebene Bild seiner vorübereilenden Gestalt. Solche Erscheinungen sind um desto angenehm-überraschender, als sie gerade, wenn wir unser Auge bewußtlos hingeben, am lebhaftesten und schönsten sich anmelden.



Weiteres Beispiel 

Wo ich die gleiche Erscheinung auch höchst auffallend bemerkte, war, als bei bedecktem Himmel und frischem Schnee die Schlitten eilend vorbeirutschten; da denn die dunklen Kufen weit hinter sich die klarsten Lichtstreifen nachschleppten. Niemand ist, dem solche Nachbilder nicht öfters vorkämen, aber man läßt sie unbeachtet vorübergehn; jedoch habe ich Personen gekannt, die sich deshalb ängstigten und einen fehlerhaften Zustand ihrer Augen darin zu finden glaubten, worauf denn der Aufschluß, den ich geben konnte, sie höchst erfreulich beruhigte.



Eintretende Reflexion 

Wer von dem eigentlichen Verhältnis unterrichtet ist, bemerkt das Phänomen öfters, weil die Reflexion gleich eintritt. Schiller verwünschte vielmal diese ihm mitgeteilte Ansicht, weil er dasjenige überall erblickte, wovon ihm die Notwendigkeit bekannt geworden.



Komplementare Farben 

Nun erinnern wir uns sogleich, daß ebenso wie Hell und Dunkel auch die Farben sich ihrem Gegensatze nach unmittelbar fordern, so daß, nämlich im Satz und Gegensatz, alle immer zugleich enthalten sind. Deswegen hat man auch die geforderten Farben, nicht mit Unrecht, komplementäre genannt, indem die Wirkung und Gegenwirkung den ganzen Farbenkreis darstellt, so daß, wenn wir, mit den Malern und Pigmentisten, Blau, Gelb und Rot als Hauptfarben annehmen, alle drei in folgenden Gegensätzen immer gegenwärtig sind:
Gelb
Blau
Rot

Orange
Violett
Grün

Von diesen Phänomenen bringen wir einige in Erinnerung besonderer Umstände wegen, die sie merkwürdig machen.



Leuchtende Blumen

Sehr erfreulich ist es, in den Stockholmer Abhandlungen, Band XXIV, Seite 291, zu lesen: daß ein Frauenzimmer das Blitzen der rotgelben Blumen zuerst entdeckt habe, denn dort heißt es: „Die feuergelben Blumen des Tropäolum majus L. blitzen jeden Abend vor der Dämmerung, wie solches die Fräulein Tochter des Ritters Carl von Linne, Elisabeth Christina, auf ihres Herrn Vaters Landgute, Hamarby, eine Meile von Upsala, in Gesellschaft anderer, in dem Garten beobachtet hat. Dieses Blitzen besteht in einem plötzlichen Hervorschießen des Glanzes, daß man sich es nicht schneller vorstellen kann."

Die Blumen, an welchen, außer dem Tropäolum, die gleiche Erscheinung bemerkt wurde, waren die Calendel, Feuerlilie, Taygetes und manchmal die Sonnenblume. Mit vollem Rechte läßt sich aber der orientalische Mohn hinzutun, wie ich in meinem Entwurf der Farbenlehre § 54 umständlich erzählt habe und solches hier einrücke, da wenigen meiner Leser jenes Buch zur Hand sein möchte.

,,Am 19. Juni 1799, als ich, zu später Abendzeit, bei der in eine klare Nacht übergehenden Dämmerung, mit einem Freunde im Garten auf und ab ging, bemerkten wir sehr deutlich an den Blumen des orientalischen Mohns, die vor allen andern eine mächtig-rote Farbe haben, etwas Flammenähnliches, das sich in ihrer Nähe zeigte. Wir stellten uns vor die Stauden hin, sahen aufmerksam darauf, konnten aber nichts weiter bemerken, bis uns endlich bei abermaligem Hin- und Wiedergehen gelang, indem wir seitwärts darauf blickten, die Erscheinung so oft zu wiederholen, als uns beliebte. Es zeigte sich, daß es ein physiologisches Farbenphänomen, und der scheinbare Blitz eigentlich das Scheinbild der Blume, in der geforderten blaugrünen Farbe sei."



Weitergeführt und ausgelegt 

Ist uns nun aber einmal die Ursache dieses Ereignisses bekannt, so überzeugt man sich, daß unter gar vielen andern Bedingungen dasselbige hervorzubringen sei. Am Tage in dem blumenreichen Garten auf und ab gehend, bei gemäßigtem Licht, sogar beim hellen Sonnenschein, wird der aufmerksame Beobachter solche Scheinbilder gewahr; nur, wenn man die Absicht hat sie zu sehen, fasse man dunkle Blumen ins Auge, welche den besten Erfolg gewähren. Die Purpurfarbe einer Päonie gibt im Gegensatz ein helles Meergrün; das violette Geranium ein gelblich grünes Nachbild; einen dunklen Buxbaumstreifen der Rabatteneinfassung kann man, durch Abwendung des Auges, auf den Sandweg, hell violett projizieren und mit einiger Übung sich und andere von der Konstanz dieses Phänomens überzeugen. Denn ob wir gleich ganz unbewußt und unaufmerksam diese Erscheinungen vielleicht am lebhaftesten gewahr werden, so hängt es doch auch von unserm Willen ab, dieselben vollkommen in jedem Augenblick zu wiederholen.



Wechselseitige Erhöhung 

Wenn nun Hell und Dunkel, so wie die obgenannten sich fordernden Farben, wechselseitig hervortreten, sobald nur eine derselben dem Auge geboten wird, so folgt daraus, daß sie sich wechselseitig erhöhen, wenn sie nebeneinander gestellt sind. Was Hell und Dunkel betrifft, so gibt folgender Versuch eine überraschend-angenehme Erscheinung: Man habe graues Papier von verschiedenen aufeinander folgenden Schattierungen, man klebe Streifen desselben, der Ordnung nach, nebeneinander; man stelle sie vertikal, und man wird finden: daß jeder Streifen an der Seite, wo er ans Hellere stößt, dunkler, an der Seite, mit der er ans Dunkle stößt, heller aussieht; dergestalt daß die Streifen zusammen dem Bilde einer kannelierten Säule, die von einer Seite her beleuchtet ist, völlig ähnlich sehen.




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