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2020-03-26

J.W.v.Goethe: Versuch einer allgemeinen Knochenlehre - VI. Das Stirnbein+VII.. Das Keilbein




VI. Das Stirnbein


Indem wir die Stirnbeine mehrerer Tiere vor uns nehmen, sie betrachten und einen allgemeinen Charakter des Stirnknochens anzugeben suchen: so sehen wir abermals, daß wir uns von dem Begriff, den uns der menschliche Stirnknochen eingeprägt, völlig entfernen müssen. 

Zuvörderst ist zu bemerken, daß dieser Knochen allerdings ein gepaarter Knochen ist und jeder Teil und jede Hälfte vor sich betrachtet werden kann. 

Nehmen wir einen solchen einzelnen Stirnknochen vor uns und betrachten ihn von innen im Durchschnitt: so sehen wir, daß dieser Knochen inwendig zwei Kammern bildet, wovon die hintere die lobos cerebri anteriores die vordere das Labyrinth des Siebbeins bedeckt. 

Durch den Grat des Siebbeins und durch die Siebfläche werden obgedachte beide Kammern auf die merkwürdigste Weise gebildet. 

Man kann nämlich bei dem Stirnbein ganz deutlich das innere und äußere Knochenblatt und zwischen beiden die diploe bemerken: der Grat oder der Rücken des Siebbeins, welcher unten mit dem osse sphenoideo verbunden ist, setzt sich an das innere Knochenblatt des Stirnbeins an, hält dasselbe fest und bildet gegen die Nase zu ein Gewölbe, welches die hintere Kammer von der vordem absondert. Indem nun aber das äußere Knochenblatt in seiner geraden Richtung fortwächst, entstehen mehr oder weniger große sinus frontales. Vor und unter dem Grate des Siebbeins steigt das untere Knochenblatt wieder in die Höhe, indem es an dem äußeren Ende der Stirne, gegen die Nase zu, mit dem oberen Knochenblatte sich wieder verbindet. Auf diese Weise also entstehen die sinus frontales indem das sowohl hinterwärts als vorwärts dem oberen Knochenblatt verbundene untere Knochenblatt von dem Grate des Siebbeins festgehalten und von dem oberen Knochenblatte getrennt wird. Diese Verbindung des ossis ethmoidei mit dem unteren Knochenblatte geschieht bald hinter der Hälfte des ganzen Gewölbes des Stirnknochens, oder vor der Hälfte. In dem ersten Falle wird natürlich die hintere Kammer, in diesem die vordere Kammer kleiner, und in jenem nimmt besonders der Labyrinth einen sehr großen Raum ein. 

Wir werden also bei einem jeden Stirnknochen, welchen wir vor uns nehmen, zuerst das Verhältnis dieser beiden Kammern, des Grates des Siebbeins, der daher entstehenden sinum frontalium anteriorum betrachten und beschreiben. Die zweite merkwürdige Wirkung auf das Stirnbein hat die Verbindung desselben mit dem Wangenbein. Je mehr das Stirnbein mit dem Wangenbeine wirklich verbunden ist, je weniger Ligament zwischen beiden sich befindet, desto mehr Knochenmaterie hat der Stirnknochen hergeben müssen, um dinprocesstim zygomaticum zu bilden, desto mehr hat es Gewalt erlitten, desto mehr Widerstand auszuhalten gehabt. Darum hier gerade der umgekehrte Fall entstehet und das äußere Knochenblatt angezogen wird, indessen das Innere auch durch seinen bestimmten Wachstum an das Gehirn anschließt. So entstehen hier durch die sinus fronitales laterales welche einen hohlen Raum über den Augen bilden und bis in den processum zygomaticum ossis frontis sich erstrecken. 

Die dritte Bemerkung, welche wir bei einem Stirnknochen, der vor uns liegt, zu machen haben, ist: ob die Nachbarschaft der Augen Einfluß auf dessen innere Fläche habe oder nicht. In dem Falle, daß die Nähe der Augen Einfluß auf den Stirnknochen hat, geschieht solches immer da, wo derselbe mit dem Flügel des Keilbeins in Verbindung stehet. Es wird die ganze Fläche des Stirnbeins mehr oder weniger einwärts gedruckt und der freie Wachstum des Keilbeinflügels mehr oder weniger gehindert. Zu gleicher Zeit wirkt auch dieser Druck auf die beiden Seitenflächen des Siebbeins; sie werden mehr zusammengedruckt, und es entstehet eine mehr oder weniger trichterförmige Gestalt, welche von der konvexen Gegenseite der Augenhöhlen gebildet wird, in deren Grunde das sehr zusammen geengte Siebbein liegt. Es gibt mehrere Tiere, auf deren inneres Stirngewölbe die Nachbarschaft der Augen keinen Einfluß hat, bei denen die vordem lobi des Gehirns sich frei ausbreiten, die hintern Flügel des vordem Keilbeins frei fortwachsen und das Siebbein unvertieft auf einer freien Fläche der hintern Stirnkammer liegt. Dieser Fall ist deutlich an dem Pferdeschädel zu sehen, bei welchem Tiere die Augen weit vorwärts und weit auseinander liegen. Der entgegengesetzte Fall, dessen wir oben erwähnt, wo das Siebbein sehr geengt auf den Boden eines Trichters zusammengedrängt ist, zeigt sich am Affen. Mehr Beispiele und mittlere Bestimmungen wird künftig die ausübende Vergleichung vorlegen. 

Noch eine merkwürdige Verbindung ist die des Stirnbeins mit dem hintern Flügel des Keilbeins, von welcher aber erst in der Folge gesprochen werden kann. Die Scheitelbeine stoßen an dasselbe gleichfalls an. Auch hiervon kann das Nötige erst in der Folge beigebracht werden. Die Beschreibung der allgemeinen Gestalt dieses Knochens läßt sich nach dem Vorhergehenden leicht ausführen. Es ist das Stirnbein eine Knochenschale, deren beide Blätter auf eine merkwürdige Weise voneinander getrennt, und deren Bildung durch die daran grenzenden festen, durch die daran rührenden weichen Teile auf die mannigfaltigste Weise verändert wird. Durch diese beiden Bestimmungen unterscheiden sie sich sehr von den Scheitelbeinen, welche zwar niemals Knochenhöhlen enthalten, und zwar von ihren Nachbarknochen auch determiniert, aber nicht so mannigfaltig verändert werden. Der Rücken des Siebbeins und der sich damit verhindende Processus falcifonnis bilden die innere und hintere Kammer, auf welche die Nachbarschaft der Augen mehr oder weniger Einfluß hat. Die vordere Kammer, welche durch den Labyrinth des Siebbeins ausgefüllt wird, wie auch die sintis frontales bilden sich dadurch von selbst. Die vordere Kammer bleibt entweder in ihrer ganzen Ausdehnung wie bei den meisten Tieren, oder sie wird auch durch die Nachbarschaft der Augen mehr oder weniger zusammengedruckt. Die stärkste Disproportion zwischen beiden Kammern ist bei dem Menschen, wo die innere Kammer völlig überwiegend, die äußere gänzlich aus ihrer Lage gebracht und völlig Null wird, so wie auch die Stirnhöhlen, ohne Vorausschickung jener Betrachtung und Beobachtung, am Menschen nicht begriffen werden können.

VII. Das Keilbein 

Wie sonderbar die Gestalt dieses Knochens, wie unbequem die Beschreibung desselben, wie schwer dessen Verbindung mit andern Knochen zu fassen, ist allgemein bekannt. Und wir würden bei Betrachtung der Tiergestalt noch in größere Verwirrung geraten, wenn uns die Natur nicht selbst das Rätsel aufklärte.

Es teilt sich nämlich schon bei dem Menschen dieser Knochen in mehrere Teile: es sondern sich nämlich die Seitenteile, welche wir unter den Namen der großen Flügel und der schwertförmigen Fortsätze kennen, von dem Körper ab; und es scheint also dieser Knochen aus fünf Teilen zu bestehen. Allein es bleibt uns auch noch so die eigentliche Beschaffenheit desselben verborgen, denn wir können nicht bemerken: daß der Körper auch eigentlich aus zwei Teilen besteht. 

Auf eine Vermutung, daß dem also sei, können wir gebracht werden, wenn wir den Körper der Länge nach in zwei Teile sägen, da wir denn eine Scheidewand finden, welche den hintern Teil des Knochens von dem vordem trennt. Allein diese Scheidewand ist so dünn, der Körper so genau zu einem Teile verbunden, daß wir kaum eine Vermutung fassen können. Glücklicherweise gibt uns die Natur an den Tieren den Aufschluß. Wir finden an jungen Tieren nicht allein den Körper dieses Knochens in zwei Teile getrennt, welche zusammen durch einen Knorpel verbunden sind, sondern wir können auch dessen übrige Teile weit entfalteter bemerken. Ja es verwächst sogar bei älteren Tieren der Körper des hinteren Keilbeins oft mit der parte pasilare des Hinterhauptbeins, wenn der Körper desselben noch von dem Körper des vorderen Keilbeins leicht zu trennen ist. Ich behalte hier abermals den Namen des Keilbeins bei, um keine neue Terminologie unnötigerweise beizubringen; ich bin nur genötiget, zwei dieser Knochen zu setzen, welche noch immer, wie zwei aneinander gedrängte Keile, den Grund der Hirnhöhle auseinanderhalten. Nach der von mir einmal ergriffenen und zu rechtfertigenden Methode beschreibe ich hier nur das vordere Keilbein, weil dieses eigentlich seinen vornehmsten Bezug auf die Stirne hat. Es bestehet dieses Keilbein aus einem Körper, welcher im allgemeinen mit dem Körper des Wirbelbeins verglichen werden kann. Es ist derselbe, wenn man in die Quer durchschneidet, dreieckicht, anstatt daß der Körper des hinteren Keilbeins mehr viereckicht erscheint; beide haben oben, wo das Gehirn liegt, ihre größten Flächen, allein der Körper des vordern ist unten mehr zugespitzt als flach, und nähert sich schon der Gestalt der Pflugschar, deren hinterer Teil schon an ihn anschließt. 

Auf seiner obern Fläche hat dieser Körper jederzeit die mehr oder weniger zusammengedrängten foramiua optica, und man sieht daraus, daß er in dem Teile des menschlichen ossis sphcnoidei begriffen ist, an welchen die ricessus clinoidei befestigt sind. Nach vornen verbindet sich die Fläche des Körpers auf mancherlei Weise mit dem osse ethmoideo. 

Über  foraminibus opticis breiten sich zu beiden Seiten ein paar Flügel ober- und seitwärts aus. In ihrer Ausbreitung nach vornen oder hinten wechseln sie ab, worüber in der Folge speziellere Betrachtungen mitgeteilt werden sollen. Es sind dieses die größten Flügel, gewöhnlich an beiden Keilbeinen. 

Sie verbinden sich vorzüglich mit dem Stirnknochen mit ihren vordem und Seitenrändern, und stoßen hinten mehr oder weniger mit den Flügeln des hintern Keilbeins zusammen. Sie helfen den Rand bilden, an den sich vornen das Siebbein anlegt; ingleichen bilden sie mit den hintern Flügeln cessuravi orbitalem anteriorem. Sie dienen den vordem lobis cerebri mehr oder weniger zum Bette, man sieht also, daß sie in allem den Platz der kleinen Flügel oder der sonst sogenannten schwertförmigen Fortsätze einnehmen. 

Von dem Körper und zugleich von dem vorderen unteren Ende dieser Flügel gehen ein paar Fortsätze ab, welche, so mannigfaltige Gestalten sie auch bei verschiedenen Tieren annehmen, doch meistens eine Art Höhlung gegen das Siebbein zu bilden helfen. Ich würde sie Processus anteriores oder ethmoideos ossis prim cuneiformis nennen. 

An den Körper dieses Beins legen sich nach unten und hinten ein paar Fortsätze an, welche sehr verschiedene Gestalten annehmen, immer aber darin miteinander übereinkommen, daß sie eine flache Gestalt haben und sich an den Körper des Knochens nur wenig anlegen, sich jederzeit über den Körper des hintern Keilbeins herüber schieben, sich mit dem Gaumenbeine verbinden und den hamulum pterygoidei bilden, woraus man sieht, daß sie die inneren Fortsätze an dem menschlichen Keilbein vertreten. Es ist in der Folge über diesen Teil Verschiedenes nachzuholen. 

Also hilft dieses vordere Keilbein die Stirn nach unten und hinten zu [abschließen]; seine Verbindungen sind sehr leicht zu sehen, seine Gestalt ist einfach; und auch, selbst mit der menschlichen Bildung verglichen, klärt diese Einteilung, welche uns die Natur anzeigt, eher auf, als daß sie Verwirrung machen sollte. 

Betrachten wir das von uns bisher aufgeführte Gebäude im Ganzen, so können wir fortfahren, die Teile desselben untereinander zu vergleichen und die bisher nur nebeneinander gestellten Dinge uns durch die lebendige Kraft des Urteils auch lebendiger zu machen. 

Bei unserer ersten Zusammenstellung fanden wir drei Knochen, welche von einerlei Art schienen und sich untereinander stellen ließen. So finden wir, daß auch gegenwärtig die ferneren Teile sich untereinander vergleichen lassen. Es haben nämlich die Stirn- und Nasenknochen das untereinander gemein, daß sie flache Knochen und Decken der untern Teile sind, ob sie gleich ihrer Größe nach kaum Vergleichung noch zuzulassen scheinen. 

Der Labyrinth und die Muscheln sind [ihrem] Bau, Gewebe und Bestimmung nach verwandt. 

Das vordere Keilbein läßt sich mit dem Siebbein gewissermaßen vergleichen, wie schon geschehen ist und noch weiter ausgeführt werden wird. Wir machen hier einen Abschnitt, der sich sowohl dem Gehäuse nach als nach dem, was darin enthalten, rechtfertigen läßt. 

Auf dem vordem Teil des Keilbeins, auf dem Siebbein, unter der Decke des Innern Stirnknochengewölbes ruhen die vordern lobi des Gehirns. Von eben dieser Gegend entspringen die vorzüglichsten Nerven der vordem Sinne, und wir können uns nunmehr an den zweiten Abschnitt des Schädels wenden, welcher einfach, leichter zu denken und vor- und rückwärts zu verbinden ist.

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