Zweiter Versuch
[Handschriftliches Fragment, vielleicht schon 1790]
Einleitung
1. So entfernt die Gestalt der organisierten Geschöpfe voneinander ist, so finden wir doch, daß sie gewisse Eigenschaften miteinander gemein haben, gewisse
Teile miteinander verglichen werden können. Recht gebraucht, ist dieses der Faden, woran wir uns durch das Labyrinth der lebendigen Gestalten durchhelfen, so wie uns der Mißbrauch dieses Begriffes auf ganz falsche Wege
führt und uns in der Wissenschaft eher rück- als vorwärts
bringt.
2. Da alle Geschöpfe, welche wir lebendig nennen, darin übereinkommen, daß sie die Kraft haben, ihresgleichen
hervorzubringen, so suchen wir mit Recht die Organe der Zeugung, wie durch alle Geschlechter der Tiere, so auch
im Pflanzenreich auf; wir finden sie auch bis fast auf der
untersten Stufe dieses letzten Reiches, wo sie noch immer
die Aufmerksamkeit der Beobachter beschäftigen.
3. Außer dieser allgemeinsten Eigenschaft finden wir, daß
andere, die zunächst daran grenzen, gleichfalls eine Zusammenstellung leiden. So mag die Samenkapsel mit dem
Eierstocke, der Same mit dem Ei allenfalls noch im allgemeinen verglichen werden. Gehen wir aber nun weiter und wollen die Teile des Samens einer Pflanze mit den
Teilen eines Vogeleis oder gar einer tierischen Frucht vergleichen, so entfernen wir uns so weit von der Wahrheit,
wie mir es dünkt, als wir im Anfange derselben nahe waren, und so sehr eine Pflanze von einem Tier verschieden ist, muß auch schon der Same der Pflanze von dem Ei oder
Embryon entschieden sein.
4. Es sind daher die Vergleichungen der Kotyledonen mit dem Mutterkuchen, der verschiedenen Schalen des Samens
mit den Häutchen der tierischen Geburten nur scheinbar und um desto gefährlicher, als man dadurch abgehalten
wird, genauer die Natur und Eigenschaft solcher Teile kennen zu lernen. Es war indessen natürlich, daß man diese Vergleichung zu
weit trieb, da wirklich die Natur uns einigen Anlaß dazu
gibt; ebenso hat man das Gewebe, welches die hohlen
Röhren mancher Pflanze ausfüllt, vielleicht nicht mit Unrecht, das Mark genannt und solches mit dem Marke der
tierischen Knochen verglichen. Allein man zog die falsche Folgerung, daß das Mark ein wesentlicher Teil des Pflanzenkörpers sei, man suchte, man fand es da, wo es nicht existierte; man gab ihm Kräfte und Einfluß, die es nicht hatte, indem man sich an dem Begriffe des Markes in den menschlichen Knochen festhielt, welches auch durch die Imagination der Poeten, deren Terminologie sich in der Wissenschaft einschlich, zu einer höhern Würde gelangte, als es wohl nicht verdient hatte. Siehe Versuch über die Gestalt der Tiere.
5. Man ging noch weiter, und indem man zur Bequemlichkeit der Einbildungskraft und zur Begünstigung gewisser schwärmerischer Religionsideen alles auf eins zurückführen und alles in einem jeden finden wollte, sah man in der Pflanze Muskeln, Adern, lymphatische Gefäße,
Eingeweide, einen Schlund, Glandeln, und was nicht sonst. Siehe Agricola, Agriculture parfaite. Es sind zwar diese falschen Beobachtungen nach und nach
durch genauere, besonders durch mikroskopische Beobachtungen außer Kurs gebracht, allein es ist immer noch
manches übrig, welches zum Besten der Wissenschaft wegzuschaffen wäre.
6. Es ist hier wohl am Platze, anderer Gleichnisse zu gedenken, da man nicht sowohl die Naturreiche unter sich, sondern mit Gegenständen der übrigen Welt vergleicht,
wodurch man, durch eine witzige Ausweichung, der Physiologie der drei Reiche großen Schaden tut, wie z. E. Linne die Blumenblätter Vorhänge des hochzeitlichen
Bettes nennt, welches artige Gleichnis einem Poeten Ehre
machen würde. Allein, die Entdeckung des wahren physiologischen Verhältnisses eines solchen Teiles wird dadurch,
wie durch die so bequeme als falsche Beherzigung der Zwecke nach außen gänzlich verhindert. Der Hauptbegriff, welcher, wie mich dünkt, bei jeder Betrachtung eines lebendigen Wesens zum Grunde liegen
muß, von dem man nicht abweichen darf, ist, daß es mit
sich selbst beständig, daß seine Teile in einem notwendigen Verhältnis gegen sich selbst stehn, daß nichts Mechanisches gleichsam von außen gebauet und hervorgebracht werde, obgleich Teile nach außen zu wirken und
von außen Bestimmung annehmen.
Siehe Versuch über die Gestalt der Tiere.
7. Es liegt dieser Begriff in dem ersten Versuche, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, zum Grunde,
ebenso werde ich ihn nie in der gegenwärtigen Abhandlung außer Augen lassen, so wenig als in irgendeiner
Betrachtung, welche ich über ein lebendiges Wesen anzustellen habe. Doch habe ich mich bei einer andern Gelegenheit schon erklärt, daß hier nicht die Frage sei, ob
die Vorstellungsart, der Endzweck manchen Menschen
bequem, ja unentbehrlich sei, ob sie nicht, aufs Sittliche angewendet, gute und nützliche Wirkungen haben könnte,
sondern ob sie den Physiologen der organisierten Körper
förderlich oder hinderlich sei. welches letztere ich mir zu behaupten getraue und deswegen sie selbst zu meiden und
andere davor zu warnen für Pflicht halte, weil man, wie
Epiktet sagt, eine Sache nicht da anfassen soll, wo ihr die Handhabe fehlt, sondern vielmehr da, wo die Handhabe uns das Anfassen erleichtert. Es kann sich auch hier der Naturforscher beruhigen und seinen Weg desto ungestörter fortgehen, da die neuere philosophische Schule nach der von ihrem Lehrer vorgezeichneten Anleitung
(siehe Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft, besonders § [82]) diese Vorstellungsart kurrenter zu machen
sich zur Pflicht rechnen wird, da denn der Naturforscher
in der Folge die Gelegenheit nicht versäumen darf, auch
ein Wort mit zu reden.
8. Ich habe in dem ersten Versuche zu zeigen mich bemühet, daß die verschiedenen Teile der Pflanze aus einem
völlig ähnlichen Organ entspringen, welches, ob es gleich
im Grunde immer dasselbe bleibt, durch eine Progression,
modifiziert und verändert wird.
9. Diesem Grundsatze liegt ein anderes Prinzip zum Grunde, daß nämlich eine Pflanze die Kraft hat, sich durch bloße
Fortsetzung völlig ähnlicher Teile ins Unendliche zu vermehren, wie ich denn ein Weidenreis abschneiden, dasselbe pflanzen, den nächsten Trieb wegschneiden und
wieder pflanzen und so ins Unendliche fortfahren kann. Ebenso, wenn ich einen Stolonem abreiße und pflanze, so gibt mir derselbe, ohne zu blühen, neue Stolones und
so infinitum fort pp.
10. Der zweite hierauf gegründete Erfahrungssatz ist der: daß das Wachstum, welches über der Erde, gegen die Luft
zu, sich fortsetzt, nicht immer in einem gleichen Schritte vorwärtsgehen kann, sondern die Gestalt nach und nach
verändern und die Teile anders bestimmen muß. Dieses
ist die regelmäßige vorwärtsschreitende Metamorphose der
Pflanzen, welche den Menschen am meisten interessiert, indem er gewöhnlich auf Blumen und Früchte, welche
dadurch entstehen, am aufmerksamsten ist.
11. Jene Betrachtungen fortzusetzen, durch Beispiele zu
erläutern, durch Kupfer anschaulicher zu machen, durch
Schriftsteller ihnen mehr Autorität zu geben, ist die Absicht des gegenwärtigen zweiten Versuchs, wo denn auch
dasjenige, was aus der ganzen Pflanzenkunde sich zunächst
anschließt, herbeizuführen und der Weg zu weiteren Fortschritten zu bereiten sei.
Epigramme, Sprüche, Xenien usw.
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