> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Gedichte letzter Hand- Lieder: Sehnsucht (68)

2020-06-29

J.W.v.Goethe: Gedichte letzter Hand- Lieder: Sehnsucht (68)

Goethe Gedichte


Sehnsucht 

Was zieht mir das Herz so? 
Was zieht mich hinaus? 
Und windet und schraubt mich 
Aus Zimmer und Haus? 
Wie dort sich die Wolken 
Um Felsen verziehn! 
Da möcht ich hinüber, 
Da möcht ich wohl hin! 

Nun wiegt sich der Raben 
Geselliger Flug; 
Ich mische mich drunter 
Und folge dem Zug. 
Und Berg und Gemäuer 
Umfittichen wir; 
Sie weilet da drunten; 
Ich spähe nach ihr. 

Da kommt sie und wandelt; 
Ich eile sobald, 
Ein singender Vogel, 
Zum buschigen Wald. 
Sie weilet und horchet 
Und lächelt mit sich: 
»Er singet so lieblich 
Und singt es an mich.« 

Die scheidende Sonne 
Verguldet die Höhn; 
Die sinnende Schöne, 
Sie läßt es geschehn. 
Sie wandelt am Bache 
Die Wiesen entlang, 
Und finster und finstrer 
Umschlingt sich der Gang; 

Auf einmal erschein ich, 
Ein blinkender Stern. 
»Was glänzet da droben, 
So nah und so fern?« 
Und hast du mit Staunen 
Das Leuchten erblickt; 
Ich lieg dir zu Füßen, 
Da bin ich beglückt! 

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