> Gedichte und Zitate für alle: J.W.v.Goethe: Nachlese: Triumph der Tugend - Zwote Erzählung (9)

2020-07-29

J.W.v.Goethe: Nachlese: Triumph der Tugend - Zwote Erzählung (9)

        


   
                            Triumph der Tugend                         

    Zwote Erzählung 

Ich fand mein Mädchen einst allein 
Am Abend so, wie ich sie selten finde. 
Entkleidet sah ich sie; dem guten Kinde 
Fiel es nicht ein, 
Daß ich so nahe bei ihr sein, 
Neugierig sie betrachten könnte. 
Was sie mir nie zu sehn vergönnte, 
Des Busens volle Blüten wies 
Sie dem verschwiegnen, kalten Spiegel, ließ 
Das Haar geteilt von ihrem Scheitel fallen, 
Wie Rosenzweig' um Knospen, um den Busen wallen. 

Ganz außer mir vom niegefundnen Glück 
Sprang ich hervor. Jedoch wie schmollte 
Sie, da ich sie umarmen wollte. 
Zorn sprach ihr furchtsam wilder Blick, 
Die eine Hand stieß mich zurück, 
Die andre deckte das, was ich nicht sehen sollte. 
»Geh!« rief sie, »soll ich deine Kühnheit dir 
Verzeihen; eile weg von hier.« 

Ich fliehn? Von heißer Glut durchdrungen - 
Ohnmöglich - Diese schöne Zeit 
Von sich zu stoßen! Die Gelegenheit 
Kömmt nicht so leicht zurück. Voll Zärtlichkeit 
Den Arm um ihren Hals gezwungen, stand 
Ich neben ihrem Sessel, meine warme Hand 
Auf ihrem heißen Busen, den zuvor 
Sie nie berühret. Hoch empor 
Stieg er und trug die Hand mit sich empor, 
Dann sank mit einem tiefen Atemzug er wieder 
Und zog die Hand mit sich hernieder. 
So stand Dianens Jäger mutig da, 
Triumph gen Himmel hauchend, als er sah, 
Was ungestraft kein Sterblicher noch sah. 

Mein Mädchen schwieg und sah mich an; ein Zeichen, 
Die Grausamkeit fing' an, sich zu erweichen, 
Geschmolzen durch die Fühlbarkeit. 
O Mädchen, soll mit list'gen Streichen 
Kein Jüngling seinen Zweck erreichen, 
So müßt ihr niemals ruhig schweigen, 
Wenn ihr mit ihm alleine seid. 

Mein Arm umschlang mit angestrengten Sehnen 
Die weiche Hüfte. Fast - fast - doch des Sieges Lauf 
Hielt schnell ein glühnder Strom von Tränen 
Unwiderstehlich auf. 

Sie stürzt' mir um den Hals, rief schluchsend: »Rette 
Mich Unglückselige, die niemand retten kann 
Als du, Geliebter. Gott! ach hätte 
Dir nie dies Herz gebrannt! Ich sah dich, da begann 
Mein Elend; bald, bald ist's vollendet. 
O Mutter, welchen Lohn 
Gab ich den treuen Lehren, die du mir verschwendet, 
Dies Herz zu bilden! Mußte sich dein Drohn 
So fürchterlich erfüllen: 
Würd ich eine Tat 
Vor dir verhüllen, 
Deinen Rat 
Verachten, selbst mich weise dünken, 
Würd ich versinken. 
Ich sinke schon; o rette mich!                              - 
Sei stark, mein Freund, o rette dich! 
Wir beide sind verloren - Freund, Erbarmen!« 

Noch hielt ich sie in meinen Armen. 
Sie sah voll Angst rings um sich her. 
Wie Wellen auf dem Meer, 
Des Grund erbebte, schlug die Brust, dem Munde 
Entrauscht' ein Sturm. Sie seufzte: »Unschuld - ach, wie klang 
Dies Wort so lieblich, wenn in mitternächt'ger Stunde 
An meinem Haupt es mir mein Engel sang. 
Jetzt rauscht's wie ein Gewitterton vorüber.« 
Sie rief's. Es ward ihr Auge trüber, 
Sah sternenan. Sie betet': »Sieh 
Aus deiner Unschuldswohnung, Herr, auf mich     herüber, 
Erbarme dich! Entzieh Der reißenden Gefahr mich. Du 
Vermagst's allein; der ist zu schwach dazu, 
Der Mensch, zu dem ich vor dir betete.« 

Naht euch, Verführer, deren Wange nie 
Von heil'gem Graun errötete, 
Wenn eure Hand gefühllos, wie 
Die Schnitter Blumen, Unschuld tötete, 
Und euer Siegerfuß, darüber tretend, sie 
Durch Hohn zum zweiten Male tötete, 
Naht euch. Betrachtet hie 
Der Vielgeliebten Tränen rollen; 
Hört ihre Seufzer, hört die feuervollen 
Gebete. Wehe dem, der dann 
Noch einen Wunsch zu ihrem Elend wollen, 
Noch einen Schritt zum Raube wagen kann! 

Es sank mein Arm, aus ihm zur Erd sie nieder, 
Ich betet, weint und riß mich los und floh. 

Den nächsten Tag fand ich sie wieder 
Bei ihrer Mutter, als sie froh 
Der freudbetränten Mutter Unschuldslieder 
Mit Engelstimmen sang. 

O Gott, wie drang ein Wonnestrahl durchs Herz mir! Nieder 
Zur Erde blickend stand 
Ich da. Sie faßt' mich bei der Hand, 
Führt' mich vertraulich auf die Seite 
Und sprach: »Dank es dem harten Streite, 
Daß du zur Sonn unschuldig blickst, 
Beim Anblick jener Heil'gen nicht erschrickst, 
Mich nicht verachtend von dir schickst. 
Freund, dieses ist der Tugend Lohn; 
O wärst du gestern tränend nicht entflohn, 
Du sähst mich heute 
Und ewig nie mit Freude.« 

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